Das OVG Schleswig will syrische Flüchtlinge im Normalfall nur subsidiär schützen. Außerdem in der Presseschau: Diskussion um Scharia-"Polizei", StA Köln ermittelt wegen NSU-Aktenvernichtung und Vorschlag für ein Wahlfach Legaltech.
Thema des Tages
OVG Schleswig zu syrischen Flüchtlingen: Allein der Auslandsaufenthalt und die Asylantragstellung eines syrischen Flüchtlings reichen nicht aus, um Asyl zu gewähren – vielmehr bedürfe es besonderer Anhaltspunkte einer politischen Verfolgung. Mit dieser Entscheidung bestätigte das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht die Praxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Syrer sollen im Normalfall nur subsidiären Schutz erhalten. Das Gericht sieht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass die syrische Regierung Rückkehrer aus westlichen Ländern grundsätzlich zur Opposition zählt und politisch verfolgt. Bislang hatten die Verwaltungsgerichte in der ersten Instanz hier unterschiedliche Auffassungen vertreten, wobei überwiegend Asyl gewährt wurde. Dies ist die erste Entscheidung eines OVG in dieser Sache. Die Revision ist nicht zugelassen. Die SZ (Wolfgang Janisch) schreibt, das Urteil komme angesichts der Entscheidungen der Verwaltungsgerichte einigermaßen überraschend. Auch die Welt (Marcel Leubecher) und lto.de (Tanja Podolski) berichten.
Subsidiär Geschützte dürfen erst nach zwei Jahren ihre Familie nachholen – syrische Flüchtlinge müssen daher mit gravierenden Folgen rechnen, wenn sich die Rechtsauffassung des OVG durchsetzt, mahnt Klaus Hempel (tagesschau.de). Er hebt hervor, dass die unteren Verwaltungsinstanzen die Situation anders beurteilten und empfindet es als sehr unbefriedigend, dass es hier keine einheitliche Rechtsprechung gebe. Diese könne nur vom Bundesverwaltungsgericht kommen. Hempel weist darauf hin, dass die Beschwerdefrist gegen die Nichtzulassung der Revision noch einen Monat laufe. Auch Gudula Geuther (deutschlandfunk.de) betont, es gehe hier eigentlich nicht um die möglichen Übergriffe durch den syrischen Staat, sondern darum, dass die nach Deutschland geflüchteten Syrer auch ihre Familie in Sicherheit bringen könnten. Der verspätete Familiennachzug für subsidiär Schutzwürdige verstoße gegen den besonderen Schutz der Familie. Eine Entscheidung aus Leipzig wäre gut für Rechtsklarheit. Aber hier sei eigentlich der Gesetzgeber gefragt.
Rechtspolitik
Kinderrechte ins Grundgesetz: "Kinder und Jugendliche haben als eigenständige Persönlichkeiten ein Recht auf Achtung ihrer Würde, auf gewaltfreie Erziehung und besonderen Schutz" – so könnte eine Ergänzung von Artikel 6 Grundgesetz klingen. Die FAZ (Mona Jaeger) erklärt, warum dies nicht nur Symbolpolitik wäre. Das Verfassungsrecht entwickle eine "Strahlkraft in die gesamte Gesellschaft". Zudem überwögen Elternrechte Kinderrechte derzeit auch deswegen, weil sich erstere im GG finden.
Datenschutzreform: Thomas de Maizière (CDU) plant, Kontrollrechte von Datenschutzbehörden und Bürgern einzuschränken – Geheimnisträger sollen nicht mehr darauf hin geprüft werden, ob sie Daten bewusst weitergeben. Möglich sei dies durch einen Interpretationsspielraum der EU-Datenschutzverordnung, schreibt die SZ (Kristiana Ludwig) und stellt den Gesetzentwurf vor. Die Deutsche Vereinigung für Datenschutz moniert eine Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung.
Straftatbestand für Scharia-"Polizei": "Soll die Scharia-Polizei bestraft werden?" Zu dieser Frage stellt die Zeit zwei konträre Positionen vor: "Ja", meint Jochen Bittner. Es bestehe eine Regelungslücke im Strafrecht. Denn obwohl die Salafisten in Warnwesten "karnevalesk" anmuten können, enthalte ihr Auftreten genug Gewalt, um verhaltensändernd zu wirken. Sie signalisierten, dass sie Regeln trotz der Exekutivgewalt des Staats notfalls mit Zwang durchsetzen wollten. Der Weg über das Strafrecht sei verhältnismäßig: Der liberale Rechtsstaat habe dort, "wo dessen Grundlagen angegriffen werden", "scharfe Grenzen" zu ziehen. "Nein", antwortet hingegen Heinrich Wefing: "Würde der Rechtsstaat sich für alle Spinner einen eigenen Straftatbestand überlegen – er würde kollabieren." Auch salafistische Ideologen könnten daher den öffentlichen Raum nutzen, solange sie keine Gewalt anwendeten – denn dann kennte auch das Strafrecht eine Antwort. Bis dahin gebe es keine Rechtslücke, sondern "Freiheit".
Justiz
BVerfG zu Yahoo-Verfassungsbeschwerde: Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde des Suchmaschinenbetreibers Yahoo gegen das Leistungsschutzrecht für Presseverleger für unzulässig erklärt. Die Karlsruher Richter argumentierten, es könne den Klägern zugemutet werden, den ordentlichen Rechtsweg auszuschöpfen. tagesschau.de (Klaus Hempel) und lto.de geben die Entscheidung wieder.
OLG München – NSU: Wie spiegel.de (Björn Hengst) und SZ (Wiebke Ramm) schreiben, habe Wohllebens Verteidiger Wolfram Nahrath im NSU-Verfahren erneut "rechtsextremistische Propaganda" betrieben. Er will den Historiker Olaf Rose, der NPD-Mitglied ist, als Sachverständigen hören, um so zu beweisen, dass der ehemalige Reichsminister Rudolf Heß eigentlich als Friedenskämpfer agierte. Der Nebenklagevertreter Schön meint, so entlarve der Verteidiger seine politische Gesinnung: Eine "unglaubliche Sauerei".
StA Köln – NSU-Aktenvernichtung: Die Staatsanwaltschaft Köln ermittelt nun doch wegen des Verdachts der Urkundenunterdrückung und des Verwahrungsbruchs gegen den ehemaligen Referatsleiter der Abteilung Rechtsextremismus im Bundesamt für Verfassungsschutz mit dem Tarnnamen Lothar Lingen. Nachdem die StA das Verfahren Anfang November einstellen wollte, ordnete sie jetzt nach weiteren Hinweisen eines Journalisten kurz vor Ablauf der Verjährungsfrist eine Vernehmung an. Bei dieser äußerte "Lingen" sich nicht zu den Vorwürfen. Der Beschuldigte hat, wie es heißt, nach Auffliegen des NSU im November 2011 Akten über V-Männer vernichten lassen. spiegel.de (jpz) berichtet.
OLG Düsseldorf – Sven Lau: Im Strafverfahren wegen Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf hat der Zeuge Ismail I. Sven Lau schwer belastet. Der Angeklagte solle ihn für die islamistische Terrormiliz Jamwa angeworben haben. FAZ (Reiner Burger) und taz (Sabine am Orde) schreiben über die Aussage.
Kritik an der Strafjustiz: "Die volle Härte des Gesetzes heißt heute oft, wir stellen von Straftätern die Personalien fest, und Richter lassen sie wieder frei." Der Vorsitzende der deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt fordert daher etwa, die Ausbildung und Berufung von Richtern zu überprüfen. Er reagiert damit auf die Gewalttat an einer Frau in Hameln – der Täter sei bereits mehrfach durch Gewaltdelikte aufgefallen und nie inhaftiert worden. spiegel.de gibt seine Kritik an der deutschen Strafjustiz wieder, weist aber darauf hin, dass Wendts Positionen zur inneren Sicherheit umstritten seien.
In einem weiteren Beitrag gibt spiegel.de (Ansgar Siemens/Jean-Pierre Ziegler) bereits die Replik wieder: So betont die Staatsanwaltschaft Hannover, der Täter habe keine Gewaltkarriere. Der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbunds Sven Rebehn rügt Wendt: "Das ist den Kollegen aus der Justiz gegenüber ehrabschneidend". Seine Aussagen seien purer Populismus.
LG Bochum – Werner Mauss: "Wo Mauss' Spuren sichtbar werden, riecht es nach Ärger." Anlässlich des Strafverfahrens gegen den ehemaligen V-Mann Werner Mauss wegen Steuerhinterziehung widmet sich die Zeit (Thomas E. Schmidt) ausführlich dem "am wenigstens geheimen Geheimdienstagenten". Diesem drohen bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe, weil er in den Jahren von 2009 bis 2013 rund 15,2 Millionen Euro Einkommensteuer hinterzogen haben soll.
Recht in der Welt
Großbritannien – Mord an Jo Cox: Ein Londoner Strafgericht hat Thomas M. wegen Mordes an der britischen Labour-Abgeordneten Jo Cox zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, melden unter anderem spiegel.de und focus.de. Er hatte die EU-Befürworterin eine Woche vor dem Brexit-Referendum auf offener Straße erschossen und soll aus politischen Gründen gehandelt haben.
Karenzzeit für EU-Kommissare: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will die Karenzzeit für ehemalige Mitglieder der EU-Kommission auf zwei Jahre erhöhen. In diesem Zeitraum sollen sie dazu verpflichtet sein, der Behörde die Annahme einer neuen Stelle mitzuteilen, so SZ (AM) und spiegel.de.
Kambodscha – Rote Khmer: Ein Sondertribunal zu den Verbrechen der Roten Khmer hat die Berufung zweier Verantwortlicher abgelehnt und damit die lebenslange Haft bestätigt. Der Stellvertreter des Regimeführers Pol Pot und der Staatspräsident der Roten Khmer wurden im August 2014 wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in mehreren Fällen verurteilt, melden zeit.de und FAZ (Till Fähnders).
Ukraine – Maidanopfer: Die SZ (Cathrin Kahlweit) befasst sich mit den Strafverfahren gegen fünf Männer, die unter dem Verdacht stehen, den Tod von 48 Menschen und die Verletzung 80 weiterer Menschen bei dem Maidan-Aufstand 2014 zu verantworten. Vier von ihnen gehörten einer polizeilichen Sondereinheit an, der fünfte arbeitete für einen Sicherheitsdienst. 21 weitere Angeklagte hätten sich, wie auch viele Verdächtige, abgesetzt. Das Swjatoschenskij-Gericht in Kiew ist eines von mehreren, das derzeit die "vielleicht wichtigsten Strafverfahren des Landes" verhandelt.
Juristische Ausbildung
Wahlfach Legal Tech: Wie könnte ein Wahlfach Legal Tech aussehen? Dies veranschaulicht der Promotionsstudent Daniel Mattig in einem juwiss.de-Beitrag. Vorher führt er in die Thematik Legal Tech ein und erläutert, warum Juristen nicht an der "'Revolution' unseres Rechtssystems" vorbeikämen.
Sonstiges
Reichsbürger unter Beobachtung: Wolfgang Janisch (SZ) begrüßt die Entscheidung von Landes- und Bundesverfassungsschutz, Reichsbürger, "Fundamentalisten der Staatsverneinung", zu beobachten. Er schildert allerdings, warum die Heterogenität der Bewegungen und Gruppierungen den Umgang der Behörde mit dem "rechten Rand" erschwere und warnt davor, allzu schnell eine Beobachtung zu veranlassen. Die AfD sei jedenfalls bisher kein Fall für den Verfassungsschutz. In Sachen AfD gelte es, die Verfassung durch öffentlichen Diskurs zu schützen.
Auch Gabriela Keller (taz) befürwortet, dass Reichsbürger nun unter Beobachtung stehen. Die Sorge, dass sich aus diesem Milieu Terrorzellen bildeten, sei berechtigt, nachdem manche den deutschen Staat destabilisieren wollten, um das Deutsche Reich neu entstehen zu lassen. Sie unterstreicht, dass es wichtig wäre, eine Ausstiegshilfe für "weniger gefestigte Anhänger" zu schaffen.
Gekaufte Politikergespräche: Dem Tsp (Jost Müller-Neuhof) liegt das Rechtsgutachten vor, das der Göttinger Rechtswissenschaftler Hans Michael Heinig für die SPD in Sachen bezahlter Politikergespräche erstellt hat. Anlass für das Gutachten war allerdings Kritik der SPD an der Vermarktung von CDU-Politikern im Jahr 2010. Das Gutachten warnt ausdrücklich: "Es verstößt daher per se gegen das Prinzip demokratischer Willensbildung, wenn eine Partei Dritten gegen Bezahlung Rechtsansprüche auf Gespräche mit Abgeordneten und Regierungsmitgliedern einräumt."
"Religionsfreiheit neu denken": In einem Gastbeitrag für die FAZ formuliert der bayerische Justizminister Bausback (CSU) seine Befürchtung, eine zu weite Auslegung der Religionsfreiheit könne eine zu weite Einschränkung anderer Grundrechte bedingen. Anlass dafür sieht er in den verfassungsrechtlichen Fragen rund um Vollverschleierung und politischen Islam. Um die Allgemeinheit vor beeinträchtigender islamischer Religionsausübung zu schützen, rät er, "offene Kommunikation" zum Verfassungsgut zu erklären und ihr in fraglichen Fällen Vorrang zu gewähren.
Interview mit Ex-BND-Chef: Im Interview mit der BerlZ (Markus Decker) spricht der ehemalige Chef des Bundesnachrichtendienstes Gerhard Schindler unter anderem über NSA- und BND-Skandal, Massenüberwachung, Snowden, Sicherheitspolitik und seine Arbeit beim Geheimdienst.
Unternehmensskandale: Fachanwalt für Medienrecht Ansgar Koreng lotet auf lto.de die Möglichkeiten aus, mit denen Unternehmen gegen negative Berichterstattung vorgehen können. Das Presserecht gebe den Juristen "einen gut gefüllten Werkzeugkoffer an die Hand". Koreng kennt jedoch weitere Taktiken, die vor einer rechtlichen Auseinandersetzung ratsam sein können.
Fachleutekommission al-Bakr: Die FAZ (Stefan Locke/Reinhard Müller) erläutert die Besetzung, den bisherigen Stand und mögliche Konsequenzen der Ermittlungen der Fachleutekommission zum Fall al-Bakr. Ihr Auftrag ist es, den Fall al-Bakr von der Fahndung, über die Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden und das gesamte Strafverfahren bis zu den Standards der Suizidprävention zu untersuchen. Es zeichne sich bereits ab, dass die Pauschalkritik an den sächsischen Behörden übertrieben war.
Bonirückforderungen: Anlässlich der Rückforderung von Manager-Boni durch die Deutsche Bank beleuchtet die Fachanwältin für Arbeitsrecht Daniela Hangarter auf lto.de die entsprechenden rechtlichen Möglichkeiten. Sie erklärt insbesondere, wie geplante "Claw-Back-Regelungen" bereits gezahlte Boni zurückholen können. Ackermann, Jain und Fitschen werden demnach – so ihre Einschätzung – die ausgezahlten Beträge behalten können.
Das Letzte zum Schluss
Ein Hoch auf die Ehrlichkeit: Wie würden Sie handeln, wenn Sie 30.000 Euro auf Ihrem Weg zu Arbeit fänden? Völlig klar, oder? Sie würden wie sechs Schüler aus Gundelfingen (Nähe Freiburg) das Geld sofort zur Polizei bringen. Die 12- und 13-Jährigen fanden auf ihrem Schulweg bündelweise Bargeld und machten, ohne lange zu überlegen, einen Umweg zur nächsten Polizeistation. Der Beamte hatte nicht nur großes Lob für die Jugendlichen übrig, sondern schrieb ihnen auch eine Entschuldigung – ein Zuspätkommen wegen Ehrlichkeit sollte ihnen ja keinen Ärger mit den Lehrern einbringen, meldet spiegel.de.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/vb
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 24. November 2016: Kein Asyl für syrische Flüchtlinge? / Wahlfach Legal Tech? / Straftatbestand gegen Scharia-"Polizei"? . In: Legal Tribune Online, 24.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21286/ (abgerufen am: 08.05.2024 )
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