Wie gut kam Deutschland als freiheitliche Demokratie mit der Corona-Pandemie zurecht? Ex-Verfassungsrichter Udo Di Fabio hat eine breit angelegte Bilanz vorgelegt. Christian Rath hat sie gelesen.
Am morgigen Dienstag wird das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zwei Entscheidungen zur Bundesnotbremse vorlegen. Konkret wird es um die Zulässigkeit von Ausgangssperren und Schulschließungen gehen. Erwartet wird die lange vermisste Karlsruher Grundsatzentscheidung zu den Handlungsspielräumen des Staates in der Pandemie - und zu ihren Grenzen.
Das Fazit von Udo Di Fabio, der von 1999 bis 2011 Verfassungsrichter war, liegt bereits vor. In einem schmalen Band hat er auf rund 200 Seiten eine "Coronabilanz" veröffentlicht. Er befasst sich dabei nicht nur mit den unmittelbaren Corona-Maßnahmen des Staates, sondern auch mit den Folgen für öffentlichen Diskurs, Fiskus und Wirtschaft. Er will dabei nicht nur Erfahrungswissen für die nächste Pandemie sammeln, sondern auch für die Bewältigung der Klimakrise.
"Keine Lektüre für Wutbürger"
Di Fabio stellt gleich zu Beginn klar: "Dieses Buch ist keine Abrechnung mit der Coronapolitik. Es ist keine Lektüre für Wutbürger." In einem vielversprechenden Einleitungskapitel mit 78 Fragen (und nur 63 Aussagesätzen) kündigt er vielmehr eine "Lehrstunde der Demokratie" an.
Dabei richtet sich der Bonner Rechtsprofessor nicht in erster Linie an Jurist:innen. Ausführlich leitet Di Fabio her, dass das Leben zwar "ein Höchstwert" der Verfassung ist, aber eben nicht der oberste Wert. Der Staat habe zwar eine Schutzpflicht für das Leben, müsse diese aber mit anderen Verfassungsgütern abwägen: "Auch eine Gesellschaft, die den Schutz des Lebens als einen Höchstwert betrachtet, muss - will sie frei bleiben - bereit sein, 'sozialadäquate' Risiken hinzunehmen." Wieviel Corona-Tote noch "sozialadäquat" sind, lässt Di Fabio offen.
Di Fabio, der Mitglied des Corona-Expertenrats der NRW-Landesregierung ist, übt keine Kritik an einzelnen staatlichen Maßnahmen. Auch die Gerichte rügt er nur leicht wegen ihrer wellenartigen Rechtsprechung. Bei ansteigenden Infektionszahlen hätten sie die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen "einigermaßen pauschal bejaht". Nur in Phasen zurückgehenden Infektionsgeschehens hätten sie die Prüfung markanter angelegt und einige Maßnahmen beanstandet.
Gegen die Verrechtlichung des Notstandes
Di Fabio wendet sich eher grundsätzlich gegen die allgemeine Tendenz zur Verrechtlichung: "Es irrt, wer meint, mit dem Gesetz vorweg alle Lagen eines Notstandes regeln zu können", kritisiert er, "wer sich daran gewöhnt, dass das Gesetz alles regelt, ist im Moment des überraschenden Ereignisses gelähmt." Ausdrücklich moniert Di Fabio die "Tendenz, immer neue Standardmaßnahmen in Polizeigesetze zu schreiben und immer dichtere Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen in Gesetze zu gießen". Damit nimmt Di Fabio (einst Mitglied im Zweiten Senat des BVerfG) sicher nicht die kommende Entscheidung des Ersten Senats vorweg, der zuletzt (unter dem Einfluß des 2020 ausgeschiedenen Richters Johannes Masing) eher die kleinteilige Steuerung des Gefahrenabwehrrechts pflegte.
Allerdings führt der Verzicht auf eine präzise Regelung im Gesetz nicht zwingend zu weniger Verrechtlichung. In der Corona-Krise haben vor allem die Länder mit ihren Verordnungen gesteuert, anfangs auch ohne konkrete gesetzliche Ermächtigung. Di Fabio sieht darin kein Problem, schließlich habe der Bundestag später durch Änderung des Infektionsschutzgesetzes signalisiert, dass er mit den Maßnahmen der Länder durchaus einverstanden war. "Es kann keine Rede davon sein, dass am Bundestag vorbei regiert wurde oder das Parlament sogar mit einem kalten Staatsstreich entmachtet worden sei".
Für den immunisierenden Diskurs
Di Fabio drängt aber darauf, den öffentlichen Diskurs nicht zu sehr zu verengen. Auch wenn die Politik sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen und Ratschlägen orientiere, dürften kritische Stimmen, die zum Beispiel am Ausmaß des Schadens zweifeln, nicht zum Schweigen gebracht werden. Selbst die Auseinandersetzung mit abstrusen Theorien könne die gesellschaftliche Mitte "immunisieren".
Eine neue Föderalismus-Diskussion, wie sie der CDU-Fraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus zu initiieren versuchte, hält Di Fabio für überflüssig. Auch Zentralstaaten wie Frankreich seien nicht besser durch die Krise gekommen. Entscheidend sei vielmehr eine bessere "Grundausstattung" der Behörden, insbesondere die Digitalisierung der Gesundheitsämter.
Bemerkenswert unaufgeregt schildert Di Fabio die finanzpolitischen Verschiebungen, die die Pandemie ausgelöst hat. Die Schuldenbremse des Grundgesetzes ist ausgesetzt, ebenso die Verschuldungsgrenzen des EU-Stabilitäts- und Wachstumspakts. Zudem hat die EU einen Corona-Wiederaufbaufonds mit 750 Milliarden Euro aufgelegt, der über gemeinschaftliche Schulden finanziert wird. Di Fabio erwähnt zwar das BVerfG als "letzten Gegenspieler" solcher Schritte zur Fiskalunion, doch auch das Gericht sei "längst in der Defensive". Und Di Fabio springt seinen ehemaligen Kolleg:innen nicht zur Seite.
Kein Vergleich mit China
Mit gewissem Erstaunen stellt Di Fabio fest, dass ausgerechnet ein global auftretender Virus zu einem Rückzug auf den Nationalstaat geführt hat. Der konservative Denker freut sich spürbar, dass der Staat "zurück" ist, sogar Grenzschließungen habe es gegeben. Allerdings sieht Di Fabio kein Ende der Globalisierung. Die Diskussionen um "strategische Autarkie" solle man nicht überschätzen, die globale Verflechtung werde eher weiter zunehmen.
"Die Krise hat die westlichen Demokratien getestet und sie haben diesen Test im Wesentlichen bestanden", so die Bilanz von Di Fabio. Insbesondere in der ersten Phase der Pandemie hätten die EU-Staaten deutlich vernünftiger reagiert als populistische Staaten wie Trumps USA oder Bolsonaros Brasilien. Bei der Impfkampagne seien dann allerdings die EU-Staaten zu zögerlich gewesen.
Leider verzichtet Di Fabio auf einen Vergleich mit der chinesischen Diktatur, deren Null-Toleranz-Ansatz ja das Gegenmodell zur Corona-Politik der freiheitlichen Staaten darstellt. Schade, denn eigentlich hatte Di Fabio doch einen pandemie-bezogenen "Lackmustest im Systemvergleich" in Aussicht gestellt.
Die Wirtschaft verträgt Dirigismus
Anregend ist Di Fabios Überlegung, was sich für die Bewältigung der Klimakrise lernen läßt. "Hat die Corona-Pandemie mit den nationalen Lockdown-Maßnahmen nicht bewiesen, wie viel staatlichen Dirigismus die Volkswirtschaften vertragen, ohne wirklich in die Knie zu gehen?" Müsse dieser Zugriff dann nicht erst recht für den wohl noch wichtigeren Schutz des Klimas zulässig sein? Di Fabio wirkt durchaus fasziniert, warnt dann aber doch vor allzuviel Eingriffen in die Wirtschaft. Die Unabhängigkeit der Subsysteme mache nun mal die Stärke des freiheitlichen Staates aus, so die systemtheoretische Argumentation Di Fabios, der auch promovierter Sozialwissenschaftler ist.
Auch die Handlungsfreiheit des Staates verteidigt Di Fabio. Dieser dürfe in der Klimapolitik nicht zu einer "Bewirtschaftungseinheit" völkerrechtlicher und gerichtlicher Vorgaben werden. Er warnt zugleich die Gerichte (und hat hier sicher auch das BVerfG im Blick) vor zu viel klimapolitischen Vorgaben für die Politik. Denn letztlich drohe ein Ansehensverlust der Justiz, wenn sich die Politik aus Angst vor mangelnder Akzeptanz der Wähler:innen nicht an diese Vorgaben hält.
Besonders konstruktiv ist Di Fabio hier nicht. Wie ein typischer Jurist erklärt er nur, was angeblich nicht geht (auch wenn er dabei nicht rechtlich, sondern systemtheoretisch argumentiert). Aber Di Fabio ist ja auch kein Klimapolitiker und die Klimapolitik war eigentlich auch nicht Thema des Buchs.
Der Band endet dann etwas untypisch mit einem Gespräch zwischen Di Fabio und dem Münchener Soziologen Armin Nassehi. Sympatischerweise stellt Di Fabio hier die Fragen und der Soziologe antwortet.
Udo Di Fabio, Coronabilanz, 218 Seiten, C.H.Beck, München, 24,95 Euro.
Di Fabios "Coronabilanz": . In: Legal Tribune Online, 29.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46778 (abgerufen am: 07.12.2024 )
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