Lübecks Kultursenatorin Annette Borns (SPD) kritisiert das sonntagmorgendliche Glockenläuten in der Hansestadt. Die evangelische Kirche verteidigt die kulturelle Tradition, und ein Parteifreund empfiehlt ihr, sich umzudrehen und weiterzuschlafen. Thomas Traub über den grundrechtlichen Schutz und die gesetzlichen Schranken religiösen Lärms.
Goethes Faust hat er noch vor dem Suizid bewahrt – der Klang der Osterglocken. Heute erleben manche Anwohner das Glockenläuten als unerwünschten kirchlichen Weckdienst und als Lärmbelästigung. Die Lübecker Kultursenatorin Annette Borns von der SPD hat ihr Missfallen per Facebook in die Öffentlichkeit posaunt und dafür viel Widerspruch geerntet.
Dabei ist die Politikerin kein Einzelfall: Immer wieder beschäftigen Streitigkeiten um das kirchliche Glockenläuten die Verwaltungsgerichte. Nachbarn verklagen die Kirchengemeinden auf Unterlassung oder wollen die zuständigen Ordnungsbehörden zum Einschreiten verpflichten.
Zwischen kirchlicher Selbstbestimmung und nachbarlichen Grundrechten
Die Anlässe sind verschieden: Kirchenglocken läuten vor dem Gottesdienst, um die Gläubigen zusammenzurufen oder während der Liturgie, zum Beispiel beim Beten des Vaterunsers. Außerdem schlagen die Glocken bei besonderen Anlässen wie kirchlichen Feiertagen oder aber beim täglichen Angelusläuten. Für dieses sakrale, religiös motivierte Glockenläuten können sich die Kirchen auf das Grundrecht der Religionsfreiheit gem. Art. 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) berufen.
Daneben tritt der Schutz des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts zur Ordnung und Verwaltung der eigenen Angelegenheit nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung (WRV). Viele katholische und evangelische Gemeinden haben in einer Läuteordnung detailliert geregelt, welche Glocke zu welchem Anlass und auf welche Weise erklingt. So sieht die Lübecker Läuteordnung schon seit 1964 vor, an Sonn- und Feiertagen für zehn Minuten das volle Geläut auszulösen.
Doch auch die Kritiker des Glockenläutens können sich auf grundrechtliche Positionen berufen. Neben der Eigentumsgarantie gem. Art. 14 Abs. 1 GG kann vor allem bei nächtlichem, schlafraubenden Lärm das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 GG der Nachbarn berührt sein.
Weniger überzeugend ist dagegen eine Argumentation mit der so genannten negativen Religionsfreiheit von Anwohnern, die sich vom liturgischen Glockengeläut belästigt fühlen. Das Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG hat zwar auch eine negative Seite. Insbesondere ist niemand verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren und niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder zur Teilnahme an religiösen Übungen gezwungen werden (Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 3 und 4 WRV). Es gibt aber kein Grundrecht darauf, vor fremden Glaubensbekundungen verschont zu bleiben und nicht mit den religiösen Handlungen anderer akustisch konfrontiert zu werden.
Lärm im Rechtssinne erst bei erheblicher Belästigung
Die rechtlichen Grenzen des Glockenläutens ergeben sich vor allem aus dem Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG). Ein kirchlicher Glockenturm mag theologisch als "steinerner Prediger" charakterisiert werden, aus immissionsschutzrechtlicher Sicht handelt es sich schlicht um eine sonstige ortsfeste Einrichtung und damit um eine Anlage im Sinne des § 3 Abs. 5 BImSchG.
Nach § 22 Abs. 1 BImSchG sind nicht genehmigungsbedürftige Anlagen so zu errichten und zu betreiben, dass schädliche Umwelteinwirkungen verhindert werden. Auch die Geräusche der Glocken können im Einzelfall solche schädlichen Umwelteinwirkungen verursachen. Darunter versteht man Immissionen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen (§ 3 Abs. 1 BImSchG).
"Erhebliche Belästigungen" – dieser unbestimmte Rechtsbegriff bietet die Möglichkeit, bei der Auslegung und Anwendung des Gesetzes die konkreten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen.
BVerwG: Geläut meist zumutbar und sozialadäquat
Für die Rechtspraxis gelten die Grundsätze, die das Bundesverwaltungsgericht dazu aufgestellt hat (BVerwG, Urt. v. 7.10.1983, Az. 7 C 44/81): Beurteilungsmaßstab für die Frage, ob von Kirchenglocken erhebliche, unzumutbare Belästigungen ausgehen, ist das Empfinden eines verständigen Durchschnittsmenschen und nicht die individuelle Einstellung eines besonders empfindlichen Nachbarn.
Nach Ansicht der obersten Verwaltungsrichter ist das sakrale Glockengeläut ein Zeichen der Präsenz der Kirche in der Gesellschaft. Es handelt sich außerdem um eine jahrhundertealte kirchliche Lebensäußerung, die auch in einer säkularisierten Gesellschaft grundsätzlich hingenommen werden muss.
Geräuschimmissionen durch liturgisches Läuten im herkömmlichen Rahmen sind danach regelmäßig keine erhebliche Belästigung. Es handelt sich vielmehr um zumutbare Immissionen, die auch von den Anwohnern und Nachbarn, die sich subjektiv gestört fühlen, als "sozialadäquat" ertragen werden müssen.
Auch auf den Standort der Kirche kommt es an
Jedoch gibt es Grenzen für den Betrieb der Kirchenglocken im Hinblick auf Uhrzeit, die Dauer, die Häufigkeit und die Lautstärke des Glockenschlags. Die genauen Kriterien dafür ergeben sich insbesondere aus einer normkonkretisierenden allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum BImSchG, der TA Lärm. Dort sind Richtwerte für den zumutbaren Geräuschpegel festgelegt mit Differenzierungen zwischen Tag- und Nachtzeit ebenso wie zwischen Gewerbe-, Misch- und reinen Wohngebieten. Die Vorgaben der TA Lärm sind auch ein zulässiger Ausgangspunkt für die Prüfung des Glockenläutens und prinzipiell geeignet, dessen Zumutbarkeit festzustellen.
Allerdings muss man beachten, dass die Regelungen der TA Lärm auf die Beurteilung von gewerblichem Lärm zugeschnitten sind. Daher müssen im Einzelfall besondere Umstände des kirchlichen Glockenläutens beachtet werden, die einen "Lärmzuschlag" rechtfertigen können. Als Gesichtspunkte für Einzelfallbewertung zählt die TA Lärm die Herkömmlichkeit und die soziale Adäquanz der Geräuschimmissionen auf.
In einem katholisch geprägten bayerischen Dorf kann dies zu anderen Ergebnissen führen als in multi-religiösen Großstädten. Nicht nur dort kann auch eine ganz andere Form religiös motivierter Geräusche für Diskussionen sorgen: Der Ruf des Muezzin.
Thomas Traub ist Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kirchenrecht der Universität zu Köln.
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Thomas Traub, Streit über kirchliches Geläut in Lübeck: . In: Legal Tribune Online, 20.10.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4604 (abgerufen am: 10.12.2024 )
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