Nach jahrelangem Vorlauf treibt die Bundesregierung die Reform der Behindertenhilfe endlich voran. Die Inhalte der Reform und die Standpunkte der verschiedenen Akteure stellen Heike Brüning-Tyrell Franz Dillmann vor.
Das Bundeskabinett hat am 28. Juni 2016 den legislativen Startschuss für den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) gegeben. Das als Artikelgesetz konzipierte Vorhaben soll bestehende Vorschriften im Lichte der UN-Behindertenrechtkonvention mit dem Leitbild der Inklusion weiterentwickeln, die Leistungen mehr auf die Betroffenen zuschneiden und die Kooperation der zuständigen Behörden fördern.
Bereits seit 2003 wurden regelmäßig gesetzliche Neuerungen angemahnt. Im Koalitionsvertrag ist 2013 vereinbart worden, behinderte Menschen besser in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu integrieren und die bislang im Sozialhilferecht beheimatete Eingliederungshilfe aus dem "Fürsorgerecht" heraus in ein modernes Teilhaberecht zu führen. Dabei solle der persönliche Bedarf der Betroffenen im Mittelpunkt stehen und in einem bundeseinheitlichen Verfahren "aus einer Hand" gedeckt werden. Mehrausgaben will man freilich vermeiden.
Bereits der im Dezember 2015 beim zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) geleakte Arbeitsentwurf und der Referentenentwurf von April 2016 haben heftige Diskussionen ausgelöst. Beide berücksichtigten teils die Ergebnisse eines intensiven Beteiligungsverfahrens in der "Arbeitsgruppe Bundesteilhabegesetz". Das BTHG soll bis Ende 2016 im Bundestag verabschiedet werden und sukzessive bis 2020 in Kraft treten, denn die bürokratische Umstellung braucht Zeit.
Bessere Zusammenarbeit, gesetzliche Umstrukturierungen
Im Wesentlichen wird durch das BTHG das für die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen maßgebliche Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) geändert. Gegenstand der Überarbeitung sind erstens Regelungen zur Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger und zur Ausgestaltung des Teilhabeverfahrens, zweitens die Herauslösung der Eingliederungshilfe aus dem SGB XII in einen neuen Teil 2 des SGB IX und drittens Änderungen im Schwerbehindertenrecht (Teil 3 des SGB IX).
Zentraler Streit schon im Beteiligungsverfahren war die Reform der Eingliederungshilfe, die Leistungen zur medizinischen, beruflichen und sozialen Rehabilitation für Menschen mit Behinderungen umfasst. Träger dieser Leistungen sind die Jugendhilfe- und Sozialhilfeträger vor Ort. Finanziert werden ambulante Betreuung und Unterstützung, Wohnheime oder Werkstätten für behinderte Menschen.
Die vielleicht zu schöne Idee eines Bundesteilhabegeldes (gedacht als steuerfinanzierter, vom Bund ausgekehrter, zweckgebundener Nachteilsausgleich, der allen volljährigen Leistungsberechtigten in der Eingliederungshilfe einkommens- und vermögensunabhängig monatlich ausgezahlt werden soll) hat der Bund fallen lassen. Stattdessen werden die Kommunen in Höhe von 5 Milliarden Euro jährlich indirekt über erhöhte Umsatzsteueranteile und andere Beteiligungen entlastet. Davon unabhängig schultern die Kommunen allerdings weiterhin die derzeit jährlich ca. 14 Milliarden teure Eingliederungshilfe für ca. 700.000 Leistungsempfänger und befürchten noch Steigerungen. Nach ihrer Auffassung weitet das BTHG die Teilhabeleistungen (zu sehr) aus, lockere die Kostenbeteiligung der Betroffenen und schreibe ein zu aufwändiges Verwaltungsverfahren vor.
2/2: Freibeträge werden gravierend erhöht – doch das nutzt nur Wenigen
Aufgrund starker Proteste der Behindertenverbände nach dem Bekanntwerden der ersten Entwürfe, hat die Bundesregierung die Anrechnung des Einkommens und Vermögens auf die Leistung nochmals zugunsten der Leistungsempfänger umgestaltet. Die bisherige Vermögensfreigrenze im SGB XII wird für die Eingliederungshilfe von bisher 2.600 Euro in einem ersten Schritt auf 25.000 Euro, bis 2020 dann auf rund 50.000 Euro angehoben. Die Einkommensgrenze bleibt deutlich erhöht, außerdem sollen das Einkommen und Vermögen des Partners künftig nicht mehr hinzugerechnet werden.
Das hört sich erst einmal wie ein gewaltiger Sprung an. Allerdings wird ein höherer Freibetrag den meisten behinderten Menschen nichts nützen, da sie zusätzlich auf subsidiäre Sozialleistungen zum Lebensunterhalt und Wohnen und neben der Pflegeversicherung auf ambulante Sozialhilfe in Form der Hilfe zur Pflege angewiesen sind. Bei existenzsichernden Leistungen bleibt es bei der niedrigen Grenze von 2.600 Euro, bei der Hilfe zur Pflege sollen nur Erwerbstätige bis 25.000 Euro bzw. – nach der aktuellen Fassung – rund 50.000 Euro an Vermögen zur Lebensführung oder Alterssicherung behalten dürfen, wenn sie gleichzeitig auch Eingliederungshilfe beziehen.
Verbände üben daran weiter verständliche Kritik. Der Gesetzgeber könnte sich aus der legislativen Sackgasse aber nur befreien, wenn er sämtliche Sozialhilfeleistungen unabhängig von der individuellen Bedürftigkeit machte. Das liefe aber der Vorgabe entgegen, keine neue Ausgabendynamik auszulösen.
Bestimmung des Empfängerkreises nach unzureichendem Schema
Lebhafte Debatten löst auch die neue Definition des Personenkreises aus, der Leistungen aus dem Sozialsystem erhalten kann. Anspruch auf Eingliederungshilfe haben künftig nur "Menschen mit einer erheblichen Teilhabeeinschränkung". Diese normative Hürde ist nötig, um unter den ca. 29 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen in der Verwaltungspraxis eine Auswahl treffen zu können.
Der Gesetzgeber hat sich am inklusiven modernen Behinderungsbegriff der seit 2009 geltenden UN-Behindertenrechtskonvention orientiert. Nicht die Beeinträchtigung als solche, sondern die Einschränkungen der Teilhabe durch die Wechselwirkungen mit der sozialen Umwelt sind danach entscheidend.
Zu holzschnittartig werden aber die Beeinträchtigung rein quantitativ an den Lebensbereichen der "ICF" (International Classification of Functioning, Disability and Health) wie Freizeit, Kommunikation und Arbeit gemessen. Für eine qualitative, an der Schwere der Behinderung ausgerichtete Betrachtung bleibt daneben kein Raum mehr. Die nun im Kabinettsentwurf enthaltene Ermessensregelung ändert am grundsätzlichen Problem nichts und bringt den Rechtsanwendern nur Mehrarbeit.
Vorhaben zu bedeutsam, um es auf der Zielgeraden scheitern zu lassen
Die Erwartungen der Betroffenen sind groß, die Vorbehalte gegen Leistungsausweitungen insbesondere auf Seiten der Kommunen zahlreich, und rechtlicher Diskussionsbedarf besteht allenthalben. Das BTHG droht unter einem Berg von Stellungnahmen fast erdrückt zu werden. Alle Akteure haben indes ein Ziel vor Augen: Die Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.
Das Gesetzesvorhaben ist zu bedeutsam, um es nach jahrzehntelangen Diskussionen im Schlussspurt scheitern zu lassen. Alle sind gefordert, das Rennen konstruktiv mit Blick auf die jeweils anderen zu beenden. Über Kosten muss offen geredet werden, übermäßig bürokratische Regelungen (z.B. §§ 14 ff. SGB IX) müssen der Realität angepasst und gewollte Leistungsinhalte klarer formuliert werden.
Selbst wenn das Ziel BTHG erreicht ist, gilt das noch lange nicht für das übergeordnete Ziel der Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft. Die Umsetzung des BTHG verlangt Kooperation der Rehabilitationsträger untereinander und mit den Betroffenen. Und schließlich bleibt die Inklusion ständiges Ziel und gemeinsame Aufgabe aller.
Der Autor Franz Dillmann ist Verwaltungsdirektor und Leiter der Rechtsabteilung im Sozialdezernat des Landschaftsverbandes Rheinland, die Autorin Heike Brüning-Tyrell ist Fachanwältin für Sozialrecht aus Köln.
Franz Dillmann, Das kommende Bundesteilhabegesetz: Zieleinlauf mit Hindernissen . In: Legal Tribune Online, 28.06.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19824/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag