Vor genau einem Jahr entschied der EuGH, dass Suchmaschinen die Pflicht haben, Suchergebnisse zu löschen, wenn diese Persönlichkeitsrechte Betroffener verletzen. Hannes Rösler blickt auf die Entwicklung seitdem zurück und spricht über sein Unbehagen angesichts der Marktmacht der Suchmaschine – aber auch über die schwierige Lage, in die der EuGH das Unternehmen versetzt hat.
LTO: Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Recht auf Vergessenwerden im Internet gehört zu den meist diskutierten des Gerichts. Was halten Sie davon, nachdem Sie die praktischen Auswirkungen nun ein Jahr lang beobachten konnten?
Rösler: Tatsächlich ist die weitgehend als überraschend empfundene Entscheidung gerade in Deutschland mit starken Reaktionen aufgenommen worden. Von der Rückkehr des Rechts, gar einer Rettung gemeineuropäischer Rechtskultur im Internet war die Rede. Vereinzelte Kommentatoren fürchteten dagegen eine Zensur eines – nun privaten – "Ministry of Truth" à la George Orwell in 1984.
Zunächst einmal ist das Schlagwort "Recht auf Vergessenwerden" irreführend, denn das Urteil fordert kein vollständiges Vergessen. Nur die Verlinkungen in der Ergebnisliste der Suchmaschine sollen entfallen. Die Informationen sind auf den Seiten und in den Archiven oder über Verlinkungen in Blogs grundsätzlich weiterhin auffindbar.
In Bezug auf die Meinungsfreiheit macht das durchaus einen Unterschied. Das Internet ist eben prinzipiell dezentral. Allerdings dürften die Informationen angesichts von Googles Marktmacht nun in den allermeisten Fällen nicht mehr gefunden werden. So gesehen besteht beim Einstieg faktisch doch eine Zentralität. Für einen erfolgreichen Löschungsantrag müssen die veröffentlichten Inhalte übrigens selbst nicht rechtswidrig sein.
Inhaltlich finde ich das Urteil durchaus nachvollziehbar. Informationen sind im Internet überall abrufbar. Dieses Medium vergisst eigentlich nichts. Das Recht auf Vergessenwerden ist die Reaktion darauf. Wenn man sich gelöschte Links anschaut, in denen es beispielsweise um Vergewaltigungsopfer geht, kann ich gut verstehen, warum das Urteil überwiegend begrüßt wurde.
Aus europäischer Sicht ist die Klarstellung des EuGH erfreulich, dass Googles spanischer Ableger dem EU-Datenschutzrecht unterliegt. Die europäischen Niederlassungen sind also an das europäische Datenschutzrecht gebunden.
Dennoch wirkt die Entscheidung in der Sache zwiespältig. Das Internet wird zunehmend das Archiv unserer Zeit, quasi unser kollektives Gedächtnis. Und man überlässt mit Google – dem vielleicht mächtigsten privatwirtschaftlichen Unternehmen der Gegenwart – die Entscheidung, welchen Zugang zu welchen Informationen der Internetnutzer effektiv haben soll. Das Missbrauchspotenzial ist prinzipiell kaum zu unterschätzen. Ich habe ein Unbehagen angesichts der starken Vermittlerrolle Googles bei der Verwaltung unseres kollektiven Gedächtnisses und seiner Marktstellung, die ja von der EU-Kommission derzeit kartellrechtlich untersucht wird.
"Links auf Fotos, die heute nur ein bisschen peinlich sind, sollen nicht gelöscht werden"
LTO: Der Lösch-Beirat, bestehend aus acht Experten, die monatelang getagt haben, um Kriterien für die Behandlung der Lösch-Anträge zu finden, hat sich im Februar 2015 nur auf grobe Empfehlungen einigen können. Könnten Sie diese kurz skizzieren?
Rösler: Interessant ist, dass sich die Experten nicht wirklich haben einigen können. Während sich sieben Experten mehrheitlich dafür ausgesprochen haben, dass Suchmaschinen sich im Zweifel für das Löschen entscheiden sollten, hat der Wikipedia-Mitbegründer Jimmy Wales sich in seinem Sondervotum gänzlich gegen das Recht auf Vergessenwerden ausgesprochen und den europäischen Gesetzgeber zum Handeln aufgefordert.
Der von der Mehrheit getragene Bericht spricht von keiner simplen Formel. Es komme auf die Abwägung aller Umstände im Einzelfall an. Das ist nachvollziehbar, denn auch das deutsche Persönlichkeitsrecht ist Fallrecht reinsten Wassers. Jeder bei Google eingereichte Antrag ist weiterhin individuell zu bewerten. Dafür haben sie einen Kriterienkatalog aufgestellt, an dem sich die mit der Rechtsfrage Befassten orientieren sollen.
Wichtig ist dabei vor allem der Zeit-Faktor. Wie weit liegt die Information, über die berichtet wurde, in der Vergangenheit? Je länger das Ereignis zurückliegt, desto größer kann das Interesse an einer Löschung der Verlinkung sein. Relevant ist zudem die die öffentliche Funktion des Antragstellers – hochrangige Beamte oder Politiker müssen sich mehr gefallen lassen als Privatpersonen. Schließlich geht es um die Bedeutung der Information für die öffentliche Diskussion. Links auf selbst gepostete Fotos, die jemand kurze Zeit danach bloß ein bisschen peinlich findet, sollten jedenfalls nicht gelöscht werden.
Bei Straftaten wiegt das Löschverlangen des Opfers schwer. Aber auch der Täter kann dies verlangen, wenn er dadurch seine Chance zur Resozialisierung gefährdet sieht. Dann spielt neben den obigen Kriterien natürlich auch die Schwere der Tat eine Rolle.
"Ein öffentliches Gremium könnte besser entscheiden als Google"
LTO: Wie stehen Sie zu dem Vorschlag des Lösch-Beirats, Google solle sich im Zweifel für die Löschung entscheiden? Setzt das im Hinblick auf die Meinungsfreiheit im Internet nicht fatale Anreize?
Rösler: Tatsächlich gibt der EuGH Google einen Anreiz, den Löschanträgen zu folgen, um dem Risiko etwaiger Klagen zu entgehen. Diese klare Empfehlung wirkt nun aber noch mehr in die falsche Richtung. Ich hätte es bevorzugt, wenn der EuGH und der Beirat sich im Zweifel für die Meinungsfreiheit ausgesprochen hätten. Nun kann man nur hoffen, dass diejenigen, die bei dem Unternehmen entscheiden, die Meinungsfreiheit hinreichend berücksichtigen.
LTO: Und was wäre, wenn jemand anderes als Google die Entscheidung treffen würde? Ein öffentliches Gremium oder ein Gericht?
Rösler: Google hätte es sicherlich nicht gerne, dass man ihnen die Entscheidung aus der Hand nimmt. Ich halte den derzeitigen Ansatz für praktikabel. Gerichte sind tendenziell überlastet. Sollte der Ansatz aber nicht zu überzeugenden Resultaten führen, wäre auch ein öffentliches Gremium, besetzt mit Experten auf dem Gebiet als Alternative zu Google denkbar. Würde dagegen eine Behörde entscheiden, stünde rasch der Vorwurf der staatlichen Zensur im Raum.
2/2: "Antrag eines wegen Kinderporno-Besitzes verurteilten Priesters wurde abgelehnt"
LTO: Wie sieht die Praxis von Google derzeit aus, nachdem der Lösch-Beirat sich auf grobe Kriterien hat einigen können? Wie groß ist der Aufwand, jeden Einzelfall zu prüfen?
Rösler: Google behauptet zwar, einen großen Aufwand zu betreiben, um jeden Antrag individuell zu bearbeiten. Details sind mir jedoch nicht bekannt, denn Google gibt wenig an die Öffentlichkeit. Klar ist, dass Ablehnungen begründet werden müssen, was dann im Klageweg angegriffen werden kann.
Google hat jedoch einige Beispiele veröffentlicht, wie konkrete Anträge beschieden wurden: Interessant sind Themen, die besonders in der gesellschaftlichen Diskussion stehen, bei denen es also ein berechtigtes Interesse an der Verweisung auf den Inhalt gibt. Der Antrag eines Priesters, der wegen Besitzes von Kinderpornos verurteilt wurde, wurde abgelehnt. Ein deutscher Lehrer hingegen, der vor mehr als zehn Jahren ein geringfügiges Vergehen begangen hatte und deswegen verurteilt wurde, durfte seine Einträge löschen lassen. Auch wurden die Einträge zu einer Frau in Italien, die vor mehr als zehn Jahren wegen der Tötung ihres Ehemannes verurteilt wurde, gelöscht. In Großbritannien gibt es ein Gesetz zur Rehabilitierung von Straftätern. Daher werden Beiträge über Schuldsprüche, die nach einer straffreien Zeit nicht mehr als Vorstrafen gelten, leichter entfernt.
"Vielfach auch user-generierter Content betroffen"
LTO: Welche Webseiten sind von den Löschungen am meisten betroffen?
Rösler: Vielfach sind natürlich Medienunternehmen betroffen. Google gibt aber an, dass acht Prozent der Löschungen von zehn Webseiten wie Facebook, Google Groups, YouTube und Twitter stammen. Insoweit ist auch der "user-generierte content" betroffen. Das Internet macht uns alle zu potenziellen Publizisten, aber auch zu potenziellen Opfern von Persönlichkeitsrechtsverletzungen, zumal das Internet wie etwa im erwähnten Lehrerfall eine enorme Prangerwirkung erzeugen kann. Außerdem lassen sich die eigentlichen Informationen häufig nicht löschen – etwa bei unklarer Urheberschaft, vor allem aber auf ausländischen Webseiten.
LTO: Haben Sie konkrete Zahlen zu den eingereichten Anträgen aus den europäischen Ländern?
Rösler: In Deutschland wurden bislang ca. 161.000 Anträge eingereicht, in Spanien zum Beispiel 75.000. Bezogen auf die Bevölkerungszahl sind die Antragszahlen in den Ländern recht ähnlich.
Die Entscheidungen zu diesen Anträgen weisen hingegen sehr starke Unterschiede auf. Es entscheidet schließlich immer die jeweilige Google-Niederlassung im EU-Mitgliedsstaat. Während in Frankreich und Deutschland 51 Prozent der Anträge stattgegeben werden, sind in Großbritannien und Spanien unter 38 Prozent erfolgreich und in Italien 27 Prozent.
Man kann nur spekulieren, woran das liegt. Vielleicht sind die Anträge in manchen Ländern besser begründet als in anderen, vielleicht hat es auch mit dem gesellschaftlichen Bewusstsein für das Thema des Datenschutzes zu tun. Auf jeden Fall ist die unterschiedliche Erfolgsrate ein wichtiger Punkt und zeigt, dass der EuGH eben keine sonderlich konkreten Vorgaben gemacht hat. Dies sollte der Gesetzgeber nun nachholen.
"Der EU-Gesetzgeber sollte den Löschanspruch konkreter regeln"
LTO: Auf europäischer Ebene gibt es ja Vorstöße, in der EU-Datenschutz-Grundverordnung konkretere Regelungen zu treffen…
Rösler: Ich hielte es auch für sinnvoll, dies auf europäischer und nicht auf nationaler Ebene zu regeln. Das Internet ist grenzüberschreitend und die Menschen mobiler denn je.
Auch wenn es angesichts unterschiedlicher Verständnisse, etwa im Vergleich zu den USA, politisch schwierig ist, sollte es ein weltweites Menschenrecht auf Datenschutz geben, dessen Grenzen in den wichtigen Grundzügen und möglichst konkret gesetzlich skizziert werden. Dabei sollte auch die Meinungsfreiheit als Gegenpol hinreichend betont werden.
Die Gerichte sind dann aufgerufen, die Feinheiten in ihrer Kasuistik zu entwickeln. Dies wird sich wohl überwiegend auf nationaler Ebene herausbilden. Spannend ist dabei die Frage des Schadenersatzes, wenn Google einem Löschantrag unrechtmäßig nicht rechtzeitig nachgekommen ist. Beantragt wird ohnehin der Ersatz der außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten.
LTO: Weiß man näheres über Klagen gegen Google, weil Löschanträge abgelehnt wurden?
Rösler: Zum Beispiel ist beim LG Köln ein Verfahren anhängig, in dem es um eine kurze politische Aktivität einer nichtprominenten Person ging, mit der sie nicht mehr in Verbindung gebracht werden will.
Geklagt wird auch vor dem LG Hamburg und LG Wiesbaden. Dort wurde der vorläufige Streitwert der Sache auf 20.000 Euro festgesetzt.
LTO: Herr Professor Rösler, vielen Dank für das Gespräch.
Prof. Dr. iur. Hannes Rösler, LL.M. (Harvard) ist Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikationsrechts (IMRK) an der Universität Siegen und dortiger Professor für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung.
Das Interview führte Anne-Christine Herr.
Anne-Christine Herr, Ein Jahr Recht auf Vergessenwerden: "Im Zweifel für die Meinungsfreiheit" . In: Legal Tribune Online, 13.05.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15529/ (abgerufen am: 03.10.2023 )
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