Auflösung und Neubesetzung des Richterrats, "Säuberung" der Richterschaft und Verpflichtung auf "christliche Moral": Was in Polen beschlossen wurde, stellt selbst die andauernde Verfassungskrise aus 2015 in den Schatten. Von Oscar Szerkus.
In der Sitzung am 12. Juli 2017 verabschiedete die Erste Kammer des polnischen Parlaments (Sejm) zwei umstrittene Gesetzesänderungen, die das Wesen des Nationalen Richterrats (KRS) und die Verfassung der ordentlichen Gerichte grundlegend verändern. Die Oppositionsparteien PO und Nowoczesna nahmen an der Abstimmung nicht teil – in der Hoffnung, dass dadurch das notwendige Quorum nicht erreicht wird und die Gesetzesänderungen wenigstens auf diese Weise gestoppt werden könnten. Der Senat billigte die Novellierungen am 15. Juli 2017 in einer Nachtabstimmung.
Es stehen noch die Ausfertigung durch den Präsidenten sowie die Promulgation im Gesetzesblatt (Dziennik Ustaw) an. Die beiden Gesetzesänderungen, deren Tragweite kaum überschätzt werden kann, wurden erst am Tag der Abstimmung auf die Tagesordnung des Sejm gesetzt.
Führende polnische Medien berichten seitdem vom "Ende des Rechtsstaats". Eine Ausnahme bildet etwa die regierungstreue TVP, ein öffentlich-rechtlicher TV-Sender, der seinen Informations- und Bildungsauftrag wahrnimmt, indem er die Gesetzesnovellen und ihre verheerenden Folgen aus seiner Berichterstattung ausklammert. Ein Blick auf die Reformen zeigt, warum die Meinungen – auch in deutschen Medien – so einhellig ausfallen:
Richterrat wird aufgelöst und neu besetzt
An erster Stelle sind die schweren Eingriffe in die Zusammensetzung und die Arbeitsweise der aktuellen KRS zu nennen. Die Gesetzesnovelle sieht vor, dass die Mandate der aktuellen KRS-Mitglieder mit Ablauf von 30 Tagen nach Inkrafttreten der Reform bedingungslos erlöschen, was eine Verkürzung der in Art. 187 Abs. 3 der polnischen Verfassung vorgesehenen vierjährigen Amtsperiode bedeutet. Eine Abweichung von dieser Vorgabe gleicht einer Verfassungsänderung, die nicht zur Disposition des einfachen Gesetzgebers steht.
Betroffen sind aber auch Anwärter auf das Richteramt: Alle laufenden, bis zum Inkrafttreten der Gesetzesnovelle unbeendet gebliebenen Zulassungsverfahren werden erneut und nach Maßgabe der neuen Bestimmungen durchgeführt.
Weiterhin werden die 25 Mitglieder des Gremiums nun gänzlich vom Sejm gewählt. Die Wahl wird damit der uneingeschränkten politischen Kontrolle unterstellt. Nach Art. 186 Abs. 1 der polnischen Verfassung hat die KRS die Aufgabe, die "Unabhängigkeit der Gerichte und die Unbefangenheit der Richter" zu schützen. Aktuell kommt die Änderung des Wahlmodus nur der Partei zugute, die als einzige tatsächlich über genügend Abgeordnete verfügt, um ihren Willen zu erzwingen. Ob unter diesen Umständen von der Verwirklichung der rechtsstaatlichen Verfassungsvorgaben ausgegangen werden kann, ist zu bezweifeln. In einer jüngsten Einschätzung bezeichnete der Justizminister Zbigniew Ziobro die KRS als "Augiasstall", der nun endlich aufgeräumt werde.
Gerichtspräsidenten nach Belieben austauschbar
Für die Rechtsschutz suchenden Bürger von noch unmittelbarer Tragweite ist allerdings die Änderung der Gerichtsverfassung. Von nun an kann der Justizminister Einfluss auf die Besetzung von Schlüsselpositionen an den ordentlichen Gerichten ausüben. Hierzu gehören vor allem die Präsidenten der Gerichte, die mit sofortiger Wirkung und ohne Begründung ihres Amtes enthoben werden können.
Jederzeit und ohne Begründung möglich soll auch eine Versetzung sein – eine beliebte Methode zur Disziplinierung unbotmäßiger Richter. Die entstehenden Vakanzen füllt der Justizminister dann nach eigenem Ermessen. Die für manche Maßnahmen weiterhin erforderliche Mitwirkung der KRS dürfte kaum mehr als eine Formalie bedeuten, nachdem die "gute Veränderung" auch dort erst einmal eingetreten ist.
Gerichtspräsidenten sind keine farblosen Verwalter. Sie prägen die Stimmung unter Kollegen, können auch in Personalangelegenheiten viel bewirken und beeinflussen die allgemeine Arbeitsqualität, in gewisser Weise damit auch die Rechtsprechung. Nach Maßgabe der novellierten Bestimmungen stellen mit Führungsaufgaben betraute Richter eine direkte Verbindung zum Justizminister, dem sie das Amt persönlich verdanken. Die Judikative wird unter das Weisungsrecht der Exekutive gestellt. Zur Erinnerung: Seit Anfang 2016 ist der Justizminister zugleich erster Staatsanwalt im Lande.
2/2: "Säuberungen" sollen "endlich" möglich werden
Das Justizministerium, das von der Gesetzesnovelle am meisten profitiert, nimmt in einer Pressemitteilung Stellung: "Bisherige Praktiken beweisen, dass sich das Richtermilieu bei der Begutachtung von Kandidaten auf die Ämter des Präsidenten oder Vizepräsidenten der Gerichte öfter von freundschaftlichen Sympathien leiten ließ; (...) Kompetenzen hatte keine Bedeutung."
Weiterhin führten diese Missstände in zahlreichen Gerichten zur Entstehung "byzantinischer Verbindungssysteme" zwischen Richtern. Näher ausgeführt werden diese Vorwürfe nicht.
Jedenfalls steht fest, dass die "fetten Jahre" in der Richterschaft ein Ende gefunden haben: Faulheit, Korruption und weitverbreiteter Nepotismus seien nun ausgemerzt, so im Ergebnis die regierungsnahen Zeitschriften wSieci und Do Rzeczy.
Die Wochenzeitschrift Newsweek beruft sich auf anonyme Quellen aus internen Kreisen des Justizministeriums und berichtet über geplante "Säuberungen", die nun auf Grundlage des neuen Gesetzes "endlich" möglich seien. Genaueres ist noch nicht bekannt, jedoch scheinen die Worte der PiS-Pressesprecherin Beata Mazurek, die Richter bereits als eine "Bande von Kumpeln" bezeichnet hatte, die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen: Die verabschiedeten Gesetze seien erst "der Anfang einer Justizreform, über die wir in der [Wahl-]Kampagne gesprochen haben."
Gerichte sollen an "christliche Moral" gebunden werden
Dem Sitzungsprotokoll vom 12. Juli 2017 ist zu entnehmen, dass PiS-Abgeordnete nach der Abstimmung über die Gesetzesnovellen freudig "Demokratie" skandierten. Trotz Siegesstimmung im Regierungslager hat die PiS die Justiz noch nicht vollends ihrem Willen unterworfen. Dies soll sich jedoch bald ändern. Ebenfalls am 12. Juli 2017 ist ein Gesetzesentwurf zur Änderung der Vorschriften über das Oberste Gericht (SN) eingebracht worden. Neben der Auflösung der gegenwärtigen Zusammensetzung der Kammern und einer praktisch uneingeschränkten Kontrolle des Justizministers über Personalangelegenheiten soll der Vorrang der "sozialen Gerechtigkeit" in der Rechtsprechung gesetzlich verankert werden.
Das SN ist, analog zum BGH, die letzte Instanz des ordentlichen Rechtswegs, zudem besitzt es die alleinige Zuständigkeit für die Überprüfung von Wahlvorgängen zu beiden Kammern des polnischen Parlaments (Sejm und Senat). In der Begründung zum Entwurf wird ausgeführt, dass die Rechtsprechung des SN den "Dualismus" zwischen Rechtsnormen und einem "gesetzlich nichttypisierten Normen- und Wertesystem, das ebenso fundiert ist und das aus christlichen Moralvorstellungen herrührt" künftig berücksichtigen müsse. Gegenwärtig gäbe es nämlich "eine Vielzahl an Entscheidungen, die zwar formell mit dem Gesetz im Einklang stehen, allerdings von gerechten Entscheidungen weit entfernt sind."
Die Richterschaft wurde zu Beratungen über den Gesetzesentwurf nicht herangezogen. Die Amtierende Präsidentin des SN, Małgorzata Gersdorf, sprach am 12. Juli 2017 vom "schwarzen Mittwoch" und berief eine außerordentliche Versammlung aller Kammern. "Es ist das Ende des Obersten Gerichts wie es nach Vorgaben der Verfassung stattfinden soll", so Pressesprecher Michał Laskowski.
Der Autor Oscar Szerkus ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Europäisches und Internationales Privatrecht der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und Doktorand am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Deutsche und Europäische sowie Vergleichende Rechtsgeschichte der Freien Universität Berlin. Er promoviert über die Sondergerichtsbarkeit des Polnischen Untergrundstaates in der Zeit des Zweiten Weltkrieges.
Oscar Szerkus, Sejm verabschiedet Justizreformen: Endstation für den polnischen Rechtsstaat . In: Legal Tribune Online, 17.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23479/ (abgerufen am: 30.09.2023 )
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