Klima, Flüchtlinge, oppositionelle Abgeordnete: Der EGMR befasste sich 2020 oft mit hochpolitischen Themen. Entsprechend häufig trat sogar die Große Kammer zusammen.
Gleich Mitte Februar ließ der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einer lang erwarteten Entscheidung die erste Bombe platzen: Spanien durfte Migranten an der Grenze seiner Enklave Melilla an der nordafrikanischen Mittelmeerküste zurückweisen. Dort hatten zuvor etwa 80 afrikanische Männer versucht, die drei jeweils drei bis sechs Meter hohen Zäune zu überwinden, um in Mellila einen Asylantrag nach europäischem Recht stellen können.
Die Polizei, die auf der spanischen Seite bereits auf die herabklettenden Männer wartete, setzte diese fest und führte sie durch die Türen in den Zäunen direkt zurück auf marrokkanisches Staatsgebiet – ohne sie anzuhören, Personalien aufzunehmen oder sonst irgendetwas mit ihnen zu tun. Eine solche direkte Rückführung wird “Push-Back” genannt.
Dagegen klagten zwei der zurückgeführten Männer vor dem EGMR. Wegen der großen Bedeutung der Frage war die mit 17 Richterinnen und Richtern besetzte Große Kammer des Gerichtshofs befasst. Und die entschieden: Spaniens Push-Backs waren rechtmäßig - obwohl im Vorfeld zahlreiche Beobachter mit einer Niederlage für den EU-Staat gerechnet hatten.
Die Begründung des EGMR: Die Push-Backs seien als – wenngleich harte – Redaktion auf das zuvor unrechtmäßige Handeln der Männer zu bewerten. Sie hätten nach Ansicht der Großen Kammer auch den legalen Weg zur Stellung des Asylantrags nehmen können - nämlich den zur vom Ort des Geschehens nur gut 13 Kilometer entfernten Botschaft.
Im Dezember entschied die Große Kammer des EGMR, dass Selahattin Demirtas umgehend freizulassen ist. Bereits 2018 hätte der türkische Oppositionspolitiker nach einem Urteil des EGMR freigelassen werden sollen, die Türkei setzte die Entscheidung aber nicht um.
Der Oppositionspolitiker spielte eine große Rolle, als es 2017 um das Referendum für die Einführung des Präsidialsystems in der Türkei und 2018 um die Präsidentenwahl ging. Demirtas’ Anwalt sagte, sein Mandant sei aus politisch-taktischen Gründen verhaftet worden, um die pluralistische Meinungsbildung in diesen Schlüsseljahren zu unterbinden.
Zusätzlich zur angeordneten Freilassung verurteilten die 17 Richterinnen und Richter die Türkei zu vergleichsweise hohen Entschädigungszahlungen an Demirtas: Wegen massiver Eingriffe in das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf Freiheit und Sicherheit muss das Land dem Politiker über 60.000 Euro zahlen.
"Junge Portugiesen verklagen 33 Länder wegen des Klimawandels vor dem EGMR" - eine Meldung von Anfang September, der man auf den ersten Blick mehr symbolische denn tatsächliche Wirkung zusprechen mag. Die Kinder und Jugendlichen wollen mit der Klage erreichen, dass die beklagten Länder, darunter auch Deutschland und viele andere EU-Staaten, sich ambitioniertere Klimaschutzziele stecken und diese vor allem zügiger als bisher geplant umsetzen.
Doch dann entschied der Gerichtshof Ende November: Die Klage wird zugelassen. Und nicht nur das: Wegen der besonderen Dringlichkeit der Sache räume man dem Anliegen höchste Priorität ein. Das heißt, jetzt sind die Regierungen der beklagten Staaten am Zug: Sie müssen bis Mitte Februar Stellung zu den Vorwürfen nehmen, sie täten zu wenig für den Klimaschutz und das auch noch zu langsam.
In Interviews gaben die klagenden Portugiesen an, 2017 während der verheerenden Waldbrände in ihrem Heimatland besonders gespürt zu haben, wie betroffen sie vom Klimawandel seien. Unterstützt werden sie bei ihrer Klage vom Global Legal Action Network, einer gemeinnützigen Organisation, die taktische Prozessführung mit menschenrechtlichem Bezug betreibt.
Es ist ein alter Zankapfel, der den EGMR in einer Entscheidung von Mitte Oktober erneut beschäftigte: Kann eine Verurteilung rechtmäßig sein, die wegen einer Tat erging, die zuvor selbst in rechtswidriger Weise durch V-Leute provoziert worden war?
In Sachen Agent provocateur entschied der Gerichtshof, der Deutschland schon in der Vergangenheit deswegen verurteilt hatte: Nein, eine solche Verurteilung verstößt gegen das Recht auf ein faires (Straf-)Verfahren. Die Bundesrepublik muss der Frau des mittlerweile verstorbenen Täters und dessen Mittäter insgesamt rund 22.000 Euro Entschädigung zahlen.
Der Fall landete vor dem EGMR, nachdem 2014 auch das Bundesverfassungsgericht die ergangenen Verurteilungen trotz der unzweifelhaft vorangegangenen Provokation zur Tat nicht beanstandet hatte. Das Verfahren wirft erneut die Frage auf: Reagiert der deutsche Gesetzgeber irgendwann – und wenn ja, wann?
Zensur könne man das zwar noch nicht nennen, befand der EGMR im Juni. Russlands Informationsgesetz, das den Behörden unter anderem gestattet, Internetseiten abzuschalten, kritisierten die Straßburger Richterinnen und Richter trotzdem heftig. Sie entschieden, dass die russische Opposition in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt worden ist, als Russland diverse ihrer Internetseiten sperren ließ.
Erstens, so der EGMR, sei die Abschaltung einer Internetseite schon ein großer staatlicher Eingriff, und zweitens seien im Informationsgesetz keine Mechanismen vorgesehen, die den Missbrauch des Gesetzes verhinderten.
Tatsächlich wurden von der zuständigen russischen Behörde bereits Hunderte Internetseiten gesperrt, sie sind damit im Land nicht mehr aufrufbar. Das betrifft nicht nur die Opposition wie in diesem Fall, sondern teils auch deren Unterstützer wie etwa den Ex-Schachweltmeister und bekennenden Kreml-Kritiker Garri Kasparow. Internationale Organisationen beklagen seit langem die Einschränkung der Meinungsfreiheit im Land, die unter anderem durch das umstrittene Informationsgesetz gefördert werde.
Sollte man kennen: 5 wichtige EGMR-Entscheidungen aus 2020 . In: Legal Tribune Online, 02.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43870/ (abgerufen am: 24.04.2024 )
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