Nach den Silvester-Übergriffen soll das Sexualstrafrecht verschärft werden. Der griffige Slogan "'Nein heißt Nein'" verbirgt, dass Opfer künftig gerade nicht mehr Nein sagen müssen. Und mit der Nacht in Köln haben die Pläne nichts zu tun.
Die Vorgänge auf der Kölner Domplatte in der Silvesternacht sind noch nicht ansatzweise aufgeklärt, aber parteiübergreifend ist man sich einig: Nicht nur schnellere Abschiebungen müssten ermöglicht, sondern auch Schutzlücken im Sexualstrafrecht geschlossen werden. Ein Gesetzentwurf aus dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucher (BMJV) ist seit Monaten bekannt. Er soll nun, nachdem auch das Kanzleramt seine Blockade aufgegeben hat, schnell umgesetzt werden.
Familien- und Frauenministerin Manuela Schwesig (SPD) stellte sich von Beginn an hinter den Entwurf, der unter dem Slogan "Nein heißt Nein" zusammengefasst wird. Auch die CDU will Frauen besser schützen, die Grünen haben schon im Juli 2015 einen eigenen Gesetzentwurf zum besseren Schutz vor sexueller Misshandlung und Vergewaltigung vorgelegt.
Der Deutsche Juristinnenbund will seit Längerem jegliche sexuelle Handlung unter Strafe stellen, die ohne das Einverständnis der anderen Person vorgenommen wird; Rechtsprofessorin Tatjana Hörnle plädiert unter anderem in der FAZ vom Mittwoch für eine grundlegende Reform des Sexualstrafrechts, um auch sogenanntes "Betatschen" unter Strafe zu stellen.
Die Reform der Reform: Warum die Ausnutzungsvariante nicht reichen soll
Die Reformer berufen sich auf Artikel 36 der sogenannten Istanbul-Konvention, nach der jede nicht einverständliche sexuelle Handlung unter Strafe zu stellen ist. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Konvention gezeichnet und beabsichtigt, sie zu ratifizieren. Die Meinungen darüber, ob das geltende deutsche Sexualstrafrecht ihre Anforderungen schon jetzt erfüllt, gehen auseinander.
Zuletzt Ende der neunziger Jahre wurden die Vorschriften der §§ 174 ff Strafgesetzbuch (StGB) umfassend reformiert. Sie erfassen seitdem auch die Vergewaltigung von Männern sowie die in der Ehe und stellen das Ausnutzen einer Lage unter Strafe, in der das Opfer dem Täter schutzlos ausgeliefert ist. Dieser damals neue § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB sollte Strafbarkeitslücken schließen, in denen der Täter keinen Widerstand überwinden muss, weil das Opfer sich nicht wehrt, weil es eine Verteidigung für sinnlos oder sich dem Täter für ausgeliefert hält.
Knapp 20 Jahre später sehen die Reformbefürworter noch immer ähnliche Strafbarkeitslücken. Die sogenannte Ausnutzungsvariante werde – auch vom Bundesgerichtshof (BGH) als letzter strafrechtlicher Instanz – so eng interpretiert, dass strafwürdige Fälle straffrei blieben, heißt es auch in der Begründung zum Gesetzentwurf aus dem BMJV. Hintergrund der restriktiven Rechtsprechung sind die hohe Strafandrohung und die dogmatische Nähe der Auslieferungsvariante zur Nötigung mit Gewalt oder Drohung mit Gewalt.
§ 179 StGB-E: "Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung besonderer Umstände"
Diese enge Auslegung von § 177 will der Entwurf aus Maas‘ Ministerium beenden. Dies vor allem, indem die sexuelle Nötigung durch Ausnutzen einer schutzlosen Lage sowohl aus dem Kontext der Nötigung als auch aus dem der Gewalt oder Drohung mit Gewalt herausgelöst wird. Unter der Überschrift "Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung besonderer Umstände" soll der neue § 179 StGB-E nicht mehr primär nur behinderte oder sonst strukturell unterlegene Personen schützen, sondern auch solche, die von der Tat überrascht werden oder sich nicht wehren, weil sie Widerstand für zwecklos halten. Die Absätze 1 bis 3 der Vorschrift sollen künftig lauten:
"(1) Wer unter Ausnutzung einer Lage, in der eine andere Person
1. aufgrund ihres körperlichen oder psychischen Zustands zum Widerstand unfähig ist,
2. aufgrund der überraschenden Begehung der Tat zum Widerstand unfähig ist oder
3. im Fall ihres Widerstandes ein empfindliches Übel befürchtet,
sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder an sich von dieser Person vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen der Nummern 2 und 3 mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft."
(2) Ebenso wird bestraft, wer eine andere Person dadurch missbraucht, dass er sie unter Ausnutzung einer in Absatz 1 Nummer 1, 2 oder 3 genannten Lage dazu bestimmt, sexuelle Handlungen an einem Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen.
(3) In besonders schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr zu erkennen. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn
1. der Täter eine Lage ausnutzt, in der das Opfer einer Gewalteinwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, oder
2. die Widerstandsunfähigkeit nach Absatz 1 Nummer 1 auf einer Behinderung des Opfers beruht."
Keine Nötigung, keine Finalität, gefühlte Schutzlosigkeit
Nach einer subjektivierten Perspektive soll es also künftig ausreichen, wenn das Opfer sich schutzlos fühlt ("befürchtet"), auch wenn es das nicht ist. Widerstand muss es dafür nicht leisten, auch nicht "Nein" sagen.
Es soll objektiv betrachtet weder auf eine Nötigung noch auf eine Finalität zwischen der Gewalt und der sexuellen Handlung ankommen – an diesem Merkmal scheiterten in der Vergangenheit einige Verurteilungen. Im Gegenzug soll der besonders schwere Fall der Nötigung zu einer sexuellen Handlung entfallen, derzeit geregelt in § 240 Abs. 4 Nr. 1 StGB.
Die Strafandrohung beim besonders schweren Fall, wenn das Opfer einer Gewalteinwirkung durch den Täter schutzlos ausgeliefert ist, beträgt wie auch bei der sexuellen Nötigung nach § 177 StGB mindestens ein Jahr.
2/2: Keine Frage des Nein: das überraschende Begrapschen
Ansonsten steht dem objektiv wie subjektiv wesentlich weiter gefassten Tatbestand des § 179 StGB insbesondere für die Ausnutzungsfälle eine Entschärfung auf Rechtsfolgenseite gegenüber. Während die sexuelle Nötigung auch in der Ausnutzungsvariante ein Verbrechen war, bleibt es für die Grundtatbestände des § 179 StGB bei sechs, in minder schweren Fällen bei drei Monaten.
So auch für die nun in Abs. 1 Nr. 2 der geplanten Vorschrift vorgesehene Strafbarkeit von sexuellen Handlungen, bei denen der Täter den Überraschungseffekt ausnutzt. Damit wird der überrumpelnde, ungewollte sexuelle Körperkontakt vor allem in der Öffentlichkeit, das sogenannte Grapschen, erstmals unter Strafe gestellt – bisher finden sich Regelungen nur für sexuelle Belästigung im Büro.
Außerhalb von Arbeitsverhältnissen sind überraschende Angriffe auf die sexuelle Selbstbestimmung von Personen, die auf Grund der Schnelligkeit des Geschehens weder Gelegenheit haben, einen entgegenstehenden Willen zu bilden noch sich gegen eine Gewaltanwendung wehren müssen, derzeit nicht als Sexualstraftaten strafbar. Sie erfüllen auch nicht zwingend den Tatbestand der Beleidigung i.S.d. § 185 StGB. Der würde nach ständiger Rechtsprechung des BGH nämlich voraussetzen, dass der Täter über die mit der sexuellen Handlung regelmäßig verbundene Beeinträchtigung hinaus auch noch "die Geschlechtsehre" der Frau angreift. In dieser Hinsicht ist eine verbale Attacke eher tatbestandsmäßig als eine körperliche.
Was geändert werden müsste: die Erheblichkeitsschwelle des § 184h* StGB
Eine weitere Lücke, die es zu schließen gilt, fasst der Gesetzentwurf von Heiko Maas nicht an. Bei der Erheblichkeitsschwelle des § 184h* StGB soll es bleiben, weiterhin sollen also nur "sexuelle Handlungen von einiger Erheblichkeit im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut" überhaupt strafrechtlich relevant i.S.d. §§ 174 ff StGB sein können.
Damit würden Gerichte auch weiterhin mit der Beliebigkeit der richterlichen Unabhängigkeit darüber entscheiden, ob eine sexuelle Handlung strafrechtlich relevant sein kann. Von den drei Komponenten, die darüber entscheiden, sei nur eine beispielhaft erklärt: Für eine "sexuelle Handlung" braucht es, so weit ist man sich in der juristischen Kommentarliteratur einig, eine "Beziehung zum Geschlechtlichen". Eine Berührung der Geschlechtsteile "und deren unmittelbarer Umgebung" soll dafür reichen, das "Streicheln anderer, auch erogener Körperzonen" dagegen nicht. Für solche Körperzonen hält die juristische Literatur die Beine und das Haar. Selbst "übliche Küsse und Umarmungen" halten Kommentatoren und Gerichte in der Regel nicht für sexuelle Handlungen. Ein Zungenkuss hingegen hat für den BGH immer eine Beziehung zum Geschlechtlichen. Eine Darstellung dessen, was Gerichte aus der nötigen Erheblichkeit der Handlung in Bezug auf das geschützte Rechtsgut machen, würde den Rahmen sprengen.
Auch wenn unbestimmte Rechtsbegriffe mitunter unerlässlich sein mögen: Zwischen diesem Ist-Zustand und den gern zitierten "amerikanischen Verhältnissen" (die beliebteste Horrorvision: die Sexual-Assault-Policy kalifornischer Universitäten) wäre jede Menge Raum für eine hinreichend bestimmte Definition einer strafrechtlich relevanten sexuellen Handlung, die der Würde und sexuellen Selbstbestimmung – nicht nur – von Frauen Rechnung trägt.
Wie beweist man ein inneres Nein?
Eine Reform des Sexualstrafrechts hat, ganz unabhängig von den konkreten Plänen aus dem BMJV, ihre Kritiker. Die als streitbar bekannte Kriminologin Prof. Dr. Monika Frommel hält die geltende Ausnutzungsvariante in § 177 StGB für ausreichend und – nicht zuletzt vom BVerfG – hinreichend weit definiert. Alle Fälle von sexuellen Übergriffen seien durch Straftatbestände wie den besonders schweren Fall der Nötigung zur Vornahme einer sexuellen Handlung hinreichend abgedeckt: "Schließlich ist auch psychisch wirkender Zwang strafbar, eben nicht als Verbrechen".
Die Kritiker – neben Frommel und diversen Strafverteidigern in vorderster Front der medial umtriebige BGH-Richter und Verfasser eines Standardkommentars zum StGB Prof. Dr. Thomas Fischer - stützen sich aber vor allem auf die entstehenden Beweisschwierigkeiten. Wenn ein Straftatbestand zunehmend auf den Willen des Opfers, seine inneren, möglicherweise nicht einmal geäußerten Gedanken abstellen würde: Wie beweist man dann ein solches, bloß inneres Nein? Und wann wusste der Täter davon und hat es bewusst überwunden? Zu einer Reform, die dem Opfer künftig nicht einmal mehr ein Nein abverlangen will, passt der griffige Slogan 'Nein heißt Nein' jedenfalls schlecht.
Fischer, als (mittlerweile Vorsitzender) Richter eines Strafsenats am BGH mitverantwortlich für die restriktive Rechtsprechung der vergangenen Jahre, hält sogar schon die seit 1997 bestehende Ausnutzungsvariante für nicht hinreichend bestimmt: "'Ausnutzen' ist offensichtlich keine konkrete Tathandlung. Niemand kann sagen, was 'ausnutzen' ist, wenn er nicht weiß, was der Ausnutzende und der Auszunutzende denken, wollen, verstehen und tun".
Für die Täter von Köln genügt auch das aktuelle Strafrecht
Und was hat all das Änderungen mit den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht zu tun? Mit den Frauen, die von Gruppen von jungen Männern mit Migrationshintergrund eingeschüchtert und umzingelt wurden, die umgeben waren von einer Wand aus alkoholisierten, enthemmten Männern, die ihnen an die Brüste und zwischen die Beine fassten? Nicht allzu viel.
Nach dem, was bisher über die Taten aus den Medien bekannt ist, sind die allermeisten bereits nach geltendem Recht strafbar. Viele der Täter haben nach allem, was man weiß, mindestens den Tatbestand der sexuellen Nötigung erfüllt. Der Straftatbestand, dessen Ausweitung und Verschärfung nun bundesweit Politiker aller Couleur unisono fordern, schützt die Opfer der Kölner Übergriffe längst. Die Angriffe der Täter waren nicht überraschend, die mindestens konkludent angedrohte Gewalt, die sie einsetzten, stand in finalem Zusammenhang zu den sexuellen Handlungen, die sie vornahmen. Die Frauen fühlten sich den Männergruppen nicht nur ausgeliefert, sondern waren es tatsächlich.
Die im Einzelfall denkbare Frage nach der sexuellen Natur der Übergriffe und ihrer Erheblichkeit hingegen will der Entwurf aus dem BMJV bisher nichts verändern.
Wenn die Täter von Köln nicht bestraft werden, wird es nicht daran liegen, dass sie keinen Straftatbestand erfüllt haben. Sondern daran, dass die Polizei sie nicht identifizieren, finden, festhalten oder verfolgen kann. Oder daran, dass die Justiz nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Wahrscheinlichkeit von ihrer Täterschaft oder ihrem Tatbeitrag überzeugt ist.
* Anm. d. Red.: Zunächst fälschlich als § 184g angegebene Vorschrift wurde korrigiert am 18.01.2016, 10:20 Uhr.
Pia Lorenz, Reform des Sexualstrafrechts: Heißt auch ein inneres Nein nein? . In: Legal Tribune Online, 15.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18159/ (abgerufen am: 30.11.2023 )
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