Der Brexit könnte andere EU-Länder zum Gehen animieren. Immerhin: Die aktuelle deutsche Verfassung lässt einen EU-Austritt der Bundesrepublik ebenso wenig zu wie die Abspaltung eines einzelnen Bundeslands, erklärt Mike Wienbracke.
Im rechtlich nicht bindenden Referendum vom 23. Juni 2016 hatte eine Mehrheit von 51,9 Prozent der abstimmungsberechtigten Briten für einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU, den sogenannten Brexit, votiert. Während die schottische Regionalregierung hieraufhin bekanntgab, ihrerseits ein zweites Referendum über die Sezession von Großbritannien vorzubereiten (Scoxit), damit Schottland sodann als eigenständiger Staat nach Art. 49 Vertrag über die Europäische Union (EUV) gegebenenfalls der EU beitreten kann, werden derzeit insbesondere die Niederlande als weiterer potentieller Brexit-Nachahmer gehandelt.
Wäre neben einem etwaigen Nexit bei entsprechender politischer Stimmungslage auch ein Austritt der Bundesrepublik Deutschland aus der EU – und damit zugleich aus dem Euro-Währungsgebiet (Eurozone) – aber rechtlich überhaupt möglich? Und dürfte ein einzelnes Bundesland einseitig aus dem deutschen Bundesstaat austreten (zum Beispiel Bayern, Bayxit)?
Europarecht erlaubt EU-Austritt, Grundgesetz verbietet ihn
Nach Art. 50 Abs. 1 EUV kann jeder Mitgliedstaat aus der EU austreten. Europarechtlich ist dieses Austrittsrecht an keine materiellen Voraussetzungen geknüpft. Diese richten sich vielmehr nach den verfassungsrechtlichen Vorschriften des betreffenden Mitgliedstaats; lediglich das Austrittsverfahren ist in Art. 50 Abs. 2-4 EUV normiert. In diesem mithin freien, einseitigen Kündigungsrecht kommt die auch nach erfolgtem Beitritt zum europäischen Staatenverbund fortbestehende Souveränität der Mitgliedstaaten als Herren der europäischen Verträge zum Ausdruck, die hierdurch zunächst eingegangene Selbstbindung wieder umzukehren.
"Verfassungsrechtliche Vorschrift" im Sinne von Art. 50 Abs. 1 EUV ist aus deutscher Sicht Art. 23 Grundgesetz (GG). Dessen Absatz 1 Satz 1 bestimmt, dass die Bundesrepublik Deutschland unter den dort genannten Bedingungen zur Verwirklichung eines vereinten Europas bei der Entwicklung der EU "mitwirkt". Die europäische Integration Deutschlands steht daher keinesfalls im politischen Belieben der deutschen Staatsorgane, sondern es handelt sich hierbei vielmehr um ein durch den Verfassungsgeber vorgegebenes Staatsziel. Allerdings bedeutet "Mitwirkung" bereits dem Wortsinn nach nicht zugleich zwingend (Voll-)"Mitgliedschaft". Ein vereintes Europa vermag ohnehin nicht einseitig erzwungen zu werden.
Die Politik verfügt folglich über einen gewissen Gestaltungsspielraum dahingehend, wie sie den an sie gerichteten Verfassungsauftrag des "Ob" der Mitwirkung Deutschlands an der EU erfüllt. Jedenfalls ein völlig grundloser EU-Austritt wird aber im Schrifttum als Beispiel für einen Verstoß gegen Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG genannt (würden dessen Vorgaben kontinuierlich durch die EU missachtet, so bestünde umgekehrt hingegen gar eine Verfassungspflicht zu einem Austritt Deutschlands aus dieser). Wäre ein Dexit gleichwohl beabsichtigt, so müsste diese Bestimmung deshalb zuvor gem. Art. 79 GG geändert werden. Dies wäre nach dessen Absatz 2 mit einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat möglich, da Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG geschützt wird.
Lägen die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Dexit vor, so stellt sich die weitere Frage, wer für die Entscheidung über diesen actus contrarius zum ursprünglichen Beitritt, die ebenfalls der Verbandskompetenz des Bundes unterfällt, zuständig ist. Während der Bundespräsident den Bund nach Art. 59 Abs. 1 S. 1 GG völkerrechtlich lediglich repräsentiert, liegt die Zuständigkeit für die innerstaatliche Willensbildung im Bereich der auswärtigen Gewalt im Allgemeinen bei der Bundesregierung beziehungsweise bei Bundestag und Bundesrat. Speziell für den EU-Austritt wird ein in die Organkompetenz der beiden Letztgenannten fallendes verfassungsänderndes Gesetz nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG gefordert.
2/2 Auch kein Plebiszit über einen Dexit
In keinem Fall aber ist auf Grundlage des geltenden Verfassungsrechts das Volk selbst befugt, über die Sachfrage eines EU-Austritts (beziehungsweise ein entsprechendes Gesetz, sogenanntes Referendum) in einer Abstimmung rechtsverbindlich zu entscheiden. Dies nicht etwa wegen der Thematik als solcher, sondern vielmehr deshalb, weil nach dem Grundgesetz auf Bundesebene jegliche plebiszitäre Elemente grundsätzlich unzulässig sind.
Das gilt nicht nur für den Volksentscheid als solchen, sondern auch für das auf die Durchführung einer Volksabstimmung gerichtete Volksbegehren, die auf die Herbeiführung einer Parlamentsentscheidung abzielende Volksinitiative und nach umstrittener Auffassung – trotz fehlender Rechtsverbindlichkeit – ebenfalls für die offizielle (konsultative) Volksbefragung als weiterer Erscheinungsform der unmittelbaren (direkten) Demokratie.
Zwar wird die Staatsgewalt nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG ebenfalls in "Abstimmungen" ausgeübt. Doch sieht das Grundgesetz außerhalb seiner Art. 29, 118, 118a und 146 betreffend die Neugliederung des Bundesgebiets beziehungsweise den Erlass einer neuen Bundesverfassung Abstimmungen nicht vor. Dies nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund entsprechender Erfahrungen unter der Weimarer Reichsverfassung.
In den grundgesetzlichen Vorschriften der Art. 76 ff. ist eine "Volksgesetzgebung" daher gerade nicht vorgesehen. Vielmehr liegt dem Grundgesetz das Prinzip der mittelbaren (indirekten) oder auch repräsentativen Demokratie zugrunde, wonach die Staatsgewalt durch besondere, vom Volk gewählte Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird, siehe Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG.
Anders als auf Ebene der deutschen Bundesländer der Fall, deren Verfassungen in Einklang mit dem Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG auf den der Länderkompetenz zugehörigen Gebieten sämtlich Elemente der unmittelbaren Demokratie explizit vorsehen, dürfen Volksentscheide, -abstimmungen, -begehren, -initiativen und -befragungen auf Bundesebene somit nur nach vorheriger Verfassungsänderung gem. Art. 79 GG durchgeführt werden ("Verfassungsvorbehalt").
Einzelne Bundesländer können nicht aus der Bundesrepublik austreten
Ebenso prinzipieller Natur sind schließlich die Erwägungen, aus denen heraus ein einseitiges Austrittsrecht eines deutschen Bundeslands aus der Bundesrepublik Deutschland zu verneinen ist. Wenngleich eine ausdrückliche Regelung hierzu im Grundgesetz fehlt, dessen Präambel in ihrem Satz 2 die 16 Bundesländer namentlich aufführt und dessen Art. 23 in Satz 2 seiner bis zur Wiedervereinigung geltenden Ursprungsfassung von 1949 ein einseitiges Beitrittsrecht anderer als der bereits in dessen Satz 1 genannten Teile Deutschlands vorsah, so handelt es sich bei der Bundesrepublik Deutschland gleichwohl nicht um einen völkervertraglichen und als solchen von den einzelnen Mitgliedstaaten aufkündbaren Zusammenschluss in Gestalt eines Staatenbunds, etwa nach dem Vorbild des Deutschen Bundes (1815-1866), sondern vielmehr gem. Art. 20 Abs. 1 GG um einen "Bundesstaat".
In diesem staatsrechtlich durch das Grundgesetz verfassten Gebilde besteht die Staatlichkeit der einzelnen Gliedstaaten zwar neben derjenigen des durch diese Verbindung geschaffenen Zentralstaats "Bund" weiterhin fort. Allerdings sind die Bundesländer diesem untergeordnet und verfügen nicht mehr über eine eigene Souveränität.
Auch kein Umweg über das Völkerrecht
Auf das in Art. 1 Nr. 2 und Art. 55 der UN-Charta anerkannte Selbstbestimmungsrecht der Völker, welches gem. Art. 25 S. 1 GG als "allgemeine Regel des Völkerrechts" Bestandteil des Bundesrechts ist, vermag sich ein einzelnes deutsches Bundesland ebenfalls nicht mit Erfolg zu berufen. Denn unabhängig davon, um welches es sich im konkreten Fall genau handeln sollte, dürfte es sich bei dem jeweiligen Landesvolk zum einen bereits nicht um ein "Volk" im Sinne der vorgenannten Artikel der UN-Charta handeln. Denn unter diesen Begriff werden im Wesentlichen nur rassische, religiöse oder sprachliche Minderheiten gefasst.
Zum anderen beträfe die Abspaltung eines Bundeslands aber auch nicht nur dessen Belange, sondern zugleich ebenfalls diejenigen des Gesamtstaats (namentlich dessen territoriale Integrität) – weshalb bereits die in der Völkerrechtslehre vorherrschende Meinung der Existenz eines aus dem Selbstbestimmungsrecht resultierenden Rechts zur Sezession kritisch gegenübersteht ("absoluter Ausnahmecharakter"). Jedenfalls aber bedürfte eine solche wohl eines Mitwirkungsakts des Bundes in Gestalt einer Verfassungsänderung nach Art. 79 GG.
Damit wäre sowohl ein Dexit als auch ein Bayxit à la Brexit beziehungsweise Scoxit de constitutione lata verfassungswidrig.
Der Autor Prof. Dr. iur. Mike Wienbracke, LL. M. (Edinburgh) lehrt Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Verwaltungsrecht sowie Europarecht am Fachbereich Wirtschaftsrecht der Westfälischen Hochschule. Zudem ist er Dozent an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management.
Prof. Dr. iur. Mike Wienbracke, LL. M. (Edinburgh), EU-Austritt: Dexit und Bayxit wären verfassungswidrig . In: Legal Tribune Online, 24.08.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20364/ (abgerufen am: 28.05.2023 )
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