Wohl selten nahm sich ein deutsches Gericht so umfangreich der Kriminalisierung von Sexualität an: Die Rechtsprechung des Jahres 1937 ist überwiegend so scheußlich, dass hier auch ein eher harmloser Fall vorgestellt werden soll.
Der unbedingte Wille zu strafen beweist sich nicht nur in perfiden gesetzlichen Regelungen. Gut geeignet sind auch unverfängliche Strafvorschriften wie § 174 Abs. 1 Nr. 1 Strafgesetzbuch (StGB), der in seiner in seiner zwischen 1872 und 1943 gültigen Fassung mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bedrohte: "Vormünder, welche mit ihren Pflegebefohlenen, Adoptiv- und Pflegeeltern, welche mit ihren Kindern, Geistliche, Lehrer und Erzieher, welche mit ihren minderjährigen Schülern und Zöglingen unzüchtige Handlungen vornehmen".
Mit Urteil vom 25. Juni 1937 verwarf das Reichsgericht die Revision eines Mannes, der vom Landgericht Stuttgart nach dieser Vorschrift verurteilt worden war. Angelastet wurde ihm die Unzucht mit einer Minderjährigen, die sich zur Ableistung ihres "haushaltswirtschaftlichen Jahres" in seinem Haushalt aufhielt (RGSt 71, S. 274–278; Az. 1 D 361/37). Bevor wir auf diesen Fall kommen, lohnt ein Blick auf die insgesamt ziemlich scheußliche Rechtsprechung des Reichsgerichts in Sexualstrafsachen im Jahr 1937.
Eine widerliche Jahresleistung des Gerichts
Anlass gab vor allem das am 15. September 1935 beschlossene "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre", das sogenannte Blutschutzgesetz. Neben der Eheschließung zwischen Juden und 'Deutschblütigen' bedrohten §§ 2, 5 Abs. 2 den außerehelichen "Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes" mit Gefängnis oder Zuchthaus. In einer Reihe von Urteilen vom 7. Januar 1937 widmete sich das Reichsgericht den Details dieses nationalsozialistischen Rassengesetzes.
Im Fall eines jüdischen Mannes, der am 22. November 1935 "mit der deutschblütigen M., die der gewerbsmäßigen Unzucht nachgeht" von der Polizei in deren Schlafzimmer aufgegriffen wurde, wehrte sich der Angeklagte mit dem Argument, sowohl er wie auch die Prostituierte seien noch bekleidet gewesen, ein körperlicher Kontakt habe noch nicht bestanden, der Versuch eines außerehelichen Geschlechtsverkehrs liege damit nicht vor.
Weil das Gesetz nicht "die Rassenehre und Rassereinheit des einzelnen" – in diesem Fall also der Prostituieren –, sondern "die Rassenehre des deutschen Volkes" schütze, waren nach Ansicht des Reichsgerichts aber bereits Handlungen, "die unmittelbar auf die Ausübung des Geschlechtsverkehrs hinzielen und durch die das geschützte Rechtsgut, die deutsche Rassenehre, unmittelbar gefährdet" werden als Teil des strafbaren Versuchs zu betrachten (RGSt 71, 4-6; Az. 2 D 558/36).
Wer war überhaupt "der Jude"?
Mit Urteil vom gleichen Tag stellte das Reichsgericht fest, dass Juden neben dem Beischlaf ausdrücklich auch andere Formen des Geschlechtsverkehrs mit "Deutschblütigen" verboten sei, hier im Fall eines Mannes, dessen Stelldichein mit seiner langjährigen Freundin von einem besorgten Mitbürger zur Anzeige gebracht wurde (RGSt 71, 7–8; Az. 2 D 622/36).
Keinerlei Bedenken gegenüber dem wirren, teils aus der Religions-, teils aus sogenannter Rassenzugehörigkeit hergeleiteten "Rechtsbegriff" des "Juden" – und mithin über den Irrtum des Täters über eben diesen Begriff - lässt ein weiteres Urteil vom gleichen Tag (RGSt 71, S. 29–31) erkennen, letztlich eine Frucht juristischer Vorarbeiten durch Wilhelm Stuckart und Hans Globke, die das formal kaum ordentlich beschlossene Rassenrecht mittels Kommentierung handhabbar gemacht hatten.
Mit Urteil vom 18. Februar 1937 (Az. 2 D 50/37; RGSt 71, 70–72) wurde in einer "Blutschutz"-Sache der "deutschblütigen" Verlobten eines jüdischen Angeklagten das Zeugnisverweigerungsrecht abgesprochen, weil das Verlöbnis mit Blick auf das Verbot der Eheschließung rechtsunwirksam sei.
Heuchelei, was die Grenzen des Staates betrifft
Nicht allein in der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung befasste sich die Rechtsprechung im Jahr 1937 umfassender denn je mit dem Intimleben der ihr unterworfenen Menschen.
Mit Urteil vom 15. März 1937 (Az. 2 D 126/37) hob das Reichsgericht die Verurteilung eines Mannes auf, dem vorgeworfen worden war, während eines beginnenden Scheidungsverfahrens seine Ehefrau wiederholt mit Gewalt "zur Duldung des Beischlafs" gezwungen zu haben: Es "müssten die innigsten Bande der Familie und Ehe, die die Grundlage der Volksgemeinschaft bilden, von allen störenden Eingriffen von außen und demnach auch von einer strafrechtlichen Erörterung der geschlechtlichen Seite der Ehe so weit wie nur irgend möglich freigehalten werden". Auch erzwungener Beischlaf sei in der Ehe daher nach "gesundem Volksempfinden" regelmäßig keine "Unzucht", die den Vorwurf der – nach heutigen Begriffen – Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung begründe. Eine Verurteilung wegen Vergewaltigung in der Ehe, nicht nur aus § 240 StGB, komme aber "nach der gesunden Volkanschauung" dann in Betracht, "wenn besonders schamlose oder scheußliche Verwirrungen vorgekommen" seien, vermutlich solche "Verwirrungen", die nicht der Fortpflanzung dienen.
Am 10. Juni 1937 (Az. 2 D 258/37) urteilte das Reichsgericht, dass im Fall eines "Sittlichkeitsverbrechers", der trotz seiner "Entmannung" als "Gewohnheitsverbrecher" erneut ein "Verbrechen wider die Sittlichkeit" begangen habe, die erneute Anordnung der "Entmannung" zu prüfen sei.
2/2: Ein fast harmloser Fall nach "Mädel"-Missbrauch
Ein weiteres Urteil, im eingangs schon zitierten Fall, mag harmloser erscheinen, als sich hier weniger der Verlust naturwissenschaftlichen Verstandes, sondern nur der richterlicher Hemmnisse andeutet: Im Sprengel des Landgerichts Stuttgart war es zwischen der minderjährigen Helene B. und dem Angeklagten zu "fortgesetzt unzüchtigen Handlungen" gekommen.
Fraglich war, wie man den Mann bestrafen könnte – das musste wohl zwingend sein –, in den Worten des Gerichts: "Es hat sich nicht feststellen lassen, daß es zum Beischlafe zwischen dem Angeklagten und der B. gekommen ist, so daß eine Straftat nach dem § 182 StGB entfällt [sic!]. Eine Straftat nach dem § 176 Abs. 1 Nr. 3 kommt nicht in Frage, weil die B. bereits das vierzehnte Lebensjahr vollendet hatte."
Verurteilt hat das Landgericht den Mann nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB, weil dieser als "Erzieher" mit dem zur Ableistung eines "hauswirtschaftlichen Jahres" in seinem Haushalt befindlichen Mädchen Unzucht betrieben habe.
Das Relikt des "hauswirtschaftlichen Jahres"
Mit dem "hauswirtschaftlichen Jahr" hatte es folgende Bewandtnis: Nach Abschluss der allgemeinbildenden Schule, regelmäßig also mit 14 oder 15 Jahren, unter Umständen auch erst nach Abschluss einer Lehre, wurden die jungen Frauen von Staats wegen gezwungen, eine einjährige Tätigkeit in einem Haushalt oder der Landwirtschaft zu absolvieren – flankiert von Schulungslagern des "Bund Deutscher Mädel" unter enggeführter Aufsicht des Arbeitsamtes: Ohne Eintrag zum Pflichtjahr im "Arbeitsbuch" war eine legale Beschäftigung, etwa als Hilfsarbeiterin, oder die Aufnahme einer beruflichen Bildung nicht möglich.
Jedes Jahr wurden – nach Zahlen der hierfür politisch Verantwortlichen – rund 300.000 weibliche Jugendliche auf diese Weise zu einer von Staat und Partei organisierten, nur in Teilbereichen, aber auch dann nicht sonderlich attraktiv bezahlten Hilfstätigkeit im Haushalt oder in der Landwirtschaft genötigt.
Dabei war die Herauslösung der jungen Menschen aus Milieus vertrauenswürdiger Menschen – der Familie, Freundes- oder kirchlichen Kreisen – Programm. Hierzu zählt etwa die nur knapp bemessene sonntägliche Freizeit. Die Ableistung des hauswirtschaftlichen Jahres in der eigenen Familie wurde vom Arbeitsamt nur genehmigt, wenn vier deutlich jüngere Geschwister vorhanden waren.
Zwangsdienst war umfassende Frauensache
In der Stuttgarter Strafsache ergab sich aus all dem ein Punkt, an dem sich der staatliche Strafanspruch gegen den Mann, der dem "Mädel" zu nahe gekommen war, hätte auflösen müssen: Wurde ein Mädchen beziehungsweise eine junge Frau dem fremden Haushalt zugewiesen, war eine Art Vertrag abzuschließen – ein Dokument, das neben eher pragmatischen Regelungen vor allem ein Erziehungsprogramm im Sinn der nationalsozialistischen Weltanschauung enthielt. Der Hausfrau oblag es danach, das "Pflichtjahrsmädchen" zu "einem wertvollen Mitglied der Haus- und Volksgemeinschaft" zu erziehen, es "zu einer geordneten Lebensführung" anzuhalten und ihm die notwendige "Zeit zur Teilnahme am Dienst der Partei" zu geben und es "zur Erfüllung ihrer Pflichten gegenüber der Volksgemeinschaft" zu führen. In sämtlichen Angelegenheiten des Haushalts hatte die Hausfrau – wer sonst? – gegenüber dem "Pflichtjahrsmädchen" das Direktionsrecht.
Der Witz nun aus Sicht des Strafrechts: Weder nach den Vorstellungen und Richtlinien der NS-Obrigkeit noch im konkreten Einzelfall war der Ehemann hierbei förmlich eingebunden. Wie hätte er sich hier als "Erzieher" im Rechtssinn des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar machen können?
Das Reichsgericht behalf sich mit dem Griff in den Zauberhut weltanschaulicher Wertungen: Aus dem Umstand der Zugehörigkeit zum Haushalt ergebe sich eine familienähnliche Beziehung, daraus sei der Erzieherstatus zu folgern. Förmliche Absprachen interessierten nicht. Fertig ist das Revisionsurteil über bis zu fünf Jahre Zuchthaus.
Wie funktioniert ein Unrechtsstaat? Vielleicht finden sich, eher als in den offen zutage tretenden Ungeheuerlichkeiten, in solch kleinen strafbegründenden Gemeinheiten sachdienliche Hinweise.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, NS-Justiz: Ein ziemlich widerliches Gerichtsjahr . In: Legal Tribune Online, 25.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23273/ (abgerufen am: 05.06.2023 )
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