Die Thesen von Innenminister de Maizière zur "Leitkultur für Deutschland" lösen Streit aus. Außerdem in der Presseschau: Thomas Fischer verlässt den 2. BGH-Strafsenat und das Landgericht Dresden verhandelt gegen Verfassungsschützerin.
Thema des Tages
Leitkultur: Innenminister Thomas de Maizière (CDU) hat in der BamS Thesen über eine "Leitkultur für Deutschland" veröffentlicht. Diese Leitkultur gehe über den Verfassungspatriotismus hinaus und erkläre, "was uns leitet, was uns wichtig ist". Es soll sich um ungeschriebene und unverbindliche Werte und Haltungen handeln, etwa um den Handschlag zur Begrüßung, die Bejahung von Bildung, Leistung und aufgeklärtem Patriotismus sowie von Religion als Kitt der Gesellschaft.
Heribert Prantl (Dienstags-SZ) hält die Auflistung de Maizières für albern, ausgrenzend und überflüssig. "Es darf in diesem Land nicht darum gehen, eine Leitkultur zu propagieren, es muss darum gehen, eine Kultur des Zusammenlebens zu etablieren: Sie heißt Demokratie, Rechtsstaat und Grundrechte." Auch Christian Rath (Dienstags-taz) kritisiert: "Die Leitkultur des Westens ist die individuelle Freiheit und der Pluralismus der Lebensstile. Bei de Maizière ist dagegen fast nur vom großen 'wir' die Rede und kaum vom individuellen 'ich'." Reinhard Müller (Dienstags-FAZ) räumt ein, dass die Beschreibung einer Leitkultur schnell bemüht wirken kann. Allerdings gehe es nicht darum, jemand etwas vorzuschreiben, vielmehr solle nur der "Grundkonsens" beschrieben werden.
Rechtspolitik
Kameras bei Bundesgerichten: lto.de (Pia Lorenz) spricht mit der Präsidentin des Bundesgerichtshofs Bettina Limperg über das geplante Gesetz zur Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren. Limperg übt Kritik an der vorgesehenen Ausstrahlung von Urteilsverkündungen der obersten Bundesgerichte, weil sie auf weitere Instanzen und auch die Beweisaufnahme ausgedehnt werden könnte. Sollte eine Videoaufzeichnung kommen, fordert sie die Zuständigkeit der Gerichte für die Aufnahme und die Veröffentlichung, damit eine ausgewogene Berichterstattung sichergestellt ist.
Föderalismus: Bund und Länder haben bei den Verhandlungen um den Länderfinanzausgleich auch eine Grundgesetzänderung vereinbart. In einem neuen Artikel 104c soll es künftig heißen: "Der Bund kann den Ländern Finanzhilfen für gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen der finanzschwachen Gemeinden (Gemeindeverbände) im Bereich der kommunalen Bildungsinfrastruktur gewähren." Anlässlich einer Anhörung im Bundestag äußert Jasper von Altenbockum (Dienstags-FAZ) grundsätzliches Unbehagen gegen solche Durchgriffsrechte des Bundes auf die Kommunen.
Alterspräsident: Wie die Samstags-FAZ (Günter Bannas) berichtet, unterstützt der Geschäftsordnungsausschuss des Bundestages die Forderung nach einer Neubestimmung des Alterspräsidenten. Künftig soll nicht mehr der lebensälteste Abgeordnete die konstituierende Sitzung des Bundestages eröffnen, sondern der dienstälteste. Dies werde Wolfgang Schäuble (CDU) sein und damit kein AfD-Abgeordneter. Die Änderung der Geschäftsordnung soll Mitte Mai im Bundestag beschlossen werden.
Fluggastdatenspeicherung: netzpolitik.org (Simon Rebiger) stellt das vergangene Woche im Bundestag beschlossene Gesetz zur Fluggastdatenspeicherung vor. Danach können bis zu 60 Einzeldaten zu jedem Passagier auf internationalen Flügen für die Dauer von fünf Jahren gespeichert werden. Das Gesetz geht über die Vorgaben der EU-Richtlinie hinaus und führt die Speicherung für alle Auslandsflüge ein, nicht nur in und aus dem außereuropäischen Ausland, wie die Richtlinie vorschreibt.
Stalking: Bayerns Justizminister Winfried Bausback (CSU) hat vorgeschlagen, Stalker künftig auch mit der elektronischen Fußfessel zu überwachen. Er wolle dies bei der Justizministerkonferenz im Juni diskutieren, meldet die Dienstags-SZ.
Wechselmodell: Die FDP fordert, dass Gerichte solchen Eltern, die sich nach einer Scheidung nicht über den Aufenthalt des gemeinsamen Kindes einigen können, in der Regel das Wechselmodell vorschreiben. Dies wäre die konsequente Fortführung der gemeinsamen Sorge, argumentiert FDP-Vize Katja Suding im Interview mit der Dienstags-Welt (Sabine Menkens).
Justiz
Thomas Fischer im Ruhestand: Bundesrichter Thomas Fischer tritt mit seinem 64. Geburtstag vorzeitig in den Ruhestand. Das teilte der Bundesgerichtshof am vergangenen Freitag mit, wie lto.de meldet. Jost Müller-Neuhof (Tsp) kommentiert, der Bundesrichter tauge nicht ohne weiteres als Vorbild, habe jedoch durch seine Kompetenz überzeugt: "Er hat es allen gezeigt. Wem das nicht gefiel, dem war zuzumuten, es auszuhalten."
OLG München zu IS-Mitglied: Ein Familienvater aus Berlin heuerte beim IS an, um seine Familie aus Rakka zu retten. Dort arbeitete er ein halbes Jahr in einer Fabrik, die Sprengfallen herstellte, bis ihm die Flucht nach Deutschland gelang. Hierfür ist er vom Oberlandesgericht München zu drei Jahren Haft wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt worden. Die Verteidigung macht dagegen einen rechtfertigenden und entschuldigenden Notstand geltend und geht in die Revision. Die WamS (Gisela Friedrichsen) und spiegel.de (Martin Knobbe/Fidelius Schmid) stellen den Fall dar.
LG Dresden zu NPD-Kritik: Der Politologe Steffen Kailitz darf weiterhin behaupten, dass die NPD rassistisch motivierte Staatsverbrechen plane und acht bis elf Millionen Menschen aus Deutschland vertreiben wolle. Das Landgericht Dresden sah die Aussage als Meinungsäußerung an und wies die Klage der NPD ab, berichten die Samstags-FAZ (Stefan Locke) und Samstags-SZ (Antonie Rietzschel). Der Fall hatte öffentliches Aufsehen erregt, weil ein Richter, der AfD-Mitglied ist, dem Antrag der NPD zunächst stattgegeben hatte.
LG Frankfurt/M. zu Totschlag: Eine ältere Türkin ist wegen Totschlags vom Landgericht Frankfurt zu vier Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die einst zwangsverheiratete Frau ihren Ehemann nach jahrelangen Misshandlungen erdrosselt hat. Die FAS (Raquel Erdtmann) bringt eine ausführliche Prozessreportage.
AG München zu Vatersuche: Eine Frau suchte den Vater ihres Kindes, das sie rund neun Monate nach einem mehrtägigen Hoteltreffen gebar. Da sie nur wusste, dass der Mann wohl Michael hieß, verklagte sie das Hotel auf Auskunft über in Frage kommende Männer. Das Amtsgericht billigte nun aber die Auskunftsverweigerung des Hotels. Da nicht sicher ist, ob der Mann tatsächlich Michael heißt, sei das Hotel nicht verpflichtet, Details über die vier in Frage kommenden Hotelgäste namens Michael herauszugeben. Das Urteil aus dem Oktober 2016 sei erst jetzt veröffentlicht worden, berichtet spiegel.de.
EuGH zu dynamischen Bezugnahmeklauseln: Rechtsanwalt Jochen Keilich erläutert auf lto.de die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu dynamischen Bezugnahmeklauseln auf Tarifverträge, die in der vergangenen Woche erging. Die Anwendung solcher Klauseln verstoße nach einem Betriebsübergang nicht gegen EU-Recht, weil der Arbeitgeber eine Änderungskündigung aussprechen könnte. Der Autor kritisiert, dass die Voraussetzungen einer wirksamen Änderungskündigung jedoch sehr hoch seien.
BGH zu Panoramafreiheit: Nun erläutert auch Rechtsanwalt David Ziegelmayer auf lto.de das Urteil des Bundesgerichtshofs zur Panoramafreiheit bei Kreuzfahrtschiffen. Die Urteilsbegründung stehe zwar noch aus, jedoch habe der BGH in der Pressemitteilung angedeutet, dass die Panoramafreiheit für Fahrzeuge aller Art gelten solle. Folglich könnten Kunstwerke auf Fahrzeugen, die sich im öffentlichen Raum bewegten, ohne Erlaubnis fotografiert und gefilmt werden.
EuGH – Darlehen in Fremdwährung: Um niedrigere Zinssätze zu nutzen, nahmen viele Verbraucher Kredite in Fremdwährungen auf und müssen aufgrund von Wechselkursschwankungen deutlich höhere Summen zurückzahlen. Ob die Verbraucher das Risiko tragen müssen oder doch eher die Bank, wird demnächst der Europäische Gerichtshof entscheiden. In den Schlussanträgen hat der Generalanwalt zwar umfassende Informationspflichten angenommen, jedoch nur für solche Umstände, die zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bestanden oder vorhersehbar waren, erläutert Rechtsanwalt Alexander Knauss auf lto.de.
GBA – NSU-Ableger: Der Spiegel (Maik Baumgärtner/Martin Knobbe) berichtet von Ermittlungen des Generalbundesanwalts wegen eines möglichen NSU-Ablegers namens "Zweiter Frühling", die jedoch 2016 eingestellt worden sind. Aus den Akten ergebe sich, dass eine Gruppe von bekannten und mit dem NSU vernetzten Neonazis möglicherweise eine weitere neonazistische Tarnorganisation gründen wollte. Der Verfassungsschutz will die Personen und ihr Umfeld weiterhin beobachten.
LG Hamburg – Säureangriff: Ein Mann steht in Hamburg wegen gefährlicher und versuchter schwerer Körperverletzung vor Gericht, weil er seiner Ex-Frau ein Glas Salzsäure ins Gesicht schüttete. Motiv soll die Trennung und Eifersucht des Ex-Mannes gewesen sein, berichtet spiegel.de (Peter Maxwill).
LG Dresden – Sachsensumpf: Ab diesem Dienstag muss sich die ehemalige Landes-Verfassungsschützerin Simone H. vor dem Landgericht Dresden wegen falscher Verdächtigung verantworten. Sie hatte 2007 ein Dossier zusammengestellt, das vor einem Netzwerk aus Organisierter Kriminalität und Justiz warnte. Hauptquelle war der Polizist Georg W., der im gleichen Prozess wegen Beihilfe angeklagt ist. W. habe sich an einem Staatsanwalt rächen wollte, der einige Jahre zuvor gegen ihn ermittelt hatte. Vorab berichtet die Dienstags-Welt (Sven Eichstädt).
GBA – BVB-Anschlag: Der wegen des Anschlags auf den BVB-Bus verdächtige Sergej W. bestreitet nun die Tat, nachdem er zunächst geschwiegen hatte. Der Spiegel (Matthias Bartsch u.a., spiegel.de-Zusammenfassung) stellt die aktuellen Ermittlungsergebnisse des Generalbundesanwalts und den mutmaßlichen Tathergang dar.
StA Frankfurt/M. – terrorverdächtiger Soldat: Reinhard Müller (Samstags-FAZ) nimmt den Fall des Oberleutnants Franco A., der sich als syrischer Flüchtling ausgegeben und vermutlich rechtsextrem motivierte Anschläge geplant hat, zum Anlass, die deutsche Flüchtlingspolitik zu kritisieren. "Wenn der Staat aber Syrer mit guten Gründen vor Krieg und Elend retten will, dann sollte er sich vergewissern, ob es auch Syrer sind, die Schutz begehren." Der Fall A. stelle ein "trauriges Beispiel für ein grundlegendes Versagen bei der Erfüllung elementarer staatlicher Aufgaben" dar.
BGH zu Asterix-Bearbeitung: Aus Anlass des 90. Geburtstags des Asterix-Zeichners Albert Uderzo erinnert lto.de (Martin Rath) an ein Plagiatsverfahren Uderzos gegen den Comic "Falsches Spiel mit Alcolix - die Parodie". Das Oberlandesgericht München hatte 1991 eine Parodie verneint, da Asterix kein Alkoholiker sei, sondern nur gelegentlich gerne trinke. Der Bundesgerichtshof hob das Verbotsurteil aber wieder auf. Es gebe auch nicht-parodistische freie Benutzungen von berühmten Vorlagen.
Recht in der Welt
Ungarn – Central European University: Rechtsprofessor Gábor Halmai befasst sich auf verfassungsblog.de in einem englischsprachigen Beitrag mit dem Vertragsverletzungsverfahren, das die EU-Kommission wegen des neuen Hochschulgesetzes gegen Ungarn eingeleitet hat und beschreibt, welche Sanktionsmechanismen nach EU-Recht bestehen.
USA – Auslandsüberwachung: Der Auslandsgeheimdienst NSA hat angekündigt, in der Upstream-Sammlung nur noch solche Internetkommunikationen zu speichern, die von oder an verdächtige Ausländer gesendet wurden. Der Akademische Rat Thomas Wischmeyer erklärt auf verfassungsblog.de die US-amerikanische Rechtslage und die jeweiligen Überwachungsmechanismen. Die Reform sei kritisch zu betrachten, da sie nur Überwachungen erfasse, die auf US-Territorium durchgeführt werden.
Sonstiges
Europäische Gemeinschaft: Im Editorial von verfassungsblog.de geht Maximilian Steinbeis der Frage nach, ob die EU ein neues Narrativ benötige und stellt fest, dass sich das liberale Narrativ hierfür nicht mehr unbeschränkt eigne.
Gewalt in Partnerschaften: Die Dienstags-taz (Simone Schmollack) gibt einen Überblick über Gewalt zwischen Männern und Frauen in Partnerschaften. Zwar sei Gewalt gegen Frauen viel häufiger und heftiger, aber die Gewalt gegen Männer gerate auch zunehmend ins Blickfeld. Allerdings handele es sich bei den polizeilich erfassten Fällen oft um taktisch motivierte Gegenanzeigen von prügelnden Männern.
Arbeit im Gefängnis: spiegel.de (Bernd Kramer) befasst sich mit den Arbeitsbedingungen und der Entlohnung von Strafgefangenen in den Justizvollzugsanstalten. Die Gefangenen arbeiteten meist zu extrem niedrigen Stundenlöhnen, der Mindestlohn gilt nach einer Entscheidung des Landgerichts Hamburg für sie nicht.
Das Letzte zum Schluss
Effiziente Ladendiebin: Eine 53-jährige Frau hat in Hagen binnen drei Stunden in einem Supermarkt 156 Produkte gestohlen. "So etwas haben wir noch nie erlebt", sagten die vom Ladendetektiv gerufenen Polizisten laut spiegel.de.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/ms/chr
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 29. April bis 2. Mai 2017: Was ist Leitkultur? / Thomas Fischer im Ruhestand / Sachsensumpf vor Gericht . In: Legal Tribune Online, 02.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22791/ (abgerufen am: 02.05.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag