Eine Verfassungsänderung mag bezüglich der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe Klarheit schaffen. Erforderlich wäre sie nach geltendem Recht aber nicht, meint Elisa Freiburg.
An dieser Stelle wurde unlängst Kritik geübt am Urteil des US-amerikanischen Supreme Courts zur Ermöglichung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Statt Rechtsprechung im Sinne einer Auslegung der Verfassung habe dieser vielmehr unzulässige (verfassungsändernde) Rechtsetzung betrieben. Die Mehrheit des Gerichts habe missachtet, dass die US-Verfassung kein explizites Recht auf Eheschließung kenne. Man dürfe nicht annehmen, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz im 14. Verfassungszusatz, auf den sich das Gericht berufen hat, gleichgeschlechtliche Ehen als nicht entziehbare Freiheitsrechte betrachtet hätte. So habe der Supreme Court im Ergebnis die klare föderale Kompetenzverteilung in Bezug auf das Eherecht umgangen.
Prof. Hillgruber argumentierte darauf aufbauend, dass in Deutschland die Schaffung einer gleichgeschlechtlichen Ehe, die auch tatsächlich diesen Namen tragen darf, eine Änderung des Grundgesetzes voraussetze. Auch würden die Verfassungsrichter ihre Kompetenzen überschreiten, indem sie die eingetragene Lebenspartnerschaft immer weiter aufwerten, bis sie nur noch der Name von der Ehe trennt. Dabei sei angesichts der Verschiedenartigkeit der Institute nach Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) nicht ihre Ungleich-, sondern ihre Gleichbehandlung rechtfertigungsbedürftig.
Bisherige Auslegung des Art. 6 GG durch das BVerfG
Doch ist eine Verfassungsänderung tatsächlich zwingend, um auch hierzulande die "Ehe für alle" zu ermöglichen? Art. 6 Abs. 1 GG ist eigentlich neutral formuliert: "Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung". Zum Geschlecht der Ehepartner schweigt das Grundgesetz.
Das BVerfG hat hingegen wiederholt betont, dass die Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner zu den Strukturelementen des grundgesetzlichen Ehebegriffs gehöre. Daraus schließt Prof. Hillgruber auf die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung, wenn man die gleichgeschlechtliche Ehe etablieren wolle. Damit erhebt er die einmal vom BVerfG vorgenommene Auslegung sozusagen in den Rang des Verfassungsrechts, deren zukünftige andere Beurteilung folglich eine Verfassungsänderung notwendig machen würde. Das wirft die Natur einer Norm selbst mit ihrer gerichtlichen Auslegung durcheinander.
Der Wille des historischen Gesetzgebers in Gestalt des Parlamentarischen Rates ist in der Weise dokumentiert, dass dieser es für überflüssig hielt, entgegen eines früheren Vorschlages die Ehe ausdrücklich als "die rechtmäßige Form der fortdauernden Lebensgemeinschaft von Mann und Frau" zu bezeichnen. Einer solchen Formulierung bedürfe es nicht, wenn Art. 6 Ehe und Familie als solche unter Schutz stellt. Tatsächlich wird der Parlamentarische Rat zum damaligen Zeitpunkt wohl kaum an eine Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern gedacht haben – aber wohl nicht, weil er diese gezielt vom Schutz des Art. 6 ausnehmen wollte, sondern vielmehr, weil dies Ende der 1940er Jahre jenseits seiner Vorstellungskraft lag.
Rechtsfortbildung ist dem BVerfG nicht fremd
Ohnehin wäre es nicht das erste Mal, dass der ursprüngliche Wille des Parlamentarischen Rates etwas großzügiger ausgelegt würde. So spricht beispielsweise Art. 19 Abs. 3 GG eindeutig davon, dass sich inländische juristische Personen unter bestimmten Umständen auf Grundrechte berufen können; im Umkehrschluss hatte das BVerfG die Erstreckung des Schutzes auf ausländische juristische Personen lange abgelehnt.
Mit seinem Beschluss vom 19.Juli 2011 (Az. 1 BvR 1916/09) hat das BVerfG den Schutz aber sodann auch auf juristische Personen aus anderen EU-Staaten ausgeweitet, um Art. 26 Abs. 2 sowie Art. 18 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) Rechnung zu tragen. Art. 19 Abs. 3 GG, so hieß es in einer großzügigen und zeitgemäßen Auslegung, stünde dem nicht entgegen.
Der Parlamentarische Rat konnte nicht absehen, dass es einmal eine EG/EU mit entsprechenden Regelungen geben könnte; dies hat das BVerfG treffend erkannt und bei seiner eigenen Interpretation berücksichtigt. Wenn es in dem Verfahren auch letztendlich um eine unmittelbare Anwendbarkeit des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots ging, so ist die Wertung, dass Art. 19 Abs. 3 GG dem nicht entgegenstünde, und die daraus resultierende Anwendungserweiterung ebendieses Artikels in Anbetracht seines Wortlauts und des eigentlich naheliegenden Umkehrschlusses, dass die Grundrechte eben nicht für ausländische juristische Personen gälten, doch bemerkenswert.
Auch ein gewisses Maß an Rechtssetzung ist dem BVerfG nicht fremd. So stellte das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG hergeleitet wurde, faktisch ein neues, zusätzliches Grundrecht dar, geformt aus der Erkenntnis, dass die bestehenden Grundrechte neuartige Gefährdungslagen nicht hinreichend erfassen. Die Herleitung aus bereits existenten Grundrechten machte diese richterrechtliche Koproduktion von BGH und BVerfG möglich, doch der Parlamentarische Rat wird das allgemeine Persönlichkeitsrecht kaum bereits erahnt und bewusst im Grundgesetz angelegt haben.
Die gleichgeschlechtliche Ehe und Art. 6 GG: . In: Legal Tribune Online, 25.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16364 (abgerufen am: 12.12.2024 )
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