Jobcenter dürfen Hartz IV-Emfänger mit 63 auch gegen ihren Willen in Rente schicken. Außerdem in der Presseschau: Verteidigerentpflichtung durch Verwaltungsgerichte, Ermittlungen gegen "Reichsbürger" und ein uralter Trick.
Thema des Tages
BSG zu "Zwangsverrentung": Bezieher von Arbeitslosengeld II (Hartz IV) dürfen vom Jobcenter gegen ihren Willen mit 63 statt mit 65 in Rente geschickt werden, entschied das Bundessozialgericht. Es seien vorrangig andere Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, zu welchen auch eine vorzeitige Altersrente zähle. Die damit einhergehenden Abzüge von der Rente um 3,6 Prozent pro Jahr seien hinzunehmen. Weigere sich der Betroffene dürfe das Jobcenter für ihn die Altersbezüge beantragen. Härtefälle seien durch die "Unbilligkeitsverordnung" des Bundessozialministeriums ausgeschlossen, etwa bei Nachweis baldiger Aufnahme einer dauerhaften Beschäftigung oder wenn der Leistungsempfänger durch die Frühverrentung weniger bekomme als bisher durch SGB II-Leistungen. Es berichten Welt (Kathrin Gotthold), FAZ (Joachim Jahn) und spiegel.de.
Rechtspolitik
Leistungen an Asylbewerber: Die FAZ (Helene Bubrowski) legt das Bundesverfassungsgerichtsurteil zu Asylbewerberleistungen als Existenzminimum dar. lto.de (Tanja Podolski) lässt eine Asylanwältin zu Wort kommen, die bestätigt, dass nach dem Urteil Taschengeldkürzungen grundsätzlich nicht zulässig sind. Die Ausgabe von Sachleistungen statt Geld ist jedoch nicht nur erlaubt, sondern ihr Vorrang in § 3 Asylbewerberleistungsgesetz sogar vorgesehen, schreibt die Zeit (Elisabeth Niejahr).
Verteidigerentpflichtung: Die Rechtsanwälte Volker Römermann und Philip von der Meden fordern in der FAZ, dass Verwaltungsgerichte für die Entscheidung über die Entpflichtung eines Pflichtverteidigers zuständig gemacht werden. Dort könnten in nichtöffentlicher Verhandlung, vor selbst zur Verschwiegenheit verpflichteten Richtern, die Gründe für ein zerrüttetes Vertrauensverhältnis genannt werden, ohne Konflikt mit der anwaltlichen Verschwiegenheit. Bis dahin müsse die nicht weiter begründete Behauptung eines Verteidigers zur Begründung genügen.
GBA als politischer Beamter: Ex-Verfassungsrichter Hans Hugo Klein spricht sich in der FAZ für eine Abschaffung des Stellung des Generalbundesanwalts als politischer Beamter aus. Die Berechtigung ihn zu entlassen werde so weit ausgelegt, dass der entlassende Politiker nur sagen müsse, er habe das Vertrauen verloren. Damit habe er ein Druckmittel, was die ausdrückliche Ausübung des heiklen Weisungsrechts praktisch obsolet mache und gleichzeitig eine – anhand ausdrücklicher Weisung sonst mögliche – Rechtmäßigkeitsüberprüfung der Einwirkung auf den Beamten verhindere.
Sichere Herkunftsstaaten: Die Badische Zeitung (Christian Rath) setzt sich mit der Debatte um die Erweiterung der Liste der sogenannten "sicheren Herkunftsstaaten" auseinander. Nutzen bringe es zur Verfahrensbeschleunigung keinen, aber innenpolitisch zeigten sich die, die die Liste erweitern wollen, tatkräftig.
Justiz
BVerfG zu Zeugen Jehovas: Rechtswissenschaftlerin Paulina Starski äußert sich auf verfassungsblog.de zur Bundesverfassungsgerichtsentscheidung zum Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas und der Kernproblematik: "Föderalismus und Länderkompetenzen treffen auf Grundrechte". Die bundesweite Dimension der Grundrechte und die zur Minimierung von Divergenzen erforderliche Kooperation der Länder seien in den Überlegungen des Gerichts zu kurz gekommen.
BFH zu E-Mail-Einspruch: Seit dem 1. April ist Einspruch gegen Bescheide per einfacher E-Mail – ohne elektronische Signatur – möglich. Der Bundesfinanzhof hat im Mai entschieden, dass das bereits nach altem Recht galt, wenn die Behörde eine E-Mail-Adresse im Bescheid angegeben hat, meldet lto.de. Die Behörde selbst habe damit E-Mail-Zugang eröffnet und nach der Rechtsprechung sei auch das Fehlen einer eigenhändigen Unterschrift bei schriftlichem Einspruch unschädlich, solange der Absender erkennbar sei.
BGH/EuGH – Gerichtsstand bei Fluggastrechten: Ansprüche nach der Fluggastrechteverordnung können sowohl im Abflugs- wie im Ankunftsland geltend gemacht werden. Was aber, wenn ein Linienflug von Deutschland nach Finnland bei einer Fluggesellschaft gebucht wird, der Flug einen Zwischenstopp in Frankreich aufweist und der zweite Teil des Fluges von einer anderen Fluggesellschaft ausgeführt wird, kann dann ein Anspruch wegen Verspätung des Fluges Frankreich-Finnland auch in Deutschland eingeklagt werden? Der BGH meint ja, hat die Frage aber am Dienstag sicherheitshalber dem EuGH vorgelegt, berichtet lto.de.
OLG Oldenburg zu Werbung mit Testergebnissen: Bei Werbung mit Testergebnissen ist die Fundstelle anzugeben. Dabei genügt die Angabe einer Internetseite auf der das Testergebnis zu finden ist, entschied das Oberlandesgericht Oldenburg laut versandhandelsrecht.de (Selina Karvani). Der Zugang sei dadurch nicht schwerer als etwa das Auffinden eines in einer Zeitschrift veröffentlichten Testergebnisses.
LG Lüneburg – Schmerzensgeldverjährung: Der Versuch des Vaters der vor über 30 Jahren vergewaltigten und ermordeten jungen Frau, mit Hilfe eines nun vorhandenen DNA-Abgleichs wenigstens ein zivilrechtliches Urteil über Schmerzensgeld gegen den seinerzeit Freigesprochenen zu erreichen, scheint gescheitert, berichten die SZ (Hans Holzhaider) und spiegel.de (Giesela Friedrichsen). Das Gesetz lasse die 30-jährige Verjährungsfrist mit der Tat beginnen und diese sei abgelaufen, gab das Landgericht Lüneburg bei der gestrigen Verhandlung zu verstehen. Der Anwalt regte eine Vorlage beim Bundesverfassungsgericht an, die wohl nicht erfolgen wird. Urteilsverkündung ist für den 9. September angekündigt.
StA Dresden – Anneli: Die FAZ (Stefan Locke) berichtet wie die mutmaßlichen Täter der Entführung und Tötung der 17-Jährigen Anneli ausfindig gemacht wurden und über ihre überschuldete Lebenslage. Ein mutmaßlicher Täter habe die Entführung gestanden, nicht aber die Tötung, der andere schweige. Auch spiegel.de schreibt zum Fall.
Heribert Prantl (SZ) weist auf den Anreiz von Entführungen hin, da vermeintlich die Tatbeute diktiert werden könne und sieht "Reiz- und Lerneffekte" für die Täter durch die besondere Publizität von Entführungen. Es sei Zurückhaltung geboten, Öffentlichkeit dürfe nicht "zum unfreiwilligen Komplizen der Täter werden".
StA Dresden – "Reichsbürger": Die Staatsanwaltschaft Dresden ermittelt gegen das "Deutsche Polizeihilfswerk" (DPHW) wegen Verdachts der Bildung einer Kriminellen Vereinigung, mit bisher 292 Beschuldigten. Das DPHW stehe der "Reichsbürger"-Bewegung nahe, die die Bundesrepublik nicht anerkenne und eigene vermeintliche Rechts- und Regierungsorgane gründe, berichtet die taz (Andreas Speit).
StA Bochum – Middelhoff: Thomas Middelhoff und 15 ehemaligen Arcandor-Aufsichtsräten drohen laut Welt Anklagen wegen Untreue und Beihilfe zur Untreue. Die Staatsanwaltschaft Bochum ermittele wegen zu hoher Boni und Abfindungen, die wegen drohender Insolvenz nicht hätten ausgezahlt werden dürfen.
StA Regensburg – Salmonelleneier: Der Geschäftsführer von Bayern-Ei befindet sich wegen des Salmonellenskandals in U-Haft, meldet das Handelsblatt. Die Staatsanwaltschaft Regensburg werfe ihm vor, von der Kontamination der Eier gewusst zu haben und sie dennoch unter Güteklasse A zum direkten Verzehr verkauft zu haben. Es sei zu 77 Körperverletzungen und einer Todesfolge gekommen.
Kruzifix-Urteil: Die SZ (Heribert Prantl) setzt sich mit dem sogenannten Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und den "aufgeregten" Reaktionen darauf auseinander. Der Beschluss des BVerfG habe den Weg zu Neutralität durch Pluralität geebnet.
Recht in der Welt
USA – Whistleblower-Schikane: Am Beispiel des Umgangs US-amerikanischer Behörden mit Chelsea Manning – einst US-Gefreiter Bradley Manning und Informant von Wikileaks mit US-Geheimdokumenten – kritisiert Nicolas Richter (SZ) die besonders strenge Behandlung, der Whistleblower durch Justiz und Verwaltung ausgesetzt seien. "Wer die Geheimnisse des Staates verrät, der muss einen quälenden Prozess der Zermürbung über sich ergehen lassen."
Russland – Estnischer Polizist: Ein estnischer Polizist ist in Russland zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Er soll bewaffnet unerlaubt die russische Grenze übertreten haben. Estland gibt an, er habe sich auf estnischem Boden bewegt, im Rahmen einer Polizeiaktion gegen grenzüberscheitende Kriminalität und sei nach Russland verschleppt und rechtswidrig inhaftiert worden. lto.de, FAZ (Ann-Dorit Boy) und spiegel.de berichten.
Südafrika – Pistorius: Wie nach südafrikanischem Recht zulässig, sollte der zu fünf Jahren Haft verurteilte Ex-Sprinter Oscar Pistorius am Freitag nach Verbüßung eines Sechstels seiner Strafe in den Hausarrest entlassen werden. Nun hat das Justizministerium die Entscheidung der Bewährungskommission aufgehoben, berichten lto.de, zeit.de und spiegel.de. Auf die laufende Berufung der Staatsanwaltschaft könnte er zu einer insgesamt längeren Haftstrafe verurteilt werden, meinen Experten.
IStGH – Kenia: Der Internationale Strafgerichtshof muss erneut entscheiden, ob er mangelnde Kooperation Kenias im Verfahren gegen Präsident Kenyatta feststellen und die Angelegenheit an die Versammlung der Vertragsstaaten oder den UN-Sicherheitsrat übergeben will. Die Berufungskammer hatte bemängelt, dass eine solche Entscheidung nicht deshalb entbehrlich sei, weil das Verfahren gegen Kenyatta eingestellt wurde, berichtet die taz (Dominic Johnson).
Sonstiges
Netzpolitik.org: Bei der Anhörung im Rechtsausschuss zur "netzpolitik.org"-Affäre widersprachen sich Generalbundesanwalt Range und Justizminister Maas weiter bei der Frage, ob es eine Weisung gegeben habe oder eine Vereinbarung. Range gab an, Justiz-Staatssekretärin Stefanie Hubig habe ihm mit Entlassung gedroht. Maaßen und de Maizière schickten Vertreter und sollen erneut geladen werden. Es berichten unter anderem die taz (Pascal Beucker) und lto.de.
Jasper von Altenbockum (FAZ) meint, wenn die, die Geheimnisverrat verfolgen nun als die "bösen Buben" vor Bundestagsausschüssen erscheinen müssen, zeuge das von einer Stimmung "in der die Exekutive nicht viel gilt – und Geheimnisverrat als Kavaliersdelikt".
Adelsnamen: Rechtsanwalt Karl Friedrich Dumoulin schreibt in der FAZ über Adelstitel, die mit der Weimarer Reichsverfassung zu Namen wurden und in Deutschland bis heute so geführt und weitergegeben werden können. Österreich etwa habe dies abgeschafft und dürfe nach Urteil des Europäischen Gerichtshofs die offizielle Führung des "adeligen", durch Adoption erworbenen Namens eines Österreichers untersagen.
Prostitution: Die SZ (Gustav Seibt) schreibt im Feuilleton über die Geschichte der Prostitution in Europa zwischen Duldung und Verachtung. In Deutschland sei letztlich der Versuch gemacht worden durch die Aufhebung des Vorbehalts der Sittenwidrigkeit die rechtliche Stellung der Prostituierten zu verbessern. Auf eine Betrachtung als "Dienstleistung unter anderen" werde man sich vorerst kaum einigen aber die moderne Gesellschaft müsse mehr als "die überständige Logik zweideutiger Randständigkeit" anbieten können.
Privatisierung innerer Sicherheit: Rechtsanwalt Florian Albrecht setzt sich auf lto.de mit dem Einsatz privater Sicherheitsdienste auf Flächen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt sind, auseinander. Weil es öffentlicher Raum bleibe, könne es keine weiteren Grundrechtsbeschränkungen als die nach allgemeinem Recht geltenden geben – auch nicht durch "Nutzungs- und Hausordnungen".
Parlamentarismus in Europa: Rechtswissenschaftler Lars S. Otto äußert sich auf verfassungsblog.de zur Rolle der Parlamente bei der Entscheidung über Fragen, die die Goubernative zuvor ausgehandelt hat. Er ruft zum Nachdenken auf, über die Bedeutung von Parlamenten im heutigen Institutionengeflecht.
Das Letzte zum Schluss
Der älteste Trick der Welt: Wieder einmal hat es einer geschafft mit dem Bettlaken aus einem Hochsicherheitsgefängnis auszubrechen. Diesmal war es ein Australier und die Polizei hat ihn bereits wieder eingefangen, meldet spiegel.de.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/krü
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 20. August 2015: BSG bestätigt "Zwangsverrentung" – U-Haft wegen Salmonellen – Pistorius bleibt im Gefängnis . In: Legal Tribune Online, 20.08.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16661/ (abgerufen am: 08.05.2024 )
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