Inmitten der Kommunikationshektik des Internetzeitalters träumt das OLG Nürnberg von Faxgeräten, die in der Zukunft mit geeichter Funkuhr ausgestattet sein könnten, um verschlafene Anwälte zu disziplinieren. Die träumen am Jahresende wohl von aufgeräumten Fristenbüchern. Zeit, eine neue Hilfswissenschaft zu erfinden: die juristische Dromologie. Ein Essay von Martin Rath.
Die kleine Überraschung wurde in juristischen Kreisen natürlich wieder überlesen, dieser kleine Traum des Gerichts von einem Stand der Technik, den fleißige Japaner oder Chinesen doch bitte noch ins schöne Frankenland stellen sollten: ein Faxgerät mit Funkuhr.
Während "die Politik" trotz Aversion gegen den bösen Internetspuk wieder einmal über Gerichte nachdenkt, die ihre Akten voll digitalisiert bearbeiten sollen – ein Entscheidungsprozess, der in seiner Zähigkeit etwas an die "Reform der Juristenausbildung" erinnert und vermutlich um das Jahr 2090 abgeschlossen sein wird, entschied das Oberlandesgericht (OLG) Nürnberg über den Wert des Faxgerätes (Beschl. v. 30.5.2012, Az. 12 U 2453/11).
Der Beschluss betraf ein Problem, das normalsterbliche Menschen außerhalb der juristischen Kreise in Erstaunen versetzt: In einem Prozess um eine Mietsache war dem Anwalt des Klägers eine verlängerte Frist zur Berufungsbegründung eingeräumt worden, genau gesagt: bis zum 14. Februar 2012. Das OLG kräuselt leicht die Nase: "Die acht Seiten umfassende Berufungsbegründung vom 14.2.2012 wurde dem Berufungsgericht lediglich per Telefax übermittelt. Als Zeitpunkt des Faxeingangs bei Gericht trägt jede Seite jeweils die Angabe '15/02 2012 MI 00.00'."
Das Gericht hat die Berufung darum nach § 522 Abs. 1 Satz 2 und 3 Zivilprozessordnung (ZPO) verworfen.
Zeitprobleme der Juristen, Staunen der Normalsterblichen
Im Beschluss des OLG Nürnberg zu dieser Fax-Peinlichkeit werden einige Vorgänge dokumentiert, die Nichtjuristen in mildes Erstaunen versetzen können: Acht Seiten Berufungsschrift, lässt sich so etwas nicht schneller schreiben? Und warum legt man das gegen Mitternacht am Ende des letztmöglichen Tages ins Faxgerät?
Wirklich Normalsterbliche fragen heutzutage zudem: Was ist überhaupt ein Faxgerät?
Stellen wir uns ganz dumm. Ein Faxgerät ist vorliegend eine Maschine, die beweisen soll, dass ein Schreiben innerhalb einer Frist in der Gerichtspost liegt, ganz gleich, wann die dann wirklich gelesen oder bearbeitet wird. Fünf Minuten vor, fünf Minuten nach Mitternacht, zumindest das ist eine Frage, über die Streithähne vor Gericht nicht zanken sollen. Darum begab sich auch ein ehrwürdiger OLG-Richter in die Niederungen der Poststelle: "Im Übrigen hat das Faxgerät nach den vom Senat insoweit durchgeführten Ermittlungen die korrekte Zeit angezeigt."
Die Berufungsschrift kam frühestens um 0.00 Uhr am 15. Februar an, damit zu spät. Das Gerät tickte ganz richtig.
Warum wundern sich die Normalsterblichen?
Für Juristen ist die Verwunderung der Normalsterblichen Anlass für Verwunderung, denn so viel Formalismus muss einfach sein, sonst ginge im Aktengang jede Ordnung verloren.
Doch das ist natürlich nur die halbe Wahrheit, wie ein Blick in die Betriebssoziologie lehrt. Außerhalb juristischer Kreise schaut nicht nur deshalb kaum jemand auf den Datumsstempel von Faxkopien, weil man inzwischen lieber mit etwas moderneren Kommunikationsmitteln arbeitet. Im Wirtschaftsleben gilt "der Termin" zudem nicht selten als eine Art Disziplinierungsversuch, den man möglichst frei von Konsequenzen unterlaufen will.
In einer Studie über "Zeitnutzung und Zeitknappheit im mittleren Management" zitiert Günther Vedder den berühmten Soziologen und Verwaltungsjuristen Niklas Luhmann (1927-1998) als Zeugen für strategisch-manipulatives Verhalten: "Termine und Fristen sind institutionalisierte Ausreden. Durch Berufung auf einen bestehenden Termin kann man sich neuen Engagements für den gleichen Zeitraum entziehen."
Der "Termin" soll laut Vedder "vor allem in schwer überschaubaren Leistungszusammenhängen geradezu ein Symbol für etwas Wertvolles" sein. Normale Arbeitsvorgänge erhielten durch die Aufschrift "Terminsache" besondere Aufmerksamkeit und signalisierten, dass die Pünktlichkeit, ein Ergebnis zu liefern, wichtiger sei als die Qualität der Arbeit.
Darin steckt einige Wahrheit, zumindest in der Management- und Dienstleistungsökonomie. Zwar ist es gewiss nicht so, dass am Ende nur für gute Qualität und nicht auch für deren pünktliche Lieferung gezahlt würde. Doch dürfte es heute im Management so viele Routinen geben, die durch Terminierung eine Hierarchie herstellen, aber kaum ernsthaften Inhalt haben – von Assessment Centers über Mitarbeitergespräche zu Evaluationsberichten und Teamkonferenzen – , dass "in der Wirtschaft" anarchistisches Unterlaufen oder aktives Ignorieren jedenfalls allzu formeller Termine trainiert wird, um überhaupt noch zum Arbeiten zu kommen.
Sollten sich Juristen also unverstanden fühlen, weil sie – wie im Nürnberger Fall – als formalistische Terminhüter wahrgenommen werden, ist das womöglich berufliches Schicksal.
Terminleiden des Juristenstandes an sich selbst
Wer glaubt, Richter in der Schweiz hätten weniger zu klagen als ihre Zunftgenossen anderenorts, irrt. Zwar verdient ein eidgenössischer Richter mit 126.000 Euro deutlich mehr als sein Kollege im "großen Kanton", der es nur auf rund 47.000 Euro jährlich bringt (Hinweis von RA Steiger).
Eine rechtspsychologische Untersuchung unter Richtern in der Schweiz zeigt jedoch, dass auch in der behäbigen Bergregion Zeitdruck zu den unangenehmen Seiten des Juristendaseins zählt. Unter dem Titel "Von der Normalität der richterlichen Arbeitsbelastung. Entscheidungen und Moraldilemmata als Alltag?" stellte Revital Ludewig-Kedmi, Rechtspsychologin an der Universität St. Gallen, 2008 erste Ergebnisse einer umfangreichen empirischen Erhebung vor. Demnach berichteten 56% der befragten Richter, "häufig" oder "sehr oft“ unter Zeitdruck zu stehen, 42,2% "manchmal" oder "selten". Angesichts des populären Bildes vom Richter als eines königlich-souverän über seinem Terminkalender schwebenden Justizbeamten ist eine Zahl die interessanteste: "Nur 1,3% der befragten Richter gaben an, nie unter Zeitdruck zu stehen."
Bemerkenswert nebenbei: Laut Ludewig-Kedemi blieb die Richterzahl in der Schweiz seit 70 Jahren stabil, während sich die Zahl der Prozesse binnen 40 Jahren verdoppelte.
Seite 2/2: Zeitnot kann zu juristischer Pathologie beitragen
Zeitnot als Problem der juristischen Professionen wird hierzulande für sich genommen eher selten thematisiert. Meist ist es eher praktisch bis lustig, wenn – wie in Nürnberg – Richter von Faxgeräten träumen, die von einer Atomuhr ferngesteuert werden, statt von gescheiten elektronischen Akten.
In den wirklich dramatischen Fällen wird hingegen ein – auch an Zeitnot gescheiterter – Kollege ausgegrenzt und durch strafrichterliches Urteil sozial vernichtet: Als das Landgericht Stuttgart am 14. November 2008 einen Richter wegen Rechtsbeugung zu drei Jahren sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilte (Az. 16 KLs 180 Js 10962/06; BGH, Beschl. v. 24.6.2009 Az. 1 StR 201/09) war – verständlicherweise! – viel von der Schändlichkeit seines Verhaltens die Rede, ohne die vorgeschriebenen Anhörungen Menschen durch Unterbringungsbeschlüsse ihrer Freiheit beraubt zu haben. Auf den jedenfalls diskussionswürdigen Aspekt seiner Verteidigung – ständige Zeitnot im Richteramt – kam, soweit erkennbar, die juristische Presse nicht zurück. Eher überwog die Befriedigung, dass hier auch einmal einer Krähe beide Augen ausgehackt wurden.
Die Schweizer Forschung ist – trotz der Vorläufigkeit ihrer Ergebnisse – deshalb kaum hoch genug zu loben, weil sie auch Aufschluss über die Zusammenhänge zwischen Zeitnot und moralisch problematischem Verhalten geben könnte. Das ist zwar keine ganz neue Fragestellung, doch hält Revital Ludewig-Kedemi fest, dass die Richterschaft, wie wohl auch die anderen juristischen Professionen, als Gegenstand rechtspsychologischer Untersuchungen bis in die 1990er-Jahre weitgehend vernachlässigt worden sei.
Juristische Dromologie als ernstes und unernstes Anliegen
Man darf vermuten, dass sich Richter, Staats- und Rechtsanwälte nicht mit den üblichen Untersuchungsgegenständen der Rechtspsychologie gemein machen lassen wollen – klassische Studien befassen sich ja eher mit Kriminellen und Querulanten.
Abhilfe könnte ein neuer Forschungsansatz bringen, der Phänomene des menschlichen Lebens konsequent unter dem Gesichtspunkt ihrer Geschwindigkeit betrachtet. Erfunden hat diese Sicht der Dinge der französische Philosoph Paul Virilio (Jg. 1932) als sogenannte "Dromologie". Der Begriff leitet sich ab aus "dromos" (gr. Rennbahn) und "logos" (gr. Wissen). Der Ansatz beansprucht, alle erdenklichen sozialen Felder – Technik, Medien, Militär – unter dem Gesichtspunkt ihrer zunehmenden Beschleunigung zu beschreiben.
Auf den ersten Blick ist das eine typische Franzosenphilosophie, leicht esoterisch und schwer feuilletonistisch. Wenn aber eine juristische Dromologie, also eine Betrachtung aller Dogmatik und Rechtspraxis unter dem Gesichtspunkt ihrer Geschwindigkeit dazu führen würde, sich im besten Sinn "un-verschämt" den psychologischen Pathologien der Zeitnot zu nähern, würde sie einen guten Dienst tun.
Bereiche, die mit moderner Methodik zu untersuchen wären, finden sich leicht. Der Bielefelder Bildungspsychologe Rainer Dollase verfolgt beispielsweise auf nicht-juristischem Gebiet sogenannte "temporale Muster", mit denen nicht nur "stechkartenmäßig" reale Handlungsabläufe in sozialen Organisationen erfasst werden, sondern auch "hypothetische, gewünschte oder ideale" Vorstellungen, die sich der Mensch von seinem Umgang mit der Zeit macht. Grob formuliert wird die "objektive" Zeiteinheit, wiedergegeben durch Uhr oder Kalender, mit dem subjektiven Empfinden – einem Leidens-, Erholungs-, Lern- oder anderen Nutzwert – ab- oder hochdiskontiert. Auf eine größere Zahl empfindender Menschen bezogen ergibt das sinnvolle Erkenntnisse.
Ein profanes Beispiel für "temporale Muster" ist die Akzeptanz von studentischen Stundenplänen: Ein kaum zu bewältigendes Studienprogramm von 20 Wochenstunden wird – statistisch nachweisbar – irrational schnell akzeptiert, wenn die 20 Stunden ohne größere Pausen in „Blöcken“ angeboten werden. Ein sinnvolleres Studienprogramm von 14 Wochenstunden verliert, weil es nicht in Zeitblöcken strukturiert wird.
Praktischer Nutzen und wilde Ideen
Unschwer auf den richterlichen Alltag zu übertragen ist die relativ freie Zeiteinteilung von Professoren. Weil die Freiheit der Zeiteinteilung das "temporale Muster" vermutlich bei Richtern wie Professoren stark "idealisiert", lässt sich gegen mögliche Ineffizienz schwer gegensteuern. Eine undogmatische Perspektive könnte hier zu erkennen helfen, wie weit sich das Ideal der Unabhängigkeit real in der Zeitnutzung ausdrückt.
Um zum Schluss aber noch einmal etwas unernst zu werden: Die dogmatische Betrachtung des Nürnberger Faxgeräts führt zu einem verbindlichen und vermutlich auch zu einem guten Ergebnis. Eine "dromologische" Analyse könnte den Blick aber dramatisch erweitern: Vielleicht trüge es ja zur Effizienz und zur Zufriedenheit aller Prozessbeteiligten bei, würden verspätete Berufungsbegründungen nicht harsch verworfen, sondern Fristverlängerungen überhaupt nur dann genehmigt, wenn der Anwalt dies in persönlicher Vorsprache und mit einem kalligraphisch gefertigten Schriftsatz, ein Blatt DIN A 4, begründen müsste. Ein Versuch in "slow justice" ließe sich ja in einem OLG-Bezirk mal machen.
Doch Spaß beiseite. Der kommende Sonntag ist der erste Advent. Wetten, dass das "temporale Muster" wieder einmal sagt: Bis Weihnachten ist ja noch viel Zeit und das Abarbeiten des Fristenbuchs macht auch gar keine Probleme?
Martin Rath, Geschwindigkeit in der Juristerei: Nachdenken über Zeitnot . In: Legal Tribune Online, 25.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7629/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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