Union und SPD wollen die Ermittler bei der Aufklärung von Sexualdelikten stärken und die Verwertung von Beinahetreffern bei Massengentests erlauben. Deutet die Auswertung der DNA-Profile auf eine Verwandtschaftsbeziehung zwischen einem Testteilnehmer und dem mutmaßlichen Täter hin, soll dieser Spur nachgegangen werden können. Statt einfacher könnte die Tataufklärung damit schwieriger werden, meint Sabine Swoboda.
In Zukunft sollen die Ermittler bei freiwilligen Reihen-Gentests auch sogenannte Beinahetreffer für die weitere Fahndung nutzen dürfen. Von Beinahetreffern spricht man, wenn das DNA-Profil eines Teilnehmers am freiwilligen Reihen-Gentest zwar nicht mit den am Tatort gesicherten Spuren übereinstimmt, aber doch so markante Übereinstimmungen aufweist, dass ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen Spurenleger und Proband nahe liegt.
Bislang dürfen die Strafverfolgungsbehörden solchen Hinweisen nicht nachgehen, wie der Bundesgerichtshof im vergangenen Jahr klargestellt hatte (Urt. v. 20.12.2012, Az. 3 StR 117/12). Eine aus einem freiwilligen Reihen-Gentest gewonnene DNA-Probe darf nur dann einem Testteilnehmer namentlich zugeordnet werden, wenn es eine vollständige Übereinstimmung mit den Spuren am Tatort gibt, es also zu einem sogenannten Treffer kommt, § 81h Strafprozessordnung (StPO). Bei nur teilweiser Übereinstimmung bleibt die Probe anonym und ist umgehend zu vernichten.
Genetischer Fingerabdruck verrät sensible Informationen
Die Große Koalition sieht darin eine Schutzlücke. Bei auffälligen Ähnlichkeiten zwischen dem DNA-Profil eines Testteilnehmers und der Tatortspur sollen deshalb eine Entanonymisierung der DNA-Probe und ein Melderegisterabgleich zulässig werden, um potentiell tatverdächtige Verwandte identifizieren und zwangsweise zum DNA-Test laden zu können.
Die USA und England, die diese Form der "genetischen Rasterfahndung" bereits seit den neunziger Jahren praktizieren, haben hiermit bereits spektakuläre Ermittlungserfolge erzielt.
Allerdings ist jedes Ausforschen genetischer Verwandtschaftsverhältnisse ein tiefer Eingriff in die Privatsphäre und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Ein genetischer Fingerabdruck verrät sensible Informationen über Abstammung, familiäre Verwandtschaftsbeziehungen und ethnische Herkunft. In naher Zukunft könnten noch weitere personenbezogene Daten aus dem nichtkodierenden Bereich des DNA-Strangs herausgelesen werden, also aus dem Teil der DNA, der keine zur Proteinerzeugung notwendigen Erbinformationen enthält.
EGMR verlangt Interessenausgleich
Ein Abgleich von Beinahetreffern kommt dem unantastbaren Kernbereich der Persönlichkeit bedrohlich nahe. Es erstaunt daher, dass die Große Koalition das Verbot derart massiver Eingriffe ohne konkreten Tatverdacht als "Schutzlücke" wertet. Vielmehr muss doch gerade umgekehrt gelten, dass nur ein Verbot derartiger Eingriffe das Persönlichkeitsrecht und die Privatsphäre der Testteilnehmer und ihrer Familienangehörigen hinreichend schützt.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verlangt außerdem, dass jeder Zugriff auf personenbezogene DNA-Daten an Kriterien gebunden wird, die einen fairen Ausgleich zwischen den öffentlichen Strafverfolgungsbelangen und den privaten Schutzinteressen ermöglichen.
Die deutsche Rechtsgrundlage für freiwillige Massengentests enthält aber nur ein einziges Einschränkungskriterium: Die Ermittler dürfen nur nach Treffern, nicht aber nach Beinahetreffern suchen.
Sollte der Gesetzgeber diese Einschränkung nun aufbrechen und weit gestreute Ausforschungseingriffe zu möglichen Verwandtschaftsbeziehungen zulässig machen, bliebe kein Kriterium mehr übrig, mit dem der vom EGMR geforderte Ausgleich hergestellt werden könnte. Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität gelten nur für den Körpereingriff, aus dem die DNA-Probe gewonnen wird (Speichel- oder Haarprobe). Für das Auslesen des genetischen Fingerabdrucks, den eigentlich zentralen Persönlichkeitseingriff, hat der Gesetzgeber keine entsprechenden Kriterien festgelegt.
2/2: Nur eine statistische Wahrscheinlichkeitsaussage
Die Große Koalition überschätzt außerdem die Aussagekraft von DNA-Identifizierungsmustern für das Strafverfahren. Wer Spuren am Tatort hinterlässt, ist nicht zwingend der Täter. Und eine Ähnlichkeit im DNA-Profil mag zwar auf ein Verwandtschaftsverhältnis hinweisen, kann aber auch schlicht Zufall sein.
Ein genetischer Fingerabdruck umfasst nach europäischem Standard die Analyse von ca. 13 bis 16 repetitiven DNA-Sequenzen aus dem nichtkodierenden Bereich der DNA. Für die DNA-Typisierung werden dabei Basensequenzen ausgewählt, die entweder als besonders robust oder zuverlässig gelten oder die angesichts der Zahl und Häufigkeit, mit der sie statistisch in der Bevölkerung vorkommen, eine besonders gute Unterscheidbarkeit der DNA-Profile gewährleisten. Ob eine Person als Spurenleger in Betracht kommt oder mit diesem verwandt sein könnte, ist damit nur eine statistische Wahrscheinlichkeitsaussage.
Allein aus einem genetischen Fingerabdruck lässt sich daher auch nie mit hundertprozentiger Sicherheit ableiten, dass eine Person wirklich der Spurenleger ist. Vielmehr eignet sich die DNA-Analyse vor allem dazu, den Kreis der Tatverdächtigen zu verkleinern, weil viele Personen über ihr DNA-Profil mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit sofort ausgeschlossen werden können.
Unkalkulierbare Folgeermittlungen im Familienkreis
Anstatt den Kreis der Tatverdächtigen sinnvoll zu verkleinern, vergrößert die "genetischen Rasterfahndung" den Kreis der durch strafrechtliche Zwangseingriffe Belasteten nun aber auf gut Glück ins Unermessliche. Zudem ist unklar, wie man die zunächst nur potentiell als Täter in Betracht kommenden Familienangehörigen überhaupt zum DNA-Test verpflichten will. Für einen solchen Zwangseingriff verlangt das Gesetz normalerweise einen konkreten Tatverdacht oder zumindest den Nachweis, dass die Person in einer bestimmten Beziehung zur Tat steht.
Beides ist in diesem frühen Ermittlungsstadium, in dem nur genetisch interessante Personenkreise systematisch "gerastert" werden, noch nicht gegeben. Umgekehrt können die "gerasterten" Personen noch keine Zeugnis- oder Untersuchungsverweigerungsrechte geltend machen, denn auch dafür setzt das Gesetz voraus, dass die Beziehung zwischen der getesteten Person und dem mutmaßlichen Täter bekannt ist. Der erzwungenen DNA-Tests dient aber dazu, diese Beziehung erst bekannt zu machen.
Die Aussicht, über die freiwillige Teilnahme an einem Reihen-Gentest schwer kalkulierbare Folgeermittlungen im eigenen Familienkreis auszulösen, könnte zahlreiche Freiwillige von der Teilnahme abhalten. Das wiederum würde die Ergiebigkeit der Reihen-Gentests schwächen.
Gut möglich also, dass die Große Koalition mit ihren Plänen die Aufklärung von schweren Gewalt- und Sexualdelikten nicht erleichtert, sondern letztlich erschwert.
Die Autorin Prof. Dr. Sabine Swoboda ist Inhaberin des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Internationales Strafrecht an der Ruhr-Universität Bochum.
Prof. Dr. Sabine Swoboda, DNA-Tests: Genetische Rasterfahndung geplant . In: Legal Tribune Online, 09.12.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10290/ (abgerufen am: 27.04.2024 )
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