Vergangenen Freitag ging ein Aufschrei durch Fußball-Deutschland. Bayer 04 gewann mit 2:1 gegen die TSG 1899 Hoffenheim, nachdem ein am Pfosten vorbeigeköpfter Ball durch ein Loch im Netz ins Tor gelangt war. Hoffenheim hat gegen die Wertung beim DFB Einspruch eingelegt und ein Wiederholungsspiel beantragt, doch die rechtlichen Chancen der TSG stehen ausgesprochen schlecht, meint Christian Deckenbrock.
Über den Einspruch der unterlegenen Hoffenheimer hat das Sportgericht des DFB (Deutscher Fußball-Bund) zu befinden. Da in dieser Woche beim DFB-Bundestag unter anderem für die Sportgerichtsmitglieder Neuwahlen anstehen, wird eine Entscheidung voraussichtlich erst in der kommenden Woche fallen. Wie sie wahrscheinlich lauten wird, kann man bei Kenntnis der relevanten Regeln jedoch auch heute schon absehen.
Nach § 17 Nr. 2c der Rechts- und Verfahrensordnung des DFB, den § 13 Nr. 2c der Spielordnung der Deutschen Fußball-Liga (DFL) wortgleich wiederholt, ist ein Einspruch gegen die Spielwertung eines Meisterschaftsspiels statthaft bei einem "Regelverstoß des Schiedsrichters, wenn der Regelverstoß die Spielwertung als verloren oder unentschieden mit hoher Wahrscheinlichkeit beeinflusst hat". Der Begriff des Regelverstoßes ist dabei – was nicht immer einfach ist – abzugrenzen von dem der Tatsachenentscheidung, für die die Ordnungen keine Einspruchsmöglichkeit bereithalten.
Ein Regelverstoß setzt voraus, dass der Schiedsrichter auf einen von ihm festgestellten Sachverhalt eine tatsächlich nicht existierende Regel anwendet. Um eine Tatsachenentscheidung handelt es sich dagegen, wenn der Unparteiische zwar an sich die richtige Regel anwendet, aufgrund eines Wahrnehmungsfehlers aber von einem falschen Sachverhalt ausgeht. Während Wahrnehmungsfehler unanfechtbar sein sollen, ist ein Regelverstoß grundsätzlich nach der Rechts- und Verfahrensordnung des DFB angreifbar. Insoweit wird die Auffassung vertreten, dass Entscheidungen eines Schiedsrichters, der das Regelwerk nicht beherrscht, nicht schützenswert sind.
Torwertung für Leverkusen eindeutige Tatsachenentscheidung
Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung erscheint die Rechtslage eindeutig. Das Schiedsrichterteam um Dr. Felix Brych ist nicht etwa davon ausgegangen, dass auch Bälle, die über das Außennetz ins Tor gelangen, einen gültigen Torerfolg nach sich ziehen können, sondern hat – trotz geringer Zweifel – geglaubt, dass der Ball den regulären Weg ins Tor gefunden habe. Ein solcher Wahrnehmungsirrtum ist der klassische Fall einer Tatsachenentscheidung, wenn auch hier in besonders krasser bzw. kurioser Form.
Gleichwohl besteht letztlich kein Unterschied zu Situationen, in denen der Schiedsrichter nicht richtig erkennt, ob der Ball vor oder hinter die Torlinie gelangt ist, ob eine Abseitssituation vorlag oder ob ein Strafstoß zu verhängen war. Tatsächlich unterliefen Schiedsrichter Dr. Brych neben dem Phantomtor noch zwei weitere gravierende Irrtümer, indem er einen regulär erzielten Treffer der TSG Hoffenheim wegen vermeintlicher Abseitsstellung aberkannt und wegen eines außerhalb des Strafraums erfolgten Foulspiels auf Elfmeter zugunsten von Hoffenheim entschieden hat.
Solche und ähnliche Fehlentscheidungen ereignen sich häufig, doch trotz großer Empörung an Deutschlands Fußball-Stammtischen bleibt der Ruf nach einem Wiederholungsspiel regelmäßig aus. Die Ungerechtigkeiten sind im Sinne der ordnungsgemäßen Durchführung des Spielverkehrs grundsätzlich hinzunehmen. Es wäre fatal, wenn das Ergebnis eines Bundesligaspiels nicht mehr auf dem Platz, sondern erst am grünen Tisch feststünde.
Wiederholungsspiele in vergleichbaren Präzedenzfällen angesetzt
Dass nun gleichwohl verbreitet ein Wiederholungsspiel gefordert wird, hängt sicher in erster Linie mit der Kuriosität des Wahrnehmungsfehlers zusammen, aber auch damit, dass das DFB-Sportgericht in zwei früheren, durchaus vergleichbaren Fällen ein Wiederholungsspiel zugelassen hat. So wurde 1978 das Zweitligaspiel zwischen Borussia Neunkirchen und den Stuttgarter Kickers neu angesetzt, bei dem der Unparteiische ein Tor gegeben hatte, obwohl der Ball seitlich am Kasten vorbeigeflogen, an der Torhalterung abgeprallt und auf der hinteren Tornetzkante entlanggelaufen war.
Zu einer weiteren Wiederholung kam es 1994 im Anschluss an das berühmte Helmer-"Tor": Beim Bundesligaspiel zwischen dem FC Bayern München und dem 1. FC Nürnberg hatte der Schiedsrichter auf Zeichen seines Linienrichters auf Tor erkannt, obwohl der Münchener Spieler Thomas Helmer den Ball neben den Pfosten bugsiert hatte. Mit Blick auf diese Präzedenzfälle kann man fragen, ob eine Wiederholung des Hoffenheimer Bundesligaspiels nicht eine konsequente Fortführung der DFB-Rechtsprechung darstellen würde.
Richtig wäre ein solches Urteil allerdings nicht. Um auf Spielwiederholung zu entscheiden, müsste das Sportgericht sich – erneut – über die Ordnungen des DFB hinwegsetzen und den Grundsatz der Unanfechtbarkeit der Tatsachenentscheidung aufgeben. In der aktuellen Diskussion wird oft vergessen, dass die Sportrichter 1994 ihr Urteil umständlich, und letztlich unzutreffend, mit einem angeblichen Regelverstoß des Schiedsrichters begründet haben. Dessen Rechtsfehler wurde im Helmer-Fall darin erblickt, dass er sich nicht mit dem Linienrichter besprochen habe, der ihn angesichts seiner eigenen Unsicherheit über das Nichttor hätte aufklären können.
Diese Konstruktion war offenbar von dem Wunsch getragen, nach außen hin den Grundsatz der Unanfechtbarkeit der Tatsachenentscheidung zu wahren, gleichzeitig aber das Skandaltor ungeschehen zu machen. Jedenfalls im aktuellen Fall ist nicht ersichtlich, welche Regel die Schiedsrichter falsch angewendet haben sollen. Die Kontrolle der Tornetze ist zur Halbzeitpause erfolgt. Dass dem Assistenten dabei das Loch entgangen ist, dürfte nicht anders zu behandeln sein als ein auf dem Platz übersehenes Foulspiel.
Christian Deckenbrock, Leverkusens Phantomtor gegen Hoffenheim: . In: Legal Tribune Online, 21.10.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9851 (abgerufen am: 06.11.2024 )
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