Der EuGH hält die anlasslose Vorratsdatenspeicherung für europarechtswidrig. Außerdem in der Presseschau: Zschäpes Verteidigung stellt einen Befangenheitsantrag gegen das Gericht und Udo Di Fabio schreibt über Religion und Verfassung.
Thema des Tages
EuGH zu Vorratsdatenspeicherung: Der Europäische Gerichtshof befand die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsdaten in Schweden und Großbritannien für europarechtswidrig, wie die SZ (Wolfgang Janisch), die FAZ (Hendrik Wieduwilt), die taz (Christian Rath), das Hbl (Dana Heide), spiegel.de (Dietmar Hipp u.a.) und lto.de berichten. Dieser Grundsatz gelte in der gesamten Europäischen Union und habe damit auch Auswirkungen auf die ab Juli 2017 in Deutschland vorgesehene Vorratsdatenspeicherung. Damit hat der Europäische Gerichtshof nicht nur die Hürden für den Zugriff auf die gespeicherten Daten erhöht, sondern die Speicherung an sich in Frage gestellt. Es dürfe nur "gezielt" und nur noch das "absolut Notwendige" gespeichert werden. Anlässe könnten die regionale Speicherung an Kriminalitätsschwerpunkten und die Speicherung von Daten bestimmter Personenkreise sein, wie etwa "Gefährdern". Die Sicherheitsbehörden dürften aber nur bei der Verfolgung schwerer Straftaten auf die Daten zugreifen und auch nur dann, wenn dies von Gerichten zuvor genehmigt worden sei.
Wolfgang Janisch (SZ) begrüßt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, es habe Klarheit in den Streit um die Vorratsdatenspeicherung gebracht und sei ein "weitsichtiges Urteil für die Rechtsstaatlichkeit in Europa". Auch Christian Rath (taz) lobt die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes, die Europäische Union gewinne mit diesem als "freiheitliche Wertegemeinschaft" an Gewicht. Reinhard Müller (FAZ) stellt fest, eine Vorratsdatenspeicherung beinhalte keinen Generalverdacht. Wenn der Staat aber nicht einmal die festgestellten "Gefährder" unter Kontrolle habe, könne er auch nicht glaubwürdig mehr allgemeine Überwachung fordern.
Rechtspolitik
Sicherheit im öffentlichen Raum: Wie spiegel.de und lto.de melden, hat das Bundeskabinett ein Gesetzespaket auf den Weg gebracht, das die Sicherheit im öffentlichen Raum erhöhen soll. Unter anderem sollen die private Videoüberwachung öffentlicher Räume erleichtert und Bodycams bei Bundespolizisten sowie Lesesysteme für Autokennzeichen eingesetzt werden. Außerdem sei ein Verschleierungsverbot für Beamte geplant.
Videoüberwachung: Der Linkspolitiker und ehemalige Kriminalpolizist Frank Tempel bezweifelt in einem Interview mit der taz (Ulrich Schulte) die Wirksamkeit von Videoüberwachungsmaßnahmen.
Fahrverbot u.a.: Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf zur Änderung des Strafverfahrens, des Jugendgerichtsgesetzes, der Strafprozessordnung und weiterer Gesetze verabschiedet. Hiernach soll ein Fahrverbot als Strafe für alle Straftaten ermöglicht werden. Zudem sollten unter anderem das Strafverfahren effektiver, organisierte Formen der Schwarzarbeit künftig härter geahndet und der Richtervorbehalt bei Blutprobenentnahmen im Rahmen von Straßenverkehrsdelikten eingeschränkt werden. Es berichtet dazu lto.de.
DNA-Analyse: Karin Truscheit (FAZ) fordert im Leitartikel eine gesetzliche Ausweitung der DNA-Analyse von Tatortspuren. Dabei sollen künftig auch Aussagen über Alter, Aussehen oder Herkunft des Täters gewonnen werden können.
Versammlungsrecht: Die thüringische Landesregierung will ein eigenes Versammlungsgesetz auf den Weg bringen, um zukünftig zu verhindern, dass rechte Aufmärsche an historisch vorbelasteten Tagen – etwa dem 9. November – stattfinden, so lto.de.
Justiz
EuGH zu kommunaler Abfallentsorgung: Im Jahre 2001 hatten Stadt und Landkreis Hannover die regionale Abfallentsorgung neu organisiert und hierzu einen hundertprozentigen öffentlich-rechtlichen Zweckverband gegründet. Die Recycling-Firma Remondis sah hierin einen Verstoß gegen das europäische Vergaberecht. Der Europäische Gerichtshof entschied nun, dass die Gründung eines öffentlich-rechtlichen Zweckverbandes und die damit verbundene Umgehung des Vergaberechts rechtmäßig sei. Über die genauen Hintergründe des Rechtsstreits, die europarechtlichen Grundlagen und weshalb das Urteil europarechtskonform ist, informieren die Rechtsanwälte Jakob Stasik und Stephan Schäfer auf lto.de.
BGH – Snowden: Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat die Vollziehung des Beschlusses einer BGH-Ermittlungsrichterin ausgesetzt, bis über die Beschwerde des NSA-Untersuchungsausschusses gegen diesen Beschluss entschieden ist, so lto.de (Marcel Schneider). Die Ermittlungsrichterin hatte zuvor entschieden, dass der NSA-Untersuchungsausschuss nicht nur erneut über die Vernehmung Edward Snowdens abstimmen, sondern dieser auch zustimmen müsse, falls weiterhin mehr als ein Viertel des Ausschusses den Vorschlag unterstütze.
EuGH – Freihandelsabkommen: Die Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof Eleanor Sharpston vertritt in ihrem Schlussantrag die Auffassung, bei dem Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Singapur handele es sich um ein "gemischtes Abkommen". Diese Art von Abkommen wird vom Europäischen Parlament und vom EU-Ministerrat beschlossen und anschließend von allen 28 nationalen Parlamenten ratifiziert. Die EU-Kommission hielt die Europäische Union allerdings für allein zuständig. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs wird für April oder Mai nächsten Jahres erwartet. Es berichten die SZ (Thomas Kirchner) und die taz (Christian Rath). Rechtsprofessor Andreas Fischer-Lescano und der wissenschaftliche Mitarbeiter Johan Horst unterziehen auf lto.de die Auffassung der Generalanwältin einer eingehenderen Analyse, insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung für die Freihandelsabkommen TTIP und CETA.
BVerwG – Elbvertiefung: Nach der dreitägigen mündlichen Verhandlung zur Erweiterung der Fahrrinne in der Elbe haben die Richter am Bundesverwaltungsgericht eine Entscheidung für den 9. Februar 2017 angekündigt, wie die SZ (Thomas Hahn) und die FAZ (Carsten Germis) schreiben. Ein ausführlicher Bericht findet sich auch auf taz-nord (Florian Marten).
OLG München – NSU-Prozess: Die fünf Verteidiger von Beate Zschäpe haben einen Befangenheitsantrag gegen das Gericht gestellt, wie die SZ (Annette Rammelsberger), die taz (Konrad Litschko) und die Welt (Gisela Friedrichsen) berichten. Zuvor hatte das Gericht die Anträge der Verteidigung, mit welchen sie dem psychiatrischen Gutachter Henning Saß die fachliche Eignung absprachen und das Gericht verpflichten wollten, einen anderen Gutachter zu beauftragen, zurückgewiesen. Die Verteidigung sah die Begründung des Gerichts, nach der das bevorstehende mündliche Gutachten entscheidend sei, als "abwegig" an und warf dem Gericht vor, die Verteidigung "bewusst zu behindern". Der Gutachter Saß war zu dem Ergebnis gekommen, dass Zschäpe voll schuldfähig sei und hielt auch eine Sicherungsverwahrung für angemessen, so die FAZ (Helene Bubrowski).
LG Bochum – Schienenkartell: Der Prozess, in dem sich zwei frühere Manager von Thyssen-Krupp wegen illegaler Preisabsprachen verantworten mussten, wird gegen Geldzahlung eingestellt, wie das Hbl (Martin Murphy) meldet.
VG Stuttgart – S 21: An diesem Freitag will die Bahn AG beim Verwaltungsgericht Stuttgart ihre Klageschrift gegen Stadt und Land auf Übernahme von Mehrkosten beim Bahnprojekt Stuttgart 21 einreichen. Die FAZ (Rüdiger Soldt) skizziert die Argumentation der Bahn zur "Sprechklausel" der Verträge: "Sprechen kann nach unserer Auffassung nur Bezahlen bedeuten." Schließlich seien Stadt und Land die ursprünglichen Treiber des Projekts gewesen.
VW-Abgasmanipulationen: Die SZ (Markus Balser/Klaus Ott) schildert, wie VW durch Vergleiche mit klagenden VW-Käufern versucht, möglichst lange eine OLG-Entscheidung hinauszuzögern. Falls der BGH erst 2018 den Streit um die Rückgabe manipulierter Fahrzeuge entscheide, seien viele Fälle verjährt. Seit September hätten bundesweit zehn Landgerichte geurteilt, VW müsse die Fahrzeuge zurücknehmen.
GBA – Anschlag in Berlin: Der Generalbundesanwalt hat im Fall des Anschlags auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin einen neuen Tatverdächtigen öffentlich zur Fahndung ausgeschrieben, wie die FAZ (Eckart Lohse/Timo Steppat) und zeit.de (Kai Biermann u.a.) berichten. Der nun verdächtigte Anis Amri war den Sicherheitsbehörden schon als "Gefährder" bekannt. Die SZ (Ronen Steinke u.a.) beleuchtet den Fall des Anis Amri auf Seite 3 eingehend und geht der Frage nach, wie Sicherheitsapparate mit "Gefährdern" umgehen können.
Im Zusammenhang mit dem Anschlag und der Fahndung porträtiert das Hbl (Alexander Demling) den Generalbundesanwalt Peter Frank.
Recht in der Welt
EuGH – Westsahara: Das Abkommen zwischen der Europäischen Union und Marokko über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen und mit Fisch entfaltet in der Westsahara keine Geltung, da diese nicht zum Hoheitsgebiet Marokkos gehöre, entschied der Europäische Gerichtshof und wies damit die Klage der Westsahara-Befreiungsfront Polisario ab. Polisario hatte sich gegen das Abkommen zur Wehr gesetzt mit der Begründung Marokko könne über die Westsahara keine Abkommen treffen. Die Klage sei somit zwar formal verloren, Polisario sei aber die "politische Siegerin" so die taz (Christian Rath).
Polen – Verfassung: Die EU-Kommission setzt der polnischen Regierung eine erneute Frist von zwei Monaten, um die geforderten Änderungen, insbesondere die Einräumung voller Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts, vorzunehmen. Komme die polnische Regierung dem nicht nach, könne ein Entzug des Stimmrechts Polens in der Europäischen Union drohen, wie spiegel.de und lto.de berichten.
Brasilien – Thyssen-Krupp: Wie die FAZ meldet, muss sich die Tochtergesellschaft des Stahlkonzerns Thyssen-Krupp (CSA) vor der brasilianischen Justiz verantworten. Gegen CSA hatte die Staatsanwaltschaft von Rio de Janeiro Anklage erhoben, weil diese eine umweltrechtliche Genehmigung erhielt, obwohl die zuständige Behörde zuvor Einspruch eingelegt hatte.
USA – Stefan Arzberger: Die Zeit (Christine Lemke-Matwey) widmet sich dem Fall des Star-Geigers Stefan Arzberger, der im Jahr 2015 während einer Tournee in den USA im Bundesstaat New York wegen versuchten Mordes angeklagt wurde. Der Violinist durfte in den 15 Monaten, die das Vorverfahren dauerte, das Land nicht verlassen, wegen der fehlenden Aufenthaltserlaubnis aber auch nicht arbeiten. Auf Grund eines Deals mit der Staatsanwaltschaft ging er straflos aus und durfte nach Deutschland zurückkehren.
Sonstiges
Religiöse Neutralität des Staates: In einem Gastbeitrag beschäftigt sich Ex-Bundesverfassungsrichter und Rechtsprofessor Udo Di Fabio in der FAZ mit Religion im Verfassungsstaat. Er wirft, im Hinblick auf die Debatte um das Kopftuch bei Richterinnen, die Frage auf, wie viel absoluten Geltungsanspruch Gläubige in einer toleranten Demokratie durchsetzen können und wann ihnen Grenzen gesetzt werden sollten, die von ihnen Anpassung verlangen. Ein wohlwollend neutraler Staat müsse das Ausleben von Religionen tolerieren, könne auf der anderen Seite auch Akzeptanz seitens der Gläubigen einfordern. Das Durchsetzen absoluter religiös geprägter Verhaltensgebote in öffentlichen Einrichtungen komme dem nicht nach und ginge über das Verfassungsprinzip wohlwollender Neutralität hinaus.
Demokratie: Der Privatdozent für öffentliches Recht Ulrich Jan Schröder nimmt in der FAZ die Demokratie als Staatsform im nationalen und globalen Kontext in den Blick. Global gesehen befinde sich die Bundesrepublik Deutschland in einem Spannungsfeld zwischen "völkerrechtlicher Anschlussfähigkeit" und demokratischer Legitimation. Das Eingehen von internationalen Bindungen beinhalte die Gefahr, demokratische Legitimation zu verlieren. Im Nationalen Kontext stelle sich die Frage nach der Partizipation von Bürgern. Der Staat müsse die Eigenverantwortung der Bürger fördern und für deren Gleichheit vor dem Gesetz sorgen, damit das Vertrauen in den Staat bestehen bleibe.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/lz
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 22. Dezember 2016:
Vorratsdatenspeicherung /
Befangenheitsantrag von Zschäpe /
Religion und Verfas­
. In: Legal Tribune Online,
22.12.2016
, https://www.lto.de/persistent/a_id/21567/ (abgerufen am:
29.04.2024
)