Am 3. Mai 1945 versenkte die britische Luftwaffe in der Lübecker Bucht die Cap Arcona, wobei Tausende auf dem Schiff gefangene KZ-Häftlinge ums Leben kamen. Ein mutmaßlicher Überlebender suchte 16 Jahre später vor dem BGH sein Recht.
Die Versenkung der Cap Arcona, eines 1927 gebauten Passagierschiffs, und der Thielbek, eines Frachtschiffs in ihrer Nachbarschaft, zählt zu den besonders schmerzhaften Ereignissen der letzten Tage des Zweiten Weltkriegs in Europa.
Fünf Tage vor dem "Victory in Europe Day" – der Krieg in Asien sollte noch bis in den August fortgesetzt werden – griffen Flugzeuge der Royal Airforce die beiden zwischen Neustadt in Holstein und Travemünde liegenden Schiffe an. Dabei kamen insgesamt über 7.000 Menschen ums Leben. Im April 1945 waren die völlig überfüllten Dampfer als letzter Leidensort von Häftlingen insbesondere des KZ Neuengamme bei Hamburg und von Überlebenden eines Todesmarschs aus einem Außenlager des KZ Auschwitz genutzt worden. Die Sterblichkeit unter ihnen war hoch, doch schien Land in Sicht.
Der britische Angriff erfolgte in der Annahme, es mit militärisch genutzten Schiffen zu tun zu haben. Zu Tode kamen die Gefangenen der Cap Arcona und der Thielbek durch britische Bomben oder, ohnehin völlig entkräftet, im kalten Wasser der Lübecker Bucht. Besatzungen deutscher Schiffe sollen zudem auf die Menschen in Seenot das Feuer eröffnet haben.
Ereignisse als "tragisch" zu bezeichnen, hat sich in vielen heutigen Medien leider für jeden Verkehrsunfall mit Todesfolge eingebürgert. Die Ereignisse des 3. Mai 1945 muten indes tatsächlich tragisch an. Berlin war bereits in sowjetischer Hand, in Hamburg und Lübeck standen britische Truppen. Das Konzentrationslager überlebt zu haben, um wenige Tage vor dem Kriegsende in Europa durch militärische Gewalt der Befreier getötet zu werden, hat das Attribut "tragisch" hingegen wohl verdient.
Überlebender der Cap Arcona begehrt seit 1954 Entschädigung
Einen leicht makabren, wenn nicht tragikomischen Zug nahm 16 Jahre später eine juristische Nachgeschichte zur Versenkung der Cap Arcona an, die sich im Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 12. April 1961 (Az. IV ZR 191/60) dokumentiert findet.
Der Kläger dieses Verfahrens zählte sich zu den Überlebenden der Cap Arcona. Er gab an, zwischen April und Oktober 1934 im KZ Fuhlsbüttel bei Hamburg, zwischen April 1937 und Juli 1941 im KZ Oranienburg bei Berlin und zwischen November 1942 und der Befreiung 1945 in den KZ Neuengamme, Farge bei Bremen, schließlich auf der Cap Arcona inhaftiert gewesen zu sein, deren Versenkung er überlebt habe.
1954 beantragte er erfolglos bei der zuständigen Behörde in Kiel, eine Entschädigung wegen des Gesundheitsschadens zu erhalten, der ihm durch die Misshandlungen in den Konzentrationslagern zugefügt worden war. Im späteren Verfahren begehrte er auch eine Entschädigung wegen der erlittenen Haft.
Die Rechtsgrundlage bot das Bundesentschädigungsgesetz (BEG), das in § 1 Abs. 1 definiert:
"Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung ist, wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in seinem beruflichen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat (Verfolgter)."
§ 6 BEG regelte, dass von der Entschädigung auszuschließen sei, wer der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen angehört oder der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Vorschub geleistet hatte. Eine Ausnahme von der Ausnahme mochte gemacht werden, wenn der Betreffende "unter Einsatz von Freiheit, Leib oder Leben" gegen diese Herrschaft gekämpft hatte.
Oberlandesgericht Schleswig will einen Hitler-Gegner erkannt haben
Was der vormalige KZ-Häftling zu den Gründen seiner Gefangenschaft und Misshandlung angegeben hatte, überzeugte erst das Oberlandesgericht Schleswig, während die Entschädigungsbehörde und das Landgericht ihn nicht als NS-Verfolgten hatten anerkennen wollen.
Die Sache des Klägers nahm sich – wie der BGH referierte – aber tatsächlich eigenartig aus.
Zu seiner letzten Inhaftierung sei es gekommen, nachdem er 1942 in einer Gastwirtschaft Bemerkungen zum bereits verlorenen Krieg gemacht habe. Das mutwillige Abreißen von NSDAP-Plakaten soll Grund für die KZ-Haft der Jahre 1937 bis 1941 gewesen sein. Dass die Geheime Staatspolizei ihn bereits seit 1934 – dem Jahr seiner ersten KZ-Haft – als NS-Gegner im Blick gehabt habe, sei auf seine Zugehörigkeit zum Tannenbergbund zurückzuführen gewesen.
Spätestens das ließ den BGH stutzig werden.
Sich wegen der Zugehörigkeit zum Tannenbergbund auf eine NS-Feindschaft zu berufen, wirkt ein wenig wie die sarkastische Frage, die der Satiriker Wiglaf Droste (1961–2018) zum 50. Jahrestag des 20. Juli 1944 formulierte: "War Hitler Antifaschist?"
Zu fragen sei das, wie Droste 1994 über verdrehte Rechtfertigungsversuche von Mitläufern und Mittätern spottete, weil bekanntlich die Alliierten den Zweiten Weltkrieg nicht hätten gewinnen können, wenn Hitler den Krieg nicht begonnen hätte. Irgendwie sei damit doch auch Hitler ein Antifaschist gewesen.
Völkisch-deutschnationaler Tannenbergbund
Beim Tannenbergbund hatte es sich in der Weimarer Republik und im frühen NS-Staat um eine rechtsextreme, völkisch-deutschnationale Vereinigung unter der Schirmherrschaft von Erich Ludendorff (1865–1937) gehandelt. General Ludendorff war im Ersten Weltkrieg die Rolle eines faktischen Diktators des Deutschen Reichs zugewachsen. 1923 beteiligte er sich am misslungenen Putsch Hitlers. In der Folgezeit stand er im Konkurrenz zu Hitler, wobei Ludendorff versuchte, die NSDAP namentlich im Antisemitismus und in Verschwörungstheorien zur vorgeblichen Macht der Freimaurerei rechts zu überholen. Die tatkräftige und fanatische Frau an seiner Seite, Mathilde Ludendorff (1877–1966), eine Lehrerin und Ärztin, die als Vertreterin einer "völkischen Frauenbewegung" bis heute aus der gerne hagiographischen feministischen Hausgeschichtsschreibung ausgeklammert bleibt, sollte die Wahnideen der "Ludendorff-Bewegung" noch nach dem Zweiten Weltkrieg aktiv fortführen.
Obwohl also der Tannenbergbund für eine Weltsicht stand, in der selbst Hitler noch als verkappter Liberaler galt, hatte sich der Kläger darauf berufen, dieser Vereinigung als liberal-bürgerlicher Außenseiter angehört, sich mit der radikal antisemitischen Tendenz der Ludendorffs nicht identifiziert zu haben. Das OLG Schleswig folgte ihm in dieser Darstellung, auch weil § 176 Abs. 2 BEG einen gewissen Wohlwollen des Gesetzgebers dokumentiert:
"Kann der Beweis für eine Tatsache infolge der Lage, in die der Antragsteller durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen geraten ist, nicht vollständig erbracht werden, so können die Entschädigungsorgane diese Tatsache unter Würdigung aller Umstände zugunsten des Antragstellers für festgestellt erachten.“
Zugesprochen wurde dem Mann vom OLG Schleswig durch Teilurteil vom 3. Februar 1960 zunächst eine Entschädigung wegen Schadens an Freiheit in Höhe von 12.900 Mark – um dies einzuordnen: Von dem Geld hätte er sich in diesem Jahr drei Standard- oder zwei Cabrio-Modelle des VW Käfer kaufen können. Vielen Opfern der NS-Herrschaft sollte es deutlich schlechter ergehen.
BGH fragt, ob es sich nicht um einen "Asozialen" gehandelt habe
Woher die freundliche Anwendung von § 176 Abs. 2 BEG seitens des OLG Schleswig rührte, lässt sich nur vermuten. Denkbar ist, dass die im Bundesvergleich sehr starke Präsenz von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in Verwaltung und Justiz des Landes eine Rolle spielte. 1989 äußerte sich die Landesregierung in Kiel hierzu selbstkritisch, in Schleswig-Holstein habe nach 1945 eine regelrechte "Renazifizierung" stattgefunden. Besonders bekannt geworden ist die Tätigkeit des Arztes Werner Heyde (1902–1964) in Flensburg, der als Mörder an Psychiatrie-Patienten nun, zwar unter falschem Namen, aber mit dem Wissen von Kollegen zu seiner Vergangenheit, Gutachten für die Sozialversicherung schrieb. In einem solchen Umfeld mochte es naheliegen, die Spottfrage Drostes für sich selbst und seinesgleichen zu bejahen.
Worin auch immer die Motive der Schleswiger Richter gelegen haben mochten, der BGH hielt ihren Umgang mit den widersprüchlichen Angaben des erklärten Cap-Arcona-Überlebenden zu dessen Gunsten für nicht vertretbar.
Zum einen gaben sie dem Oberlandesgericht auf, konkret zu prüfen, ob sich der zentrale Teil der Geschichte des Mannes glaubwürdig halten ließ. Gänzlich undenkbar sei es zwar nicht, dass ein Anhänger der extrem antiliberalen und antisemitischen Ludendorff-Bewegung – deren Nachkriegsorganisationen seit den 1960er Jahren verboten wurden – in irgendeiner Form widerständig gewesen sei. Das müsse jedoch in einer neuen Verhandlung überhaupt erst einmal schlüssig dargelegt werden.
Zum anderen monierten die BGH-Richter, dass die Kollegen in Schleswig die Angaben des Mannes nicht gewürdigt hatten, nach denen er wegen Diebstahls erheblich vorbestraft war. Ein Blick in die alten Strafakten könnte erweisen, dass er daher seit 1942 als "Asozialer", nicht als politischer Gefangener in KZ-Haft gekommen sei.
Wie sodann der "zweite Durchgang" vor dem Oberlandesgericht endete, ist allem Anschein nach nicht überliefert.Immerhin, der Deutsche Bundestag sollte die sogenannten "Asozialen" und "Berufsverbrecher" mit Beschluss vom 13. Februar 2020 als NS-Verfolgte anerkennen – erklärtermaßen ohne Differenzierung (Stenografischer Bericht, S. 18.325–32). Der Beschluss enthält, 60 Jahre, nachdem die Zuziehung von Strafakten der NS-Justiz zur Qualifizierung von KZ-Haftgründen empfohlen wurde, den klaren Satz: "Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält und ermordet."
Haushaltswirksam kann der Satz kaum noch werden.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Entschädigung wegen erlittener KZ-Haft: . In: Legal Tribune Online, 03.05.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41472 (abgerufen am: 14.12.2024 )
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