In diesem Herbst wurde das "Judicial Comittee of the Privy Council" 180 Jahre alt, ein Gericht, das in den Hochzeiten des britischen Imperiums die letzte Instanz in allen überseeischen Gebieten war. Eine ähnliche Entscheidungsgewalt in der Fläche wie im juristischen Detail hat bis heute vielleicht kein anderes Gericht erhalten.
Ausgerechnet Richard Haldane (1856-1928), ein liberaler Anwalt, Lord und Politiker von eher linker Gesinnung, erzählte eine "Missionar-im-Kochtopf"-Geschichte von einem Reisenden, der im hinterwäldlerischen Teil Britisch-Indiens auf einen Stamm getroffen sei, der einem unbekannten Gott Dankesopfer darbrachte. Auf die Frage, was das für eine Gottheit sei, antworteten die Eingeborenen: "Wir wissen es nicht, außer dass es ein sehr mächtiger Gott ist, denn er griff in unsere Auseinandersetzung mit der indischen Regierung ein und gab uns unser Land zurück, das uns die Regierung genommen hatte. Und was wir sonst von ihm wissen ist, dass der Name des Gottes 'Judicial Committee of the Privy Council' lautet."
In seiner Funktion als Lordkanzler war Haldane selbst Mitglied dieses Komitees, was der etwas chauvinistischen Anekdote auch noch den Beigeschmack der Selbstbeweihräucherung gibt.
"Letzte Instanz" für "indische Götter und afrikanische Häuptlinge"
Zwischen seiner Gründung 1833 und dem Ende des britischen Weltreichs nach dem Zweiten Weltkrieg hatte das Judicial Committee of the Privy Council (JCPC) eine Kompetenz, die durchaus heute noch Eindruck macht.
Jedem Angehörigen des britischen Weltreichs, so die stolze Formel, stehe das Recht zu, sich gegen ein Urteil der örtlich zuständigen Gerichtsbarkeit mittels Appellation an die Königin oder den König "in Council" zu wenden, abgesehen nur von den Untertanen im Mutterland, für die im Wesentlichen die Law-Lords des Oberhauses die "letzte Instanz" bildeten.
Durch königlichen Erlass von 1865 wurde außerdem etwa ein Supreme Court for China mit regulärem Sitz in Shanghai etabliert, in dessen Zuständigkeit Rechtssachen britischer Staatsangehöriger im chinesischen Kaiserreich fielen. Über dem Supreme Court for China fungierte das JCPC als Appellationsgericht.
In seinem juristischen Fachbuch "The Practice of The Privy Council in Judcial Matters", das man heute wie einen Rudyard-Kipling-Roman lesen kann, bekennt Norman Bentwitch (1883-1971) stolz, dass es die Appellationsmacht in jedem Winkel des britischen Reichs etabliert habe und berufen sei "jedes denkbare Rechtssystem" zu handhaben. Es sei einzigartig "in der Bandbreite seiner Prozessparteien, zu denen nicht nur Untertanen aus jedem Teil des Imperiums zählen, sondern auch indische Götter, afrikanische Häuptlinge und Prinzen aus Vasallenstaaten".
Appellationsinstanz für ein Weltreich
Bentwitch freute sich, dass aus dem feudalen Institut für prozessuale Sonderprobleme der einst normannischen Kanalinseln die Appellationsinstanz für das britische Weltreich geworden war. Und er sah, zwei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg optimistisch, in einem "föderal organisierten Imperium" große Aufgaben für die Zukunft der juristischen Privy-Council-Abteilung.
Tatsächlich zeichnet sich ein buntscheckiges Bild ab, das dem romantisch-optimistischen Zukunftsglauben Nahrung bot. Wenn sich beispielsweise zwischen dem 4. März und dem 7. April 1897 Sri Raja Viravara Thodhramal Rajya Lakhsmi Devi Garu mit Sri Raja Viravara Thodhramal Surya Narayana Dahtrazu Bahadur Garu vor dem JPC zu London darüber stritt, wem das Recht an einem hindurechtlichen Vermögensgegenstand namens "Zemindari" zustehe (offenbar eine Art Steuerpachtinstitut, das einem gemeinsamen Vorfahren 1803 von der Familie zugewiesen worden war), lässt sich eine internationalere Legitimation durch Verfahren kaum vorstellen.
2/2: Billard in Toronto
In einem deutlich weniger exotischen Fall, deuten sich die politischen Gründe für den späteren Niedergang des JCPC an. Am 15. Dezember 1883 bestätigte der Council das Urteil eines kanadischen Gerichts im Fall eines Gastwirts aus Toronto, der die Lizenz besaß, in seiner Wirtschaft Billard spielen zu lassen. Er kam mit dem Recht in Konflikt, als mit der Ernennung eines neuen kommunalen Wahlbeamten für Schanklizenzen, verkündet wurde, dass in Gastwirtschaften keine Vergnügungsangebote wie Billiard mehr feilgeboten werden dürften. Verbunden war das Verbot mit der Androhung empfindlicher Geldstrafen oder Haft zuzüglich Zwangsarbeit während derselben.
Dass ihm dies bekannt gemacht wurde, hatte der Gastwirt unterschrieben. Am 19. Mai 1881 verurteilte ein Polizeirichter ihn wegen Verstoßes gegen das kommunale Schankgesetz zu einer Buße von 20 Dollar zuzüglich 2,85 Dollar für die Verwaltungskosten. In der Kneipe war nämlich ein paar Tage zuvor an einem Samstag Billard gespielt worden. Das war deshalb ein Rechtsproblem, weil die Schankverordnung vorsah, dass Kneipen zwischen Samstagabend 19 Uhr und Montagmorgen sechs Uhr geschlossen zu halten seien.
Die Verteidigung machte geltend, dass das Provinzparlament von Ontario nach dem Grundsatz "delegata potestas non potest delegari" die imperiale, dem Staatsparlament zugewiesene Strafgewalt nicht auf lokale Schankbeamte habe delegieren dürfen. Die kanadische und die Londoner Appellationsinstanz argumentierten hingegen, hier sei nicht "top down" Strafgewalt nach unten delegiert worden, sondern innerhalb der von London gesetzten verfassungsmäßigen Grenzen regele der kanadische Staat derartige Ordnungsangelegenheiten im Rahmen guter Regierungskunst aus eigener Kompetenz.
Merkwürdige Kompromisse in der Karibik
Trotz solcher Konzessionen an den imperialen Föderalismus steht die Rechtsprechung des JCPC vor allem in Kanada bis heute in der Kritik. Ihm wird beispielsweise vorgeworfen, nach dem Börsenkrach von 1929 gute Teile der kanadischen Wirtschaftsgesetzgebung kassiert zu haben.
Zwar ließen sich auch Staaten, die den britischen Monarchen bis heute als Staatsoberhaupt anerkennen, auf einen merkwürdigen Kompromiss ein. Grob formuliert: Als Vorrecht der Königin bzw. des Königs wird anerkannt, Appellationen aus ihren überseeischen Reichen vom JCPC klären zu lassen. Andererseits haben diese Staaten das Recht, Appellationen im Rahmen ihrer Verfassungen eigenen Gerichten zuzuweisen, ohne dadurch den Weg nach London komplett abzuschneiden.
Abgeschnitten haben sie inzwischen fast alle. Nur in einigen Staaten der Karibik steht das JCPC erst seit einigen Jahren stark im Widerstreit zwischen Demokratie und Rechtsstaat. Der Rechtsstaat spricht mit den Worten: "Ihre Lordschaften werden Ihrer Majestät demütig empfehlen, dass diese Appellation wirksam werde, sodass die Urteile der Rechtsmittelführer in lebenslange Haft umgewandelt werden."
Die karibischen Demokraten wollen hingegen, dass zum Tode Verurteilte auch dann noch hingerichtet werden, wenn sie schon mehr als fünf Jahre in ihrer Zelle vor sich hinrotten.
Integration durch romantisch-feudale Herrenclubs
Imperialismus, auch in seinen schöneren, juristischen Formen, hat keine gute Presse. Jonas-Sébastien Beaudry, ein hochgebildeter kanadischer Jurist und Rechtshistoriker, lastet beispielsweise dem anglo-indischen Rechtssystem gar noch an, das obskure "Dharma" der altindischen Rechtskultur ruiniert zu haben, liefert aber auch sachdienlichere Hinweise darauf, wie sehr das JCPC als politische Institution wahrgenommen werden musste, weil seine juristische Substanz letztlich sehr dünn war.
Im Vergleich zu manchem international tätigen Gerichtshof der Gegenwart steht das alte JCPC vielleicht gar nicht so schlecht dar. In jüngster Zeit wird beispielsweise Kritik laut, ausschließlich afrikanische Potentaten liefen Gefahr, nach internationalem Strafrecht in Den Haag vor Gericht zu kommen. Selbst wenn man dieser national-demokratischen Empörung afrikanischer Medienvertreter wenig abgewinnt, lässt sich doch fragen, ob internationale Gerichtshöfe fürs internationale Recht eine Legitimation durch Verfahren produzieren, wenn am Ende Massenmörder in komfortablen niederländischen Zellen sitzen und man sich in ihren Heimatländern gleichwohl über das böse Unrecht beschwert, das ihnen damit widerfahre.
Wie romantisch ist das hingegen: Von den fünf Lordschaften, die am 15. Dezember 1883 die Verurteilung des Schankwirts aus Toronto bestätigten, waren drei hochrangige Richter in Britisch-Indien gewesen. Die juristischen Karrieren im Weltreich waren nicht semipermeabel: Beispielsweise wurde die erste nennenswerte Moschee von London von einem britisch-indischen Privy-Council-Richter mitgegründet, dem liberalen Juristen Syed Ameer Ali (1849-1928).
Rechtssysteme brauchen zur Integration nicht nur anerkannte Verfahren, sondern die Chance auf etablierte Karrierewege. Ökonomisch und politisch ging es mit dem britischen Imperium eigentlich schon zu Ende, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Karrieren wurden nationalstaatlich, soweit nicht nach dem Zweiten Weltkrieg die großen UN-Bürokratien Netzwerke schufen.
Ob diese aber mehr zur internationalen Integration durch Recht leisten als die romantisch-feudalen Herrenclubs unter Queen Victoria?
Martin Rath, Judicial Committee of the Privy Council: Verschwundener Glanz eines Imperialgerichts . In: Legal Tribune Online, 24.11.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10138/ (abgerufen am: 28.04.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag