Heute darf nicht nur Starlight Express nicht aufgeführt werden. Martin Rath bemitleidet den Richter, der durch Inaugenscheinnahme herausfinden und den Senatskollegen vermitteln musste, dass die singenden Lokomotiven auf Rollschuhen für einen stillen Feiertag zu lebensfroh sind. Überhaupt verdient der Totensonntag mehr juristisch-theologische Aufmerksamkeit. Eine Glosse.
Über Geschmack soll man angeblich nicht streiten. Muss man deshalb über das eigene ungläubige Staunen schweigen? Musicals von Andrew Lloyd Webber sind beispielsweise geeignet, Erstaunen auszulösen, möglichweise allein schon wegen ihrer süßlichen Musik und einfältigen Handlung. Vor allem erstaunen sie aber, weil sie – einmal inszeniert – gar nicht mehr von der Bühne verschwinden wollen.
"Starlight Express" ist so ein Fall: Das Musical handelt von singenden Lokomotiven, die einander einen Wettkampf sportlicher und moralischer Art bieten. 1984 wurde dieses merkwürdige Drama zunächst in London aufgeführt. Seit 1988 werden in Bochum Künstler genötigt, das Stück rollschuhlaufend darzubieten. Lokomotiven-Darsteller auf Rollschuhen – man fragt sich, wo eine Gewerkschaft mit Streikwünschen bleibt, wenn sie einmal gebraucht würde, um dem echten Schrecken der Arbeitswelt in die Räder zu greifen.
An den stillen Feiertagen aber, also auch am Totensonntag, bleibt es beim gesetzlichen Verbot des Musicals. Immerhin dafür sorgte mit Urteil vom 7. Oktober 1993 das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG Münster, Az. 4 A 3101/92). Wenigstens ein bisschen Ruhe: Nach Ablösung eines noch strikteren Verbotskatalogs aus den 1950er-Jahren sind in Nordrhein-Westfalen seit 1976 an den meisten "stillen Feiertagen" zwischen 5 Uhr morgens und 18 Uhr am Abend "Volksfeste und alle anderen der Unterhaltung dienende öffentliche Veranstaltungen einschließlich Tanz" verboten.
Damit fällt die Nachmittagsvorstellung der singenden Lokomotiven am Totensonntag aus, wogegen sich der Musicalveranstalter vor der nordrhein-westfälischen Verwaltungsgerichtsbarkeit mit dem Argument wehrte, es handle sich um eine künstlerische Darbietung, die an den weniger strikt gehandhabten stillen Feiertagen – allen außer Karfreitag – auf die Bühne gebracht werden dürfte.
Da weiß man, wofür man die föderale Ordnung hat
Das Verbot, an stillen Feiertagen mit Geräusch verbundene öffentliche Spaß-Veranstaltungen zu inszenieren, gibt eines der gar nicht wenigen Beispiele für die Fragwürdigkeit des sogenannten Wettbewerbsföderalismus.
§ 10 Feiertagsgesetz Baden-Württemberg sieht etwa den Stillstand aller Lustbarkeiten von 3 bis 24 Uhr vor, an gewöhnlichen Sonntagen von 3 bis 11 Uhr. Berlin regelt auf dem Verordnungsweg die Spaßfreiheit von 4 bis 21 Uhr. Das einst strikt protestantische Bremen kennt die Tanz- und Trubelruhe im vergleichsweise toleranten Rahmen von 6 bis 17 Uhr. Bayern verbietet Lustbarkeiten zwischen 2 und 24 Uhr – da weiß man, wofür man die föderale Ordnung hat.
Das Urteil des OVG Münster erklärte 1993 jedenfalls den Willen des NRW-Gesetzgebers: An stillen Feiertagen zu den genannten Uhrzeiten sowie an den übrigen Sonntagen zur Hauptgottesdienstzeit unzulässig seien allerlei künstlerische Veranstaltungen, die der Unterhaltung dienen, es sei denn, es handele sich "um eine Darbietung ernsten Charakters". Das Gericht stellte damals zu "Starlight Express" fest, dass sich "die Botschaft des Stücks (zwar) durchaus zur inneren Einkehr nutzen" lasse, jedoch sei zu viel Lebensfreude enthalten: "Ein Bezug zu den Feiertagen, die den Toten gewidmet sind, ist jedoch nicht ohne weiteres erkennbar."
Eine Mischung aus Mitleid und Verwunderung durchfährt den Leser des Starlight-Express-Urteils. Mitleid für den Richter erweckt die Aussage, dass sich "der Berichterstatter durch Einnahme des richterlichen Augenscheins" ein Kunst-Urteil über das Musical verschafft habe, also unverschlossener Augen und Ohren zweieinhalb Stunden lang singenden und rollschuhrollenden Eisenbahn-Darstellern beiwohnen musste. Der Richter habe den Augenschein "den anderen Senatsmitgliedern vermittelt", dass "dieses Musical in wesentlichen Teilen von der mit großem Tempo vorgetragenen Art der Darstellung (lebt)". Diese Auskunft des Urteils verwundert. Wie das gegangen sein mag? Wie "vermittelt" ein Richter am Oberverwaltungsgericht diesen "Augenschein"? Mit Rollschuhen und Gesang im Besprechungsraum?
Das Gesetz wünschte innere Einkehr
Immerhin konnte, so heißt es im Urteil weiter, der Berichterstatter zeigen, dass die "grellen Kostüme und Masken sowie entsprechende Lichteffekte" und "ein hohes Maß an Bewegung und Unruhe" es unmöglich machten, zu einer dem Totensonntag entsprechenden "inneren Einkehr" zu kommen.
Wer Richter eines deutschen Oberverwaltungsgerichts sein möchte, lässt sich daraus schließen, muss genügend Opferwillen für sein Amt aufbringen, Andrew-Lloyd-Webber-Musicals zu besuchen, um die rechtsunterworfenen Bürger davor zu bewahren, in eine Veranstaltung zu geraten, die nicht der "inneren Einkehr" beziehungsweise dem Totengedenken dient.
Im Übrigen kann man davon ausgehen, dass Verwaltungsrichter ein offenes Ohr für das Anliegen des Gesetzgebers haben, an einigen wenigen Tagen im Jahr nicht zu viel Lebensfreude aufkommen zu lassen. Mit Ausdrucksformen offener Todessehnsucht möchte man aber andererseits offenbar auch nicht viel zu tun haben, obwohl doch die diversen deutschen Feiertage, die ein dem Totengedenken dienendes Spaßverbot vorgeben, etwas anderes zu sagen scheinen. Wie sind Totengedenken und Todeskult zu unterscheiden?
2/2: Totengedenken ist rechtlich kein Todeskult
Im Verfahren um das Verbot der sogenannten „libanesischen Hisbollah“ dokumentiert das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim (v. 25.5.2011, Az. 11 S 308/11) ein interessantes Argument. Den Hisbollah-Herrschaften war vorgeworfen worden, einen "Gewalt und Terror verherrlichenden Märtyrerkult" zu pflegen.
Aus dem schiitischen Islam, der religiösen Quelle der Hisbollah, den Märtyrerkult herausrechnen zu wollen, wäre zwar ungefähr so sinnlos wie der Versuch, vom polnischen Katholizismus den Marienkult abzuziehen. Geschickter versuchten die Anwälte in Mannheim zu relativieren: "Wenn bis heute etwa auch in Deutschland am Totensonntag v.a. der deutschen Gefallenen der vergangenen Kriege einschließlich der des von Deutschland vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkriegs gedacht werde", stelle dies "auch keinen Gewalt und Terror verherrlichenden Märtyrerkult dar."
Gegen diesen Relativierungsversuch konnte die Behördenseite belegen, dass die Hisbollah-Herrschaften für eine Kultur der Todessehnsucht werben, in der schon Kindergartenkindern der Märtyrertod schmackhaft gemacht wird – was sich selbst dem tanz- und musicalwütigsten Menschen doch als substanzieller Unterschied zu mehr oder weniger zwanghafter Formen des Totengedenkens darstellen dürfte.
Engere Totensonntagslehre für juristische Zwecke
Musik, Tanz und Todesfragen sind im Übrigen mit dem Totensonntag verwoben, seit dieser Feiertag im 19. Jahrhundert festgesetzt wurde. Gern wird in evangelischen Kirchen am Totensonntag das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen zum Gegenstand gemacht, eine Fabel, die Jesus von Nazareth laut Neuem Testament (Matthäus 25, 1-13) zur moralischen Erbauung erzählt haben soll.
Das Gleichnis lässt sich für juristische Zwecke verwenden: Zehn junge Frauen warten in der Dunkelheit eines noch nicht elektrifizierten orientalischen Dorfes auf eine Hochzeitsgesellschaft. Fünf haben ausreichend Lampenöl dabei, fünf andere nicht. Als der Bräutigam kommt, dürfen die beleuchteten Damen mit in den Festsaal, die unbeleuchteten bleiben von der Party ausgeschlossen. Die Öl bewirtschaftenden Jungfrauen gelten als klug, die Damen ohne Öl als töricht. Der Bräutigam verhöhnt die ausgeschlossenen Frauen sogar, als diese endlich doch noch vor der Tür um Einlass betteln.
Für diese etwas unangenehme Geschichte, die zwar nicht von Andrew Lloyd Webber, dafür aber von Johann Sebastian Bach vertont wurde (BWV 140), gibt es mindestens zwei theologische Deutungen, an die sich für den juristischen Moralbedarf anschließen lässt. Eine gängige theologische Auslegung behauptet, der Bräutigam stehe für den Messias, der Festsaal für das Himmelreich, die beiden Jungfrauen-Fraktionen für die mehr oder weniger klug auf eine finale Entscheidung vorbereiteten Menschen. Eine Frist einzuhalten oder einen Fall zu verlieren – das kennt der gemeine Jurist natürlich vom Umgang mit Terminsachen, von Präklusionsfristen oder Säumnisurteilen.
Theologische Präklusionsfristen für Rechtsanwaltsfachangestellte
Interessant am Gleichnis ist die theologische Zuspitzung: Wer den Termin nicht einhält, wird der ewigen Verdammnis überantwortet, ohne jede Chance auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand oder eine übergeordnete Instanz. Wer diese Moral für sich nicht braucht, kann sie ja den Rechtsanwaltsfachangestellten weitererzählen oder sie am Totensonntag in die Kirche schicken, wenn schon Tanz und Musical verboten sind.
Eine weniger gängige Lesart thematisiert die Fairness des Bräutigams: Obwohl jene Damen, die weniger klug mit dem Lampenöl gewirtschaftet haben, doch noch den Weg zur Party finden, will der feine Herr mit seinen Messiasallüren nichts mehr von ihnen wissen. Damit ist das Phänomen angesprochen, dass sich ein Entscheidungsträger künstlich dumm stellt, ob sein Urteil nun aus Unterbelichtungsgründen spät eintreffende Partygäste betrifft oder eine verspätet vortragende Partei im juristischen Prozess.
Das evangelische Totensonntagsgleichnis könnte also ins Gewissen reden, dass sich Entscheidungsträger aller Art nicht allzu gottgleich benehmen sollten, wenn wichtige Auskünfte der Form nach zu spät eintreffen.
Warum allerdings für die Vermittlung solch schlichter Erkenntnisse, die zudem in die Geschichte einer antiken biblischen Hochzeitsparty verpackt werden, gleich dem ganzen Volk am Totensonntag der öffentliche Party- und Spaßbetrieb von Rechts wegen untersagt werden muss, bleibt einstweilen ein Rätsel.
Martin Rath, Feiertagsrecht zum Totensonntag: Heute mal kein Starlight Express . In: Legal Tribune Online, 23.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13893/ (abgerufen am: 02.05.2024 )
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