Ist der Rechtsstaat in Gefahr? Hans-Jürgen Papier, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, macht sich umfangreich Sorgen. Christian Rath hat sein Buch gelesen.
Es herrscht kein Mangel an Büchern, die den Rechtsstaat, die Justiz und das Recht kurz vor dem Abgrund sehen. Zuletzt wurden solche Bücher überwiegend von Amtsrichtern geschrieben, worauf Thomas Fischer (Ex-BGH) neulich in seiner Kolumne hinwies.
Nun hat mit Prof. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier aber ein deutlich höherrangiger Jurist das Wort ergriffen. "Die Warnung", heißt das Buch des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), "wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird". Untertitel: "Deutschlands höchster Richter a.D. klagt an".
Papier war von 1998 bis 2010 Verfassungsrichter, ab 2002 amtierte er als Präsident des Gerichts. Zuvor und danach war er Professor für Öffentliches Recht, zuletzt in München. Seit Ende 2011 ist er emeritiert, schreibt aber gerne und gut bezahlt Gutachten zu verfassungsrechtlichen Fragen.
"Die Warnung" ist, so schreibt Papier selbst, sein "erstes populäres Sachbuch", bisher habe er nur wissenschaftliche Abhandlungen verfasst. Ob das dicke und äußerst themenreiche Sachbuch wirklich "populär" wird, muss sich noch zeigen. Trotz des reißerischen Titels ist es zumindest nicht populistisch geworden.
"Politiker agieren an der Verfassung vorbei"
"Wer die Verfassung nicht achtet, verliert den zentralen Ordnungsrahmen unserer Gesellschaft", warnt Papier. Dass Politiker "seit Jahren immer wieder an der Verfassung vorbeiagieren und -regieren" sei eine zentrale Ursache für das schwindende Vertrauen der Bürger in die Politik.
Wo also wird nun laut Papier "geltendes Verfassungsrecht von der Politik ignoriert"? Erstes Beispiel: Die Beteiligung der Bundeswehr an der Anti-IS-Mission in Syrien und im Irak sei verfassungswidrig, weil sie nicht im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit erfolgte. Interessant. Aber wer weiß überhaupt, dass die Bundeswehr Teil einer Anti-IS-Mission ist?
Zweites Beispiel: Die Einführung der "Ehe für alle" hätte nicht ohne Grundgesetzänderung erfolgen dürfen, da das BVerfG die Ehe bisher stets als "Verbindung von Mann und Frau" definierte. Nun ja, das Thema ist eigentlich durch. Nicht einmal Bayern hat geklagt.
Drittes Beispiel: Die geplante Beibehaltung des Solidaritätszuschlags für besonders gut Verdienende hält Papier für bedenklich, denn eine "Reichensteuer" wäre nur im Rahmen des Einkommensteuerrechts möglich. Ein entsprechendes Gutachten hatte er im Mai 2019 für die FDP-Fraktion im Bundestag geschrieben.
Das sollen also Fragen sein, bei denen das Vertrauen in den Rechtsstaat auf dem Spiel steht? Derartige Diskussionen sind im Verfassungsstaat doch eher Business as usual.
Gegen offene Grenzen
Von anderem Kaliber war und ist da die Diskussion um die Offenhaltung der Grenzen für Flüchtlinge. Für Papier war sie einer der wichtigsten Anlässe das Buch zu schreiben. Er beklagt, dass dabei "deutsches Recht" missachtet worden sei. Konkret meint er § 18 Asylgesetz (AsylG), der eine Zurückweisung an der Grenze vorsieht, wenn ein Flüchtling über einen sicheren Drittstaat einreist.
Papiers Problem dabei: Er vertritt hier eine Position, die selbst im konservativen Lager in der Minderheit ist und nur bei Rechtsextremisten als unumstößlich gilt. Wie aber Prof. Daniel Thym, der führende konservative Asylrechtler immer wieder erläutert, wurde § 18 AsylG längst von der EU-Dublin-III-Verordnung überlagert, die eine Einreise gestattet, damit in einem förmlichen Verfahren derjenige EU-Staat identifiziert wird, in dem der Asylantrag dann zu prüfen ist.
Papier folgt hier aber nicht Daniel Thym, sondern einer Gruppe von vier Rechtsprofessoren um den Wirtschaftsrechtler Alexander Peukert, die 2016 eine alternative Auslegung der Dublin-III-Verordnung präsentierten, wonach Zurückweisungen an der Grenze doch erlaubt seien. Diese Auslegung hält Papier für überzeugender, auch weil es schwierig sei, einmal eingereiste Flüchtlinge in die zuständigen EU-Staaten weiter zu überstellen.
Letztlich ist es also Papier, der das geltende Recht nicht akzeptieren will und mit ergebnisorientierten Auslegungen auszuhebeln versucht. Oder neutraler ausgedrückt: es gibt hier einen juristischen Meinungsstreit, bei dem sich Papier trotz zahlreicher öffentlicher Wortmeldungen bisher nicht durchsetzen konnte und daraus nun eine Gefahr für den Rechtsstaat konstruiert.
Immerhin hält der Ex-Verfassungsrichter die von AfD und (zeitweise) Innenminister Horst Seehofer (CSU) benutzte Formel von der "Herrschaft des Unrechts" für überzogen. Papier spricht stattdessen von "Fehlinterpretationen" und fordert (wie inzwischen auch Seehofer) eine Neuregelung der Dublin-III-Verordnung.
"Unsere Leitkultur ist die Vielfalt"
Papiers Buch bedient solche Rechtsaußen-Diskurse aber nur partiell. Der Ex-Verfassungsrichter ist ideologisch durchaus beweglich, ja geradezu ausgewogen. Das Kapitel über den drohenden Überwachungsstaat hätte wohl auch der Alt-Liberale Gerhart Baum kaum anders geschrieben.
Fortschrittlich ist auch, wie Papier die zentrale Rolle des Rechts in der modernen Gesellschaft beschreibt. Weil die pluralistische Gesellschaft nicht mehr durch Religion, Kultur oder Tradition geleitet wird, bleibe nur die Werteordnung des Grundgesetzes, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Zur Leitkultur Deutschlands gehörten deshalb vor allem die vielfaltsichernden Garantien des Grundgesetzes wie die Meinungsfreiheit, die Religionsfreiheit und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. "Unsere Leitkultur ist die Vielfalt", bringt es Papier auf einen Nenner.
Eine Gefahr für den Rechtsstaat sieht Papier in der von ihm konstatierten "Überregulierung". Diese führe zu Vollzugsdefiziten und damit letztlich zu Vertrauensverlust in der Bevölkerung. Auch eine Überlastung der Justiz führt er auf die Überregulierung zurück.
Für Papier soll das Recht vor allem "Sicherheit für kreative Initiativen bieten". Das Grundgesetz fordere Eigenverantwortung, nicht Rundumversorgung. Der Staat solle den Normüberhang abbauen und die Steuern senken. Dazu sei regelmäßige Aufgabenkritik erforderlich. Auf welche Aufgaben der Staat verzichten soll, lässt der Deregulierungs-Fan leider offen.
Milder Schluss
Die EU will Papier eher zurückbauen. Nostalgisch träumt er von der Bewahrung des parlamentarisch-demokratischen Nationalstaats ("Es war einmal ein Land, in dem Freiheit, Sicherheit und Wohlstand herrschten").
"Selbstjustiz" lehnt er ab, wobei er eher Parallelgesellschaften mit eigener Moral meint. Dabei stellt er dann Duisburger Clans und Greta Thunberg auf eine Stufe.
Im Schlusskapitel präsentiert Papier einen graumäusigen Vorschlag zur Änderung des Grundgesetzes. Die "dauerhafte und nachhaltige Befriedigung von Gemeinschaftsinteressen" soll in Artikel 20 als neuer Staatsauftrag festgeschrieben werden.
Am Ende wird der knallharte Warner dann versöhnlich und wünscht sich von den Lesern nicht viel mehr, als dass sie sich für Verfassungsfragen interessieren sollen ("Sie werden feststellen, dass das Recht nicht aus steifen Paragraphen besteht, sondern lebendiger Bestandteil unseres Gemeinwesens ist.")
Hans-Jürgen Papier hat mit diesem Buch jedenfalls gezeigt, dass er auch mit 76 Jahren noch die ganze Breite der Rechtspolitik im Blick hat - und sicher auch für Gutachten aller Art bereit steht.
Hans-Jürgen Papier: "Die Warnung", Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird. Deutschlands höchster Richter a.D. klagt an, Heyne Verlag, 272 Seiten, ISBN: 978-3-453-20725-7, 22 Euro
Rezension "Die Warnung": . In: Legal Tribune Online, 02.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38975 (abgerufen am: 13.12.2024 )
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