Nicht nur als abgeschlossenes Sammelgebiet für Briefmarkensammler oder als Museum nachstalinistischer Kommunalpolitiker taugt die frühere DDR. Der Umbau der DDR-Wirtschaft nach 1990 erlaubt kriminalwissenschaftliche Grundlagenforschung – auch zu Ähnlichkeiten zwischen Verbrecher und Unternehmer. Eine Lektüre von Martin Rath.
Im Lawblog "De lege lata", einem Projekt Münchener Jurastudenten, klagte dieser Tage Roman Kaiser, Hilfskraft am Lehrstuhl von Hans-Jürgen Papier, über den Zustand der akademischen Rechtswissenschaft, die so recht keine Wissenschaft sei – so sehr, wie sie von examensrelevanter Dogmatik beherrscht wird, während schlichte Grundfragen, beispielsweise der Rechtstheorie ("Was ist Recht überhaupt?") viel zu kurz kommen.
Von empirischen Rechtswissenschaften nicht zu sprechen. Empirie begegnet den Bewohnern juristischer Fakultäten bekanntlich, wenn nicht in der Cafeteria (kaufrechtliche Grundlagenforschung) oder Raucherecke (diskriminierendes Ö-Recht), in Form kriminologischer Seminare. Die können von Strafrechtsdogmatikern im Nebenberuf betrieben werden und gelten als etwas exotisch: Da lernt man vier oder fünf Jahre seines Lebens, dass "Täter (T)" tatbestandlich ohne Zweifel getan hat, was auf dem Aufgabenblatt steht und die Tat forsch zu subsumieren ist. Dann kommt ein Gelehrter daher und erklärt, dass es sich um "Zuschreibungsprozesse", um "Labeling" handelt – die ganze schöne Subsumtion nichts weiter als ein Bekleben von Bösewichten mit strafrechtlichen Stigmata?
Kriminalwissenschaftliche Grundlagenforschung
Durch eine schöne Dissertation aus Münster, kein Justizthriller, aber allemal äußerst spannende Lektüre, erfährt man, dass die DDR gut zwanzig Jahre nach ihrem Verenden doch noch zu etwas nütze sein kann. Vorgelegt hat sie Ingo Techmeier 2011 unter dem Titel "Das Verhältnis von Kriminalität und Ökonomie. Eine empirische Untersuchung am Beispiel der Privatisierung ehemaliger DDR-Betriebe".
Mit dem politischen Ende der SED-Herrschaft war das sogenannte Volkseigentum in marktfähigere Besitzverhältnisse zu überführen. Im Vollzug dieser Aufgabe, mit der die Treuhandanstalt (kurz: THA) beauftragt wurde, taten sich juristische Abgründe auf. Techmeier hat mit zahlreichen damals beteiligten Unternehmern, Treuhandmitarbeitern, Polizisten/Staatsanwälten und – was sich als weniger fruchtbar erwies – Gewerkschaftsleuten gesprochen, systematisch Interviews erhoben und diese im Rahmen einer qualitativen rechtsempirischen Untersuchung ausgewertet.
Die Vorgänge in der THA-Niederlassung Halle illustrieren, was vielerorts in den wilden Jahren nach 1990 im Gebiet der früheren DDR vorging. Es bildete sich ein Netzwerk aus Treuhandleuten und Unternehmern aus dem Schwäbischen, die teils schon die Aufmerksamkeit der Stuttgarter Staatsanwaltschaft geweckt hatten. Ehemals volkseigene Betriebe wechselten den Eigentümer, Vermögensbestandteile wurden mit der Absicht entnommen, entweder das Unternehmen in der schwäbischen Heimat zu sanieren oder weitere ehemals volkseigene Betriebe zu akquirieren.
Techmeier stellt heraus, dass das nicht die nackte Gier war, wie es die vulgäre Kapitalismuskritik wissen will: Einer seiner damals beteiligten Informanten berichtete von einem Grundstücksgeschäft, das die THA-Niederlassung Halle abzuwickeln versuchte. Mindestens fünf Gutachten seien zu der Immobilie erstellt worden – mit erstaunlichen Unterschieden, was den Wert betrifft. Zwischen 2,6 und 13 Millionen Mark gaben die Gutachter an. Der gut vernetzte Kaufinteressent bot zwei Millionen, ein weniger gut vernetzter acht Millionen Mark.
DDR ohne Bilanzehrlichkeit, unbritische Eile
Der Wert eines Staates, seiner Volkswirtschaft samt ihrer kompletten Inneneinrichtung lässt sich unter den Bedingungen einer halbwegs funktionsfähigen Markt- und Geldwirtschaft nach Prinzipien beurteilen, die zuerst von italienischen Moraltheologen und Kaufleuten aufgeschrieben wurden und sich heute in §§ 252 ff. Handelsgesetzbuch (HGB) finden: Bewertungsehrlichkeit, Bewertung von Vermögensgegenständen höchstens zu Marktpreisen, eher vorsichtiger – alle kaufmännischen Grundsätze waren in der Planwirtschaft, teils auf ideologischen, teils aus pragmatischen Gründen über Bord gegangen. Wie sollte etwa der Betriebsleiter einer DDR-Waschmittelfabrik seine aus den 1920er-Jahren stammenden Fertigungsanlagen bewerten, die in der Mangelwirtschaft "noch gut" waren und ihren Dienst taten, deren Waschmittelausstoß aber von jeder westdeutschen Chemieanlage im Handumdrehen mit erledigt werden konnte?
Die Consultants, Berater, Treuhandleute, Unternehmer, die nun die "Schätze" des ehemaligen Volkseigentums zu bewerten hatten, griffen in ihrem Werturteil nicht allein aus Glücksrittertum daneben.
Hinzu kam, von Techmeier als wesentlicher "kriminogener" Faktor herausgestellt, die ungeheure Eile, mit der die Treuhänder das "Volkseigentum" zu privatisieren hatten. Sir Alan Walters (1926-2009), der als wirtschaftspolitischer Berater von Margaret Thatcher die Privatisierung der britischen Staatsbetriebe in den 1980er-Jahren begleitet hatte, bezeichnete es als "absurd", eine kommunistische Staatswirtschaft "binnen 500 Tagen" zu privatisieren, weil noch "500 Wochen" optimistisch bemessen seien. Der gesetzliche Auftrag an die THA ging auf knappe fünf Jahre.
Seite 2/2: Eile macht Unternehmer kriminell
Schon unter den Bedingungen einer funktionierenden Marktwirtschaft haben der Unternehmer und der Kriminelle eine Eigenschaft gemeinsam – auf hohem Abstraktionsniveau –: beide erreichen einen Vorteil nur, indem sie von einer Norm abweichen. Im Fall des Unternehmers ist dies eine Innovation in Form einer technischen Entwicklung, wichtiger noch: einer Innovation in Gestalt einer entdeckten einer Chance am Markt, die noch kein Wettbewerber erkannt hat.
Unter den gewöhnlichen Umständen einer halbwegs funktionierenden Markt- und Geldwirtschaft wird der Unternehmer sorgfältig mit dem "Normbruch" – beispielsweise in Form einer neuen, aggressiven Vermarktungsstrategie – umgehen. Seine kaufmännische Reputation, die ihm am Markt einige Transaktionskosten erspart – der deutsche Unternehmer liefert lieber wie bestellt, nicht wie ein US-Geschworenengericht den Leistungsumfang definiert – ist zu wichtig, als sie durch Geschäftspraktiken zu gefährden, die unter die Tatbestände von Betrug, Unterschlagung oder Nötigung subsumiert werden könnten. Vermutlich stöhnte manch mittelständischer Unternehmer über die "Erpressung" durch die großen Kfz-Hersteller, als in den 1980er-Jahren die Fertigungsprozesse auf "just in time" umgestellt wurden, und ihnen die Effizienzberater der mächtigen Vertragspartner engmaschigste Vorgaben für ihre Fertigungs- und Lieferungsprozesse machten. Vor einem Strafgericht ist das nie verhandelt worden.
Verbrecher können künftige Moral vorwegnehmen
Unter "künstlichem" Druck durch den Zusammenbruch der allgemeinen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen konnten Unternehmer hingegen den Wert ihrer Reputation schon einmal vergessen – so unter den von Techmeier dargestellten Verhältnissen im Gebiet der früheren DDR. Seine historische Analyse bleibt aber nicht bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der DDR-Privatisierung stehen, die in seinen Fallanalysen auch mit Darstellungen von Unternehmensprivatisierungen ohne juristischen Fehl und Tadel abgeglichen werden.
Die Dissertation bereitet regelrecht Vergnügen, wenn in einem historischen Exkurs die grausamen Märchen kritisiert werden, die Michel Foucault (1926-1984) erfolgreich verbreitet hat: Der sehr französische Philosoph prägt die Vorstellung vieler Nichtjuristen vom Strafrecht – als einer Veranstaltung, die den modernen Menschen zu Arbeitssklaven des Kapitalismus gemacht habe, um den Meisterdenker mäßig polemisch zuzuspitzen. Bei Techmeier bleibt davon nunmehr so viel:
"Historisch wurde das Strafrecht entwickelt, um jene Person zu stigmatisieren, die mittels der Kommunikation über ihre geschäftliche Reputation nicht zu disziplinieren ist: 'Den Unterschichtskriminellen'."
Das drohende Bild des "Unterschichtskriminellen", der nichts zu verhandeln hat, lässt Unternehmer bei strafrechtlich subsumierbaren Vorgängen "extrem hohe Ressourcen" einsetzen, "um nach Möglichkeit bereits das Ermittlungsverfahren … zeitig zu beenden". Als den tieferen Grund dafür, dass Konflikte zwischen Unternehmern – trotz möglicher Subsumierbarkeit unter die einschlägigen Normen – selten vors Strafgericht kommen, benennt Techmeier die Notwendigkeit, später noch Geschäfte miteinander machen zu können.
Angesichts der enormen Fleißarbeit einer empirischen rechtswissenschaftlichen Doktorarbeit möchte man (von einer Handvoll Tippfehlern abgesehen) kaum mäkeln. Vielleicht wäre etwas mehr Mut zur – prognostischen – Einordnung von Wirtschaftsdelinquenz in Deutschland angebracht. Der Münchener Arbeitsrechtler Volker Rieble notierte beispielsweise für die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift "myops" (16, S. 46–59) ein Gänsehaut erregendes Verlaufsprotokoll des Rückkaufs der EnBW-Aktien durch den gewesenen Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, Stefan Mappus, unter denkwürdiger Missachtung kaufmännischer, haushälterischer und anwaltsethischer Normen.
Unternehmer wie Kriminelle müssen innovativ sein, um Erfolg zu haben, formulierte Techmeier, Normbruch lässt sich als Innovation betrachten. Gegen die vorschnelle moralische Verurteilung des Normbruchs fand er bei Émile Durkheim (1858-1917) den schönen Satz, dass das Verbrechen eine "Antizipation der zukünftigen Moral sein" kann.
In Zeiten der Euro-Krise, der Osterweiterung der Europäischen Union sowie der Forderung, ganze Volkswirtschaften sollten – zackzack – durch Privatisierung saniert werden, fragt sich, welche gegenwärtige Moral jene Manager, Unternehmer, Consultants und Politiker antizipiert, vorweggenommen haben, die vor 20 Jahren die DDR-Wirtschaft – zackzack – sanierten.
Am Fall Mappus illustriert Rieble, wie künstlich erzeugter Zeitdruck zu möglicherweise strafwürdigem Fehlverhalten führt, so wie Techmeier die im politisch-ökonomischen Desaster entstandene Zeitnot als "kriminogen" identifiziert.
Die Eile hat, nach einem islamischen Sprichwort, der Teufel erfunden. Was aber eilt heute und wo stecken die Teufelsanbeter aktuell?
Literaturhinweise:
Ingo Techmeier: "Das Verhältnis von Kriminalität und Ökonomie. Eine empirische Studie am Beispiel der Privatisierung ehemaliger DDR-Betriebe", VS Verlag für Sozialwissenschaften / Springer, Wiesbaden 2012 | Die Zeitschrift "myops" erscheint im 4-Monatsrhythmus bei C.H. Beck.
Martin Rath, Wirtschaftskriminalität: Innovationskraft des Wirtschaftskriminellen . In: Legal Tribune Online, 16.09.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7085/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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