Am Donnerstag stellte der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags seinen vorläufigen Abschlussbericht vor. Darin geht er mit den Sicherheitsbehörden hart ins Gericht, von einem "Totalversagen" ist die Rede. Damit sich eine vergleichbare Verbrechensserie nicht wiederholen kann, macht der Bericht 47 Reformvorschläge. Über einige davon haben wir mit Eva Högl, der Obfrau der SPD, gesprochen.
LTO: Frau Högl, nach 16 Monaten liegt jetzt der weit über 1.000 Seiten starke Abschlussbericht vor. Was sind die wesentlichen Erkenntnisse, die Sie im Untersuchungsausschuss gewinnen konnten?
Högl: Da gibt es vor allem zwei Punkte. Erstens, dass die Gefahren, die vom Rechtsextremismus ausgehen, über Jahrzehnte hinweg beim Verfassungsschutz, in der Justiz und auch von der Politik nicht hinreichend ernst genommen wurden. Zweitens und gewissermaßen spiegelbildlich, dass die Opfer des NSU wegen ihres Migrationshintergrundes in den Ermittlungen selbst in einem kriminellen Milieu verortet und diskriminiert wurden.
Das Versagen der Sicherheitsbehörden ist dementsprechend auch nicht mit einzelnen handwerklichen Fehlern, Pannen oder Ungeschicklichkeiten zu erklären. Es ist vielmehr Ausdruck grundlegender, struktureller Probleme.
LTO: Zur Lösung dieser Probleme macht der Bericht 47 Reformempfehlungen. Welche davon halten Sie für besonders wichtig?
Högl: Zwei Vorschläge, die ich für zentral halte, betreffen die Polizei. Diese sollte bei jedem Verbrechen gegen Personen mit Migrationshintergrund routinemäßig verpflichtet sein, zu ermitteln, ob die Tat rassistisch motiviert gewesen sein könnte. Außerdem sollte auch die interkulturelle Kompetenz und Analysefähigkeit der Polizei gestärkt werden. Dies einerseits durch die Betonung entsprechender Inhalte in der Aus- und Weiterbildung, andererseits aber auch, indem bei der Einstellung von Polizeibeamten stärker auf kulturelle Vielfalt gesetzt wird. Von den im Ausschuss gehörten polizeilichen Zeugen hatte zum Beispiel kein einziger einen Migrationshintergrund.
"Es gibt keine Einzelmaßnahme, die die Verbrechen mit Sicherheit verhindert hätte"
LTO: Der Bericht schlägt vor, die Zuständigkeiten des Generalbundesanwalts klarer zu definieren und etwas weiter zu fassen. Was halten Sie davon?
Högl: Natürlich kann man nicht mit Bestimmtheit sagen, dass diese oder irgendeine andere Einzelmaßnahme die Mordserie verhindert hätte. Trotzdem hätte die gesamte Ermittlungsarbeit spätestens nach dem neunten Mord im Frühjahr 2006 in einer Hand zusammenlaufen müssen. Deshalb befürwortet der Ausschuss eine leichte Ausweitung der Bedingungen, unter denen der Generalbundesanwalt ein Verfahren an sich ziehen kann.
LTO: Eine gemeinsame Position des Ausschusses zur Frage nach der Zusammenlegung einzelner Landesverfassungsschutzämter gibt es nicht. Was halten Sie persönlich von diesem Vorschlag?
Högl: Herzlich wenig, und zwar vor dem Hintergrund der parlamentarischen Kontrolle. Diese setzt voraus, dass es ein eindeutiges Regierungshandeln gibt, welches man kontrollieren kann. Nehmen Sie zum Beispiel Berlin und Brandenburg. Wenn es einen gemeinsamen Verfassungsschutz für beide Länder gäbe, aber gleichwohl einen Innensenator in Berlin und einen Innenminister in Brandenburg, dann fiele diese Zuordnung schwer. Dementsprechend könnte dann auch weder der Landtag Brandenburg noch das Abgeordnetenhaus Berlin eine wirksame Kontrolle ausüben.
LTO: Sollte das Bundesamt für Verfassungsschutz denn zumindest in stärkerem Ausmaß eine leitende und kontrollierende Rolle übernehmen?
Högl: Auch dazu gibt es im Ausschuss keinen Konsens. Als SPD-Fraktion sind wir aber dafür. Es hat sich gezeigt, dass sowohl der Informationsaustausch zwischen Polizei und Verfassungsschutzbehörden als auch der Austausch der Verfassungsschutzbehörden untereinander defizitär waren.
Ich finde auch nicht, dass jedes Landesamt für Verfassungsschutz sich mit jedem einzelnen Phänomen im Bereich des Extremismus‘ befassen muss. Man könnte das teilweise bündeln und zum Beispiel die Beobachtung des gewaltbereiten Rechtsextremismus dem Bundesamt für Verfassungsschutz übertragen.
2/2: "Teilweise haben die V-Leute den Verfassungsschutz geführt, statt andersherum"
LTO: Anders als die Grünen spricht sich Ihre Partei weiter für den Einsatz von V-Leuten aus, obwohl gerade diese eine sehr problematische Rolle gespielt haben. Warum?
Högl: Wir haben im Ausschuss tatsächlich vieles gefunden, was beim Einsatz von V-Leuten schiefgegangen ist und teilweise regelrecht skandalös war. Bisweilen hatte man den Eindruck, dass die V-Leute den Verfassungsschutz geführt haben, statt andersherum. Dennoch sind wir als SPD der Meinung, dass der Einsatz verdeckter Ermittler weiter praktiziert werden sollte, aber unter strengeren Regularien.
Das bedeutet zunächst eine bessere Auswahl und Kontrolle der V-Leute. Es bedeutet aber auch ein ausgewogenes Verhältnis von Information und Bezahlung. Und es bedeutet vor allem, dass der Einsatz von V-Leuten durch ein externes Gremium kontrolliert werden sollte, und zwar die bereits vorhandene G10-Kommission. Deren Mitglieder kennen sich mit der Materie aus und könnten dazu beitragen, dass sich vergangene Missstände nicht wiederholen.
LTO: Normalerweise sind Untersuchungsausschüsse ein Kampfinstrument der Opposition. Das war in diesem Fall anders. Die Fraktionen setzten den Ausschuss nicht nur einstimmig ein, sondern betonten auch während der laufenden Arbeit immer wieder ihre Geschlossenheit. Wird das dazu führen, dass die Reformvorschläge zügig umgesetzt werden?
Högl: Das kann man nur hoffen.
LTO: Trotz aller Einigkeit hat jede Partei neben dem gemeinsamen Abschlussbericht ein gesondertes Statement abgegeben. Wieso? In welchen Punkten unterscheidet sich etwa die Position der SPD so stark von den anderen Parteien, dass eine gemeinsame Erklärung nicht mehr möglich war?
Högl: Dass man sich nicht in allen Punkten würde einigen können, hat sich von vorneherein abgezeichnet. Ein wesentlicher Streitpunkt ist etwa die Frage, ob der Verfassungsschutz grundsätzlich beibehalten oder abgeschafft werden sollte. Wir haben das im Abschlussbericht so gelöst, dass wir uns gemeinsam auf Reformvorschläge geeinigt haben, die unter der Prämisse stehen, dass der Verfassungsschutz fortbesteht.
"Unterschiedliche Formen des Extremismus müssen auf unterschiedliche Weise bekämpft werden"
LTO: Die Bundesregierung hat bereits erste Konsequenzen aus dem Versagen der Sicherheitsbehörden gezogen. Was halten Sie von dem Gemeinsamen Terrorismus- und Extremismusabwehrzentrum?
Högl: Eine bessere Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern und der Länder untereinander, wie das Zentrum sie anstrebt, ist natürlich wünschenswert. Ich halte es allerdings für falsch, dass dort alle Formen von Extremismus in einen Topf geworfen werden. Im Ausschuss hat sich gezeigt, dass es sehr wichtig ist, jeden Phänomenbereich des Extremismus von den anderen zu trennen, weil diese jeweils unterschiedliche Ursachen und Auswirkungen haben und auf unterschiedliche Weise bekämpft werden müssen.
LTO: Während der Ausschuss seine Aufklärung beendet hat, läuft der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte vor dem Oberlandesgericht (OLG) München gerade erst an. Haben Sie den Eindruck, dass die Ermittlungen beider Seiten, die sich in der Sache ja weitgehend überschneiden, einander gegenseitig behindern oder beeinflussen könnten? Immerhin steht der Sachverhalt für den Ausschuss nun fest, vor Gericht gilt jedoch weiter die Unschuldsvermutung.
Högl: Der Untersuchungsausschuss des Bundestages und der Strafprozess vor dem OLG München haben völlig verschiedene Aufgaben. Wir im Ausschuss sollten Behördenversagen aufklären und Reformvorschläge machen, beim Strafprozess geht es um die strafrechtliche Bewertung des rechtsextremen Terrors.
LTO: Ist die Arbeit des Ausschusses nun abgeschlossen? Ihr Kollege Hartfrid Wolff von der FDP warb bereits für eine Wiederaufnahme nach der Bundestagswahl.
Högl: Ich halte den Vorschlag von Herrn Wolff offen gesagt für eine Schnapsidee. Wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Zu einem Abschluss zu kommen ist auch für die Opfer und Angehörigen wichtig. Das heißt natürlich nicht, dass damit alle Fragen beantwortet wurden. Jetzt gilt es, unsere Vorschläge auch umzusetzen und die Sicherheitsbehörden grundlegend zu reformieren, um Rechtsextremismus und Rassismus endlich wirksam zu bekämpfen.
LTO: Vielen Dank für das Gespräch.
Dr. Eva Högl ist Juristin und Obfrau der SPD im NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag.
Die Fragen stellte Constantin Baron van Lijnden.
Dr. Eva Högl, NSU-Untersuchungsausschuss legt Abschlussbericht vor: "Was wir jetzt nicht wissen, werden wir nie erfahren" . In: Legal Tribune Online, 23.08.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9422/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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