Darf die britische Premierministerin eine Mitteilung über den Austritt aus der EU ohne Zustimmung des Parlaments abgeben? John Hammond erklärt das Verfahren vor dem Supreme Court und mögliche Auswirkungen auf Brexit-Verhandlungen.
Seit Montag wird beim britischen Supreme Court das sogenannte Brexit-Verfahren verhandelt. Am Obersten Gericht soll darüber entschieden werden, ob die britische Premierministerin Theresa May die Austrittsverhandlungen selbständig durch eine Austrittsmitteilung gemäß Art. 50 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) in Gang setzen darf, oder ob sie dafür vorher die Zustimmung des britischen Parlaments benötigt.
Kläger im Verfahren war zunächst eine Gruppe von Privatpersonen um die Fondsmanagerin Gina Miller, der sich nach erfolgreichem erstinstanzlichen Verfahrensausgang beim High Court unter anderem die Regierungen aus Schottland, Wales und Nordirland angeschlossen haben. Der Fall ist politisch höchst brisant: Sollte Theresa May im Berufungsverfahren abermals unterliegen, so könnte dies nicht nur ihren Brexit-Zeitplan beeinflussen, sondern auch eine schwere politische Krise hervorrufen.
Zunächst eine Frage für Jurastudenten im ersten Semester
Die im Gerichtsverfahren diskutierte, an sich relativ simple rechtliche Frage lautet, ob die Regierung (die im Vereinigten Königreich auch "the Crown" genannt wird) auf Basis ihrer prärogativen Befugnisse (prerogative power) - die sie ohne die Zustimmung des Parlaments ausüben kann - die Mitteilung zum Austritt aus der Europäischen Union (EU) für das Vereinigte Königreich abgeben kann. Selbst die Regierung räumt ein, dass der Austritt aus der EU weitreichende Auswirkungen auf nationales Recht in sämtlichen Rechtsordnungen des Vereinigten Königreichs haben wird. Kernfrage der Debatte ist daher, ob die britische Regierung nationales Recht ohne parlamentarische Zustimmung ändern kann.
An sich könnte diese Frage von jedem britischen Jurastudenten im ersten Semester beantwortet werden: Auf Basis der sogenannten Parlamentssouveränität im Vereinigten Königreich haben mit der Zustimmung beider Häuser des Parlaments von der Regierung erlassene Gesetze den höchsten Rang.* Das Parlament kann Gesetze in selbst gewählter Art und Weise erlassen und ändern. Vom Parlament verabschiedetes Primärrecht kann nicht von einer Regierungsentscheidung geändert werden, die Regierung ist damit diesbezüglich dem Parlament untergeordnet.
Der High Court zitierte im Brexit-Verfahren den berühmten englischen Richter Sir Edward Coke, der im Jahre 1610 schrieb, dass "der König weder durch Proklamation noch in anderer Weise legitimiert ist, das common law, geschriebenes Recht oder Gewohnheitsrecht zu ändern".
Die Schwierigkeit sind die Staatsverträge
Die Schwierigkeit ergibt sich nunmehr daraus, dass gemäß britischem Verfassungsrecht die Regierung die Befugnis hat, (Staats-)Verträge mit ausländischen Regierungen zu verhandeln und abzuschließen. Die Staatsverträge, durch die das Vereinigte Königreich EU-Mitglied wurde, sind internationale Staatsverträge, und sowohl Abschluss als auch Beendigung dieser Staatsverträge ist eine Angelegenheit der Regierung und nicht des Parlaments.
Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist allerdings mehr als eine Angelegenheit internationaler Staatsverträge. Bevor das Vereinigte Königreich 1973 Mitglied der EU wurde, erließ es den European Communities Act, durch den das EU-Recht in UK umgesetzt wird. EU-Recht umfasst Richtlinien, Verordnungen und Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). EU-Richtlinien bedürfen spezieller Umsetzungsgesetze in den Mitgliedstaaten; Verordnungen und EuGH-Rechtsprechung dagegen gelten in den Mitgliedstaaten unmittelbar.
Die sich aus EU-Recht ergebenden und im Vereinigten Königreich geltenden Rechte waren Kernpunkt der Entscheidung des High Court, die Auswirkung einer Austrittsmitteilung nach Art. 50 EUV auf diese Rechte war entscheidend für die Beurteilung.
*hier stand zunächst: Auf Basis der sogenannten Parlamentssouveränität im Vereinigten Königreich haben von der Regierung erlassene Gesetze den höchsten Rang, da sie mit der Zustimmung beider Häuser des Parlaments verabschiedet wurden. (geändert am 19.12.2016, 11.45 h)
2/2: Mitteilung führt zum zeitnahen Austritt
Nach Einleitung des Austrittsverfahrens haben das austretende Land und die übrigen Mitglieder zwei Jahre Zeit, um das Austrittsabkommen auszuhandeln. Ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens, oder – falls bis dahin keine Vereinbarung abgeschlossen wurde – zwei Jahre nach Abgabe der Austrittsmitteilung, finden die EU-Verträge keine Anwendung mehr auf den austretenden Staat. Es sei denn, alle EU-Mitgliedstaaten beschließen einstimmig, diese Frist zu verlängern.
Sobald die Austrittsmitteilung in der Welt ist, muss also der austrittswillige Staat zwangsläufig zeitnah die EU verlassen. Für das Vereinigte Königreich bedeutet der Austritt aus der EU, dass der European Communities Act 1972 vollständig aufgehoben wird. Damit werden britische Staatsbürger ihre aktuell durch das EU-Recht gewährten Rechte verlieren, die bis dahin nicht in britisches nationales Recht überführt wurden.
Dieser Umstand war Kern des vor dem High Court verhandelten Falls, und die drei Richter dort waren einstimmig der Meinung, dass eine Austrittsmitteilung nach Art. 50 EUV zwangsläufig dazu führen wird, dass britische Bürger aktuell gewährte Rechte verlieren, die ihnen nur durch das Parlament entzogen werden können. Die Urteilsbegründung bezog sich dabei ausdrücklich auf die oben dargestellten fundamentalen Prinzipien des britischen Verfassungsrechts.
"Regierung argumentiert technisch und spitzfindig"
Das Urteil des High Court ist hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Grundlagen sehr deutlich und klar. Welche Chancen also kann die Regierung haben, bei den elf Richtern des Supreme Court eine Aufhebung zu erwirken?
In der Berufungsbegründung argumentiert die Regierung weiterhin damit, dass die auf EU-Ebene geschaffenen Rechte und Pflichten nur auf Basis der EU-Verträge existieren und deswegen davon abhängen, ob und wie diese Verträge bestehen. Eben diese Verträge könnten aber von der britischen Regierung selbst geändert oder beendet werden.
Diese Begründung ist eher technisch und spitzfindig und übersieht nach Meinung einiger Kommentatoren den Einfluss des EU-Rechts auf das verfassungsrechtliche Gefüge des Vereinigten Königreichs und der prärogativen Befugnisse.
Daneben wird von der Regierung argumentiert, dass das dem Referendum zugrunde liegende Gesetz als verfassungsmäßige Grundlage für die Umsetzung des Referendums durch die Regierung anzusehen sein sollte. Allerdings gehen Verfassungsrechtler ganz überwiegend davon aus, dass das Referendum lediglich als beratendes Referendum ausgestaltet und legitimiert war, so dass die Regierung rechtlich nicht zur Umsetzung verpflichtet (und berechtigt) ist – auch wenn sie sich politisch und moralisch zu seiner Umsetzung verpflichtet fühlen mag.
Parlament wird Austrittsverhandlungen nicht blockieren
Die Argumente werden vom Supreme Court in den nächsten Tagen diskutiert; eine Entscheidung ist allerdings wahrscheinlich erst Ende des Jahres oder Anfang Januar zu erwarten. Falls die Regierung keinen Erfolg mit ihrem Vorgehen gegen das Urteil des High Court hat, wird Theresa May die Zustimmung des Parlaments einholen müssen, bevor sie den Austrittsprozess starten kann.
Das würde einen herben politischen Schlag für sie bedeuten und dazu führen, dass sie ihre Politik zwangsläufig ändern muss. Aktuell äußert sie sich nicht zu ihrer Exit-Strategie und den verfolgten Zielen. Eine Parlamentsbeteiligung würde allerdings zu einer Diskussion im Parlament und Zustimmung desselben führen. Im aktuellen politischen Umfeld erwartet allerdings niemand, dass das Parlament tatsächlich die Austrittsmitteilung blockiert – das könnte zu einer verfassungsrechtlichen Krise und höchstwahrscheinlich auch zu Neuwahlen führen.
Aber allein die Notwendigkeit einer Parlamentszustimmung wird politische Spannungen hervorrufen, die wahrscheinlich auch dazu führen werden, dass die Austrittsmitteilung nicht wie geplant Ende März 2017 erfolgen wird und sich damit auch die Austrittsverhandlungen zeitlich nach hinten verschieben werden.
Der Autor John Hammond ist britischer Rechtsanwalt (Solicitor) und Partner bei CMS in Deutschland. Er ist auf internationale M&A-Transaktionen einschließlich Private Equity und Joint Ventures spezialisiert.
John Hammond, Brexit-Verfahren in der zweiten Instanz: Nicht ohne das Parlament? . In: Legal Tribune Online, 06.12.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21369/ (abgerufen am: 27.04.2024 )
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