Ein Impfstoff verursacht womöglich schwere Krankheiten, wissenschaftlich belegt ist das aber nicht. Tobias Lenz und Mike Weitzel zu den Schlussanträgen in einem Fall vor dem EuGH, der herkömmliche Beweislastgrundsätze auflockern könnte.
Nach dem Wortlaut von Art. 4 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (Produkthaftungsrichtlinie) hat der Geschädigte den Schaden, den Fehler und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden zu beweisen. Diese Vorgabe des Richtliniengebers, die in Deutschland ihre Umsetzung in § 1 Abs. 4 Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG) erfahren hat, folgt einem allgemeinen Grundsatz: Danach obliegt es jeder Partei, die tatsächlichen Voraussetzungen der ihr günstigen Norm zu beweisen, soweit diese streitig sind.
Ein Geschädigter muss daher üblicherweise die Fehlerhaftigkeit des Produktes, die eingetretene Rechtsgutverletzung, den Schaden und die Kausalität zwischen Fehler und Schaden darlegen und beweisen. Sodann trägt der Hersteller die Beweislast für ein etwaiges Eingreifen eines Haftungsausschlussgrundes.
Derzeit liegt dem EuGH ein Vorabentscheidungsgesuch aus Frankreich vor, in welchem von diesen Grundsätzen gegebenenfalls abgewichen werden könnte. 1998 und 1999 wurde ein Patient gegen Hepatitis B geimpft. Einige Wochen nach der letzten von drei Impfungen zeigten sich bei dem Patienten Beschwerden, die später zur Diagnose Multiple Sklerose führten. Nachdem sich sein Gesundheitszustand in den folgenden Jahren stetig verschlechterte, verklagte der Patient den Hersteller des Impfstoffs, Sanofi Pasteur MSD. Er machte geltend, dass angesichts des zeitlichen Zusammenhangs und fehlender familiärer Vorbelastung zu vermuten sei, dass der Impfstoff für die Erkrankung ursächlich sei. Es sei daher Sache des Herstellers, diesen zu vermutenden ursächlichen Zusammenhang zu widerlegen.
Freie Beweiswürdigung des Gerichts ausreichend?
Die Klage wurde vom französischen Berufungsgericht noch mit der Begründung abgewiesen, dass kein ursächlicher Zusammenhang zwischen einem Fehler des Impfstoffs und dem erlittenen Schaden bewiesen worden sei. Der französische Kassationsgerichtshof ersucht hingegen den Europäischen Gerichtshof (EuGH) um Auslegung der Produkthaftungsrichtlinie: Er möchte wissen, ob diese einer Beweisführung entgegensteht, bei der ein Gericht im Wege freier Beweiswürdigung feststellen kann, dass die Tatsachen, die der Kläger geltend macht, ernsthafte, klare und übereinstimmende Vermutungen begründen, die den Fehler des Impfstoffs und den ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem und der Krankheit beweisen. Und zwar auch dann, wenn die medizinische Forschung keinen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Auftreten der Krankheit belegen kann.
Sollte die Richtlinie einer solchen Beweisführung entgegenstehen, möchte der Kassationsgerichtshof ferner wissen, ob der Beweis eines ursächlichen Zusammenhangs nur dann als erbracht gelten kann, wenn er wissenschaftlich belegt ist.
In seinen am Dienstag veröffentlichten Schlussanträgen gelangt EuGH-Generalanwalt Michal Bobek zu der Auffassung, dass Art. 4 der Produkthaftungsrichtlinie einer auf Vermutungen gründenden, freien Beweiswürdigung durch das Tatsachengericht grundsätzlich nicht entgegensteht - solange eine solche Art und Weise der Beweisführung nicht de facto zu einer Umkehrung der Beweislast für den Fehler, den Schaden oder den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden führt. Er macht dabei zur Voraussetzung, dass nur solche Vermutungen herangezogen werden, die auf Beweismitteln beruhen, die sowohl relevant als auch streng genug sind, um die gezogenen Schlussfolgerungen zu stützen. Diese Vermutungen müssen laut Generalanwalt widerleglich sein und dürfen die freie Beweiswürdigung des nationalen Gerichts nicht unzulässig einschränken.
2/2: Für Deutschland nichts Neues
Die Schlussanträge des Generalanwalts entsprechen der in Deutschland ohnehin herrschenden Rechtspraxis. Denn die Entscheidung des Richtliniengebers, dem Geschädigten den Nachweis des Produktfehlers aufzuerlegen, schließt nicht aus, die allgemeinen, von der Rechtsprechung etwa im Rahmen der deliktischen Haftung entwickelten Beweiserleichterungen heranzuziehen. Hiernach ist beispielsweise anerkannt, dass bei typischen Geschehensabläufen ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Produktfehler und Rechtsgutsverletzung im Wege des Anscheinsbeweises festgestellt werden kann.
Der sogenannte Beweis des ersten Anscheins ist im Gesetz nicht direkt geregelt, inzwischen aber gewohnheitsrechtlich anerkannt. Greift er ein, ermöglicht er der beweisführungsbelasteten Partei eine Beweiserleichterung: Eine im Sachverhalt bestehende Lücke wird gefüllt, indem das Gericht im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung etwa auf die allgemeine Lebenserfahrung abstellt und den Sachverhalt darauf untersucht, ob er nach den Regeln des Lebens und nach der Erfahrung vom Üblichen und Gewöhnlichen typisch für einen bestimmten Geschehensablauf ist.
Ist dies der Fall, so sorgt diese sogenannte Typizität für die erforderliche richterliche Überzeugung im konkreten Fall. Voraussetzung für das Eingreifen des Anscheinsbeweises ist also das Vorliegen eines typischen Geschehensablaufs, sprich eines Sachverhalts, bei dem sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung und nach dem festgestellten Gesamtgeschehen auf eine bestimmte Ursache, Wirkung oder ein bestimmtes Verhalten schlussfolgern lässt. Oder wie es der Generalanwalt ausdrückt: Es dürfen nur Vermutungen herangezogen werden, die auf Beweismitteln beruhen, die sowohl relevant als auch streng genug sind, um die gezogenen Schlussfolgerungen zu stützen.
Keine Erleichterung, wenn Gegner widerlegen kann
Greift diese Art der Beweisvermutung ein, kehrt dies die Beweislast aber nicht um, es erleichtert sie nur. Auch Generalanwalt Bobek betont, dass eine etwaige Beweisvermutung widerlegt werden kann. Dies ist herkömmlicherweise dann der Fall, wenn der Gegner seinerseits Tatsachen belegen kann, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs ergibt.
In diesem Fall bleibt es dann bei der vollen Beweislast für den Geschädigten. Wann konkret eine solche "ernsthafte Möglichkeit" eines anderen Geschehensablaufs anzunehmen ist, ist wiederum Frage des Einzelfalls. Es muss sich jedenfalls um eine naheliegende und nicht nur äußerst unwahrscheinliche Möglichkeit handeln.
Die Empfehlungen des Generalanwalts sind aus produkthaftungsrechtlicher Sicht zu begrüßen. Die Vorgaben der Produkthaftungsrichtlinie, den Geschädigten mit der (zumindest grundsätzlichen) Nachweispflicht zu belasten, sind aber zu respektieren und sollten nicht ohne Not rückgängig gemacht werden. Korrektive im Einzelfall, wie etwa durch die Grundsätze des Anscheinsbeweises, stehen bereits zur Verfügung.
Prof. Dr. Tobias Lenz ist Partner der Kanzlei Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB in Köln und Direktor des Instituts für Haftungs- und Versicherungsrecht an der Rheinischen Fachhochschule in Köln.
Mike Weitzel ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Versicherungsrecht in der Kanzlei Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB in Köln und Dozent an der Hagen Law School An-Institut der Fern-Universität Hagen für Versicherungsrecht.
Prof. Dr. Tobias Lenz und Mike Weitzel, Generalanwalt zur Beweislastverteilung bei Produkthaftung: Keine Umkehr, aber große Erleichterung . In: Legal Tribune Online, 07.03.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22302/ (abgerufen am: 24.04.2024 )
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