Durch Öffnung der Ehe für homosexuelle Verlobte wird sie doch nur wieder bestätigt: die monogame Beziehung auf Lebenszeit als braves, brüchiges Ideal. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde noch Krieg geführt, und zwar zur Abwehr der Mehrehe.
Dieser Feldzug der US-Streitkräfte gilt selbst ihren Verächtern als eher pittoreske Veranstaltung und auch sein ideen- und sozialgeschichtlicher Hintergrund scheint heute eher skurril: In den Jahren 1857/58 intervenierte die Regierung der USA mit rund 2.500 Soldaten im US-Territorium Utah, das deutlich größer war als der heutige Bundesstaat gleichen Namens. Anlass gab der Mord an durchziehenden Siedlern und die bekannte Unmoral der Mormonen.
Ein wesentliches Ergebnis des Feldzugs sicherte der US-Kongress später mit einem Gesetz vom 1. Juli 1862 ab, das Präsident Abraham Lincoln am 8. Juli unterzeichnete.
Neben dem alle anderen militärischen Konflikte im Inneren der USA verdeckenden Bürgerkrieg, der zwischen 1861 und 1865 primär um die bundesstaatliche Einheit, schließlich auch um die Beendigung der Sklaverei geführt wurde, verblassen viele andere Vorgänge.
Die gewalttätige Unterdrückung anarchistischer und sozialdemokratischer Bewegungen in den USA dieser Epoche ist wenig präsent – ebenso wenig der sogenannte Utah-Krieg, der nicht zuletzt auf dem Gebiet des Rechts Folgen haben sollte. In Deutschland hält man es eher mit den Indianern, die so schön von unseren Herero-, Nama- und Maji-Maji-Freunden ablenken.
Supermarkt der Religion im Krämerladen-Zeitalter
Im Jahr 1830 hatte ein gewisser Joseph Smith (1805–1844) die erste mormonische Glaubensgemeinschaft gegründet, die als Vorläuferin einer der heutigen Kirchen dieser Richtung gilt. Smith verstand sich als Bote des als Engel auftretenden Propheten Moroni und übte damit selbst religionstypologisch eine Art Prophetenamt aus, indem er die grundlegenden mythischen Erzählungen und Lehren der neuen Konfession auftat. Dies geschah mittels des "Buches Mormon", das ihm 1827 auf einem Hügel im Bundesstaat New York in Gestalt goldener Platten begegnet sei – auch andere Berge und Hügel sind im Gespräch. Das ist ja unter Propheten so üblich.
In den 1830er Jahren erreichte Smith im Osten der USA eine stattliche Anhängerzahl. 1846 brachen die ersten rund 600 Gläubigen in das Gebiet des heutigen Utah auf, sah man sich doch in den östlichen Zentren der Neuen Welt erheblicher Pressionen ausgesetzt.
Den ganz überwiegend christlichen Mitbürgern evangelischer Konfessionen gab das Mormonentum reichen Anlass, sich abgestoßen zu fühlen. Die Behauptung, über göttliche Inspirationen eigener Qualität, also jenseits des Kanons anerkannter biblischer Quellen zu verfügen, war bereits eine ungeheure Provokation. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert grassierte zwar in der westlichen Welt eine Manie für angeblich altägyptische Schriften und Lehren, doch blieb das zumeist in den Kreisen der Gebildeten und Halbgebildeten. Beispielsweise behaupteten die Freimaurer, sie hätten ihre historischen Wurzeln schon unter ägyptischen Pyramiden-Baufachleuten entdeckt.
Der "Supermarkt der Religionen", aus dem sich glaubenswillige US-Bürger heute für ihre Weltanschauung bedienen können, war im 19. Jahrhundert freilich noch ein kleiner protestantischer Krämerladen ohne pseudoägyptischen Grabbeltisch. Darüber hinaus erregte das Mormonentum Anstoß, als seine Führer mehr oder weniger offen die Ehe mit mehr als einer Partnerin praktizierten, schlimmer noch: propagierten.
Anti-Polygamiegesetz vom 1./8. Juli 1862
Am 1. Juli 1862 beschloss der US-Kongress ein als "Morrill Anti-Bigamy Act" bekannt gewordenes Gesetz, das drei wesentliche Regelungen enthielt: Abschnitt 1 gab vor, dass die Mehrehe auch in Bundesterritorien der USA oder ähnlichen Gebieten, die der Jurisdiktion des Bundes unterworfen waren, bei Strafe bis 500 Dollar oder Haft bis fünf Jahre verboten sei.
Das Gesetz bekräftigte, dass das seit den Tagen König Heinrichs VIII. im angelsächsischen Recht verbreitete Mehrehe-Verbot auch in US-Bundesterritorien zu gelten habe – mit der üblichen Grenze, dass bei mehrjähriger Verschollenheit oder rechtmäßiger Beendigung der Erst- keine illegale Zweitehe vorliege. Mit Abschnitt 2 des Gesetzes wurden entgegenstehende, die Mehrehe billigende Regelungen im mormonischen Siedlungsgebiet ausdrücklich aufgehoben.
Der wenig beachtete dritte Abschnitt des "Morrill Anti-Bigamy"-Gesetzes schrieb vor, dass Gesellschaften religiösen oder karitativen Zwecks auf dem Gebiet eines US-Bundesterritoriums kein Eigentum im Wert von mehr als 50.000 Dollar ihr eigen nennen durften – das Vermögen verfiel sonst dem Bund.
Dies darf man als krassen Einschnitt betrachten, war doch jede dynamische neue Religionsgesellschaft – seit sich etwa das Frühchristentum aus den Bestattungsgenossenschaften des antiken Roms und den Nachlässen reicher Römer finanzierte – mit erheblichen Mitteln ausgestattet gewesen.
Merkwürdigerweise vergnügen sich Religionskritiker lieber damit, immer wieder den Glanz vatikanischer Paläste zu monieren, als sich der wirtschaftlichen Dynamik junger religiöser Bewegungen anzunehmen – obwohl diese von den Finanzen des frühen Franziskanerordens bis zu sudanesischen Moscheestiftungen wahabitischer Damenkränzchen aus dem Saudi-Arabien der Gegenwart einen viel reizvolleren Gegenstand abgibt.
2/2: USA entdecken moderne Grundrechtsschranke
Die Strafvorschriften gegen die Polygamie fanden und finden stärkeres Interesse. Schuld daran mag ein "sex sells" sein. Sex schlägt Geld. – Über die stockkonservative Bewegung, Lesben und Schwulen die bürgerliche Ehe zu öffnen, unterhält sich unsere Gesellschaft heute ja auch lieber als z.B. über die langfristigen Auswirkungen des ehelichen Güterrechts auf die biologische Reproduktion der Gesellschaft.
Doch ist diese Sichtweise, mit Blick auf das Mormonen-Problem, ein bisschen unfair. Das Polygamie-Verbot verdient erhebliche Aufmerksamkeit. So hatte der U.S. Supreme Court anhand des Mehreheverbots über das Gewicht einer sonst sehr veritablen Verbriefung der amerikanischen Verfassung zu entscheiden: In der Rechtssache Reynolds v. United States befand das Gericht mit Urteil vom 6. Januar 1878, dass das –1862 explizit gegen die konfessionellen Überzeugungen der mormonischen Religionsgemeinschaften in Kraft gesetzte, jedenfalls erneuerte – Verbot nicht gegen die im 1. Verfassungszusatz von 1790 enthaltene Trennung von Staat und Kirche sowie die Bekenntnisfreiheit verstoße.
George Reynolds (1842–1909), ein mormonischer Geistlicher britischer Herkunft war 1875 zu 300 Dollar Strafe und zwei Jahren Haft mit Zwangsarbeit verurteilt worden, weil er zugleich mit zwei Frauen verheiratet gewesen war. Der U.S. Supreme Court bestätigte einstimmig, dass der religiöse Glaube eines Angeklagten "nicht als eine Rechtfertigung für seine Begehung einer offenen Handlung angenommen werden kann, die vom Gesetz des Landes ('law of the land') für strafbar erklärt ist".
Mit feinen Unterschieden der mormonischen Theologie zwischen einer Ehe im hergebrachten und einer irgendwie mehr in der Geisterwelt besiegelten Verbindung – Religion ist ja eine schöne Sache, wenn es darum geht, normativ sein sollende Distinktionen zu treffen – hielt man sich seit dem Gesetz vom 1./8. Juli 1862 von Rechts wegen nicht unbedingt auf, solange die Mehrfacheheleute nur realiter einigermaßen zusammenlebten und den Anschein erweckten, sie hielten ihr Konkubinat auch normativ in irgendeiner Form für verbindlich – und nicht bloß für normale Unzucht.
Konfessionelles Normkraftwerk abgeschaltet
Der avantgardistische Versuch der mormonischen Gläubigen, eine westliche Rechtsordnung um das Institut der parallelen Mehrehe zu erweitern – heute wird diese ja eher seriell absolviert –, war damit unter den vielleicht besten Voraussetzungen gescheitert. Immerhin hätte die sonst so radikal interpretierte Verbriefung konfessionellen Freiheiten im 1. Zusatzartikel zur US-Verfassung greifen müssen. Der U.S. Supreme Court bewegte sich hier aber recht nah an der Begründungstautologie.
Damit nicht genug. Seit dieser Zeit wird am Versuch, mit der Gründung einer Religionsgesellschaft normativ etwas Neues für eine Gesellschaft auf die Beine zu stellen – soweit es über privates Hausfrauen-Yoga hinausgeht – mehr als nur Anstoß genommen. Die Fackel des Fortschritts hat Fundamentalisten-Bärte zu sengen, nicht umgekehrt. Zu denken gibt nur, welch Potenzial z.B. die humanistischen Lehren der Bahai im Nahen Osten oder das Christentum in der Einparteiendiktatur Chinas entwickeln könnten, wären sie – neben der Staatsgewalt – nicht auch noch dem Vorwurf ausgesetzt, schon im Ansatz überholt zu sein.
Jene Politiker, die in den USA des 19. Jahrhunderts – ggf. militärisch – gegen die mormonische Mehrehe intervenierten, waren sich der Bedeutung ihres Kampfes viel bewusster. Die Befürworter des "Morrill Anti-Bigamy"-Gesetzes glaubten, einen Krieg gegen gleich zwei moralische Scheußlichkeiten ihrer Epoche zu führen, die sie als durchaus gleichwertig ansahen: mormonische Bigamie in Utah und die Sklaverei in den Südstaaten.
Der pittoreske Einmarsch von US-Truppen im Utah-Gebiet, 1857, und das vermeintlich nur noch unter dem "sex sells"-Gesichtspunkt interessante Bigamie-Verbotsgesetz vom 1./8. Juli 1862 bekommen im Gleichklang des Schlachtrufs – gegen Vielweiberei, gegen Sklaverei – jenes Gewicht, das sie für unsere Gegenwart haben: Arbeitskraft soll nur in Marktbeziehungen verfügbar sein, die biologische Reproduktion der Gesellschaft nur in – jetzt auch seriell – monogamen Beziehungen organisiert werden.
Die Form der letzteren anderweitig auszuborgen, soll eine umstürzende Idee sein? Es ist zum Augenrollen.
Was wirklich grundstürzend ist: US-Juristen und -Militärs brachten in der Anti-Bigamie-Kampagne die gesellschaftlichen Gestaltungsansprüche der Propheten zum Schweigen. Das ist etwas, das in derart zentralen Fragen auf Dauer zählt.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Ehe für alle?: Umstürzlerisch geht anders . In: Legal Tribune Online, 02.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23338/ (abgerufen am: 27.04.2024 )
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