Strafrichter aller OLG-Bezirke treffen sich heute zum Strafkammertag. Sie wollen erreichen, dass die Reform der Strafprozessordnung fortgesetzt wird – etwa mit mehr Flexibilität bei der Geschäftsverteilung. Ein Interview mit Clemens Lückemann.
Zwei Tage nach der Bundestagswahl soll der 2. Strafkammertag in Würzburg weitere Reformen der Strafprozessordnung (StPO) auf die Agenda der künftigen Koalition setzen. Fast 80 Strafsenats- und Strafkammervorsitzende aus allen OLG-Bezirken wollen dem Bundesgesetzgeber ihre Vorschläge präsentieren – etwa zum Umgang mit Befangenheitsanträgen, zum Beweisrecht und zum Rechtsmittelrecht.
Die Veranstaltung wurde von der jährlich tagenden Konferenz der Oberlandesgerichtspräsidenten ins Leben gerufen und fand erstmals im Februar 2016 statt. Gastgeber ist dieses Mal der Präsident des Oberlandesgerichts (OLG) Bamberg, Clemens Lückemann.
LTO: Herr Lückemann, der Strafkammertag wurde erstmals im vergangenen Jahr veranstaltet, um Einfluss auf die Reform der Strafprozessordnung zu nehmen, die damals diskutiert wurde. Inzwischen sind die neuen Regelungen in Kraft getreten. Warum findet heute der 2. Strafkammertag statt?
Clemens Lückemann: Wir Präsidenten des BGH, der Oberlandesgerichte und des Kammergerichts hatten 2015 große Sorge, dass der Auftrag einer effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens verfehlt werden könnte. Der erste Strafkammertag 2016 in Hannover hat eine Reihe von Beschlüssen gefasst, von denen einige im Gesetzgebungsverfahren aufgegriffen wurden. Vor allem sind einige Regelungen, die wir kritisiert hatten, verhindert beziehungsweise abgeschwächt worden.
Vieles wurde jedoch noch nicht erreicht. Wir haben deshalb beschlossen, einen 2. Strafkammertag unter dem Motto "Gerechter Strafprozess braucht gute Gesetze" durchzuführen und zwar zeitnah zur Bundestagswahl, so dass die Ergebnisse in die nun anstehenden Koalitionsverhandlungen einfließen können.
Aufzeichnungen nur in besonderen Fällen
LTO: Die StPO-Reform wurde bis zum Schluss stark überarbeitet. Welche Forderungen des 1. Strafkammertages wurden dabei aufgegriffen?
Lückemann: Wir hatten einige Ergebnisse, mit denen wir wirklich zufrieden sein können, zum Beispiel, dass die audiovisuelle Aufzeichnung der Hauptverhandlung unterbleibt und die Aufzeichnung der Zeugen- und Beschuldigtenvernehmung in Bild und Ton nicht zum Regelfall wird, sondern nur, wenn es um besonders schutzbedürftige Beschuldigte und solche geht, denen vorsätzliche Tötungsdelikte vorgeworfen werden.
Wir haben auch erreichen können, dass das Eingangsplädoyer eines Verteidigers – ein opening statement, das unser Strafverfahren in die Richtung eines angloamerikanischen Parteiprozesses verschoben hätte – jetzt nur in besonders umfangreichen erstinstanzlichen Verfahren vorgesehen ist und der Vorsitzende Möglichkeiten hat, ein missbräuchliches vorgezogenes Plädoyer zu verhindern.
"Typisch deutsche perfektionistische Regelungsdichte"
LTO: Und welche Kritikpunkte bestehen aus Ihrer Sicht weiterhin?
Lückemann: Ich kann natürlich nicht vorwegnehmen, was die Kollegen heute in Würzburg beschließen werden. Aber um einige Stichworte zu nennen, die sicherlich diskutiert werden: Aus meiner Sicht ist es ein Unding, dass unsere Hauptverhandlungen – teilweise sehr lange, umfangreiche und arbeitsaufwändige Hauptverhandlungen – unter dem Damoklesschwert einer Aufhebung stehen, weil am Beginn der Hauptverhandlung ein Fehler gemacht worden ist. Im Kreis der OLG-Präsidenten sind wir uns einig, dass wir hier eine bindende Vorabentscheidung brauchen. Das heißt, wenn Befangenheitsanträge vermeintlich zu Unrecht abgelehnt wurden oder wenn der Angeklagte meint, der gesetzliche Richter sei nicht gewährt, dann könnte ein Beschwerdegericht vorab darüber bindend entscheiden und die Hauptverhandlung fortgesetzt werden.
LTO: Die strikten Regeln zur Geschäftsverteilung, die das Prinzip des gesetzlichen Richters umsetzen, werden von den OLG-Präsidenten schon seit langem kritisiert. Es muss ein Jahr im Voraus festgelegt werden, welcher Richter für welche Fälle zuständig ist, Änderungen sind nur in Ausnahmefällen möglich, etwa um auf Überlastung zu reagieren. Reichen die bisherigen Möglichkeiten nicht aus?
Lückemann: Es ist so, dass viele Gerichtspräsidien sich scheuen, innerhalb des Jahres notwendige Änderungen von Geschäftsverteilungsplänen vorzunehmen, weil die Voraussetzungen für Änderungen und vor allem deren Dokumentation sehr strikt geregelt sind. Sie haben Sorge, dass am Ende ein Urteil aufgehoben wird; denn der BGH überprüft jeden Rechtsfehler von Geschäftsverteilungsplänen.
Sinnvoller wäre es, diese Prüfung darauf zu beschränken, ob Willkür vorliegt. Eine weitere Möglichkeit wäre, vom Jährlichkeitsprinzip zum Halbjährlichkeitsprinzip überzugehen, sodass Änderungen schneller möglich sind. Richtig ist auch, dass wir über eine Flexibilisierung des Rechts des gesetzlichen Richters nachdenken müssen - hier haben wir zu einem guten Prinzip eine typisch deutsche, weltweit wohl einmalige perfektionistische Regelungsdichte.
2/2 "In Großverfahren die Nebenklage bündeln"
LTO: Das NSU-Verfahren beschäftigt das OLG München seit mehr als vier Jahren. Demnächst steht das Loveparade-Verfahren am Landgericht (LG) Duisburg an. Was müsste sich ändern, um solche Großverfahren zu beschleunigen?
Lückemann: Meine persönliche Meinung ist, dass man in solchen Fällen darüber nachdenken sollte, die Nebenklage zu bündeln, damit die Hauptverhandlung für den Vorsitzenden händelbar bleibt. Bei einer sehr großen Zahl von Nebenklägern und Nebenklagevertretern ist das schwierig. Der 1. Strafkammertag hat einige Beschlüsse gefasst, um insbesondere Wirtschaftsstrafverfahren zu beschleunigen. Dazu gehört etwa die Bildung eines Fachkräftepools an bestimmten Standorten mit Sachbearbeitern, Wirtschaftsreferenten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern. Außerdem könnte man die Verteidigervergütung für eine gewisse Anzahl an Hauptverhandlungstagen erhöhen, danach aber absenken.
Kernforderungen und Online-Umfrage
LTO: Was erwarten Sie für die kommende Legislaturperiode? Braucht es nun einen großen Wurf bei der Neugestaltung des Strafverfahrens oder eher punktuelle Nachbesserungen?
Lückemann: Als Veranstalter des Strafkammertages könnte ich mir vorstellen, dass in der neuen Koalitionsvereinbarung ein Signal von der Politik an die strafgerichtliche Praxis gesetzt wird. Etwa indem die Parteien beschließen, das Strafverfahren weiter praxisgerecht zu verbessern und die Wahrheitsfindung im Strafprozess zu erleichtern. Im Großen und Ganzen ist unsere Strafprozessordnung funktionsfähig.
Es gibt aber eine Vielzahl von Stellschrauben, die den Strafprozess seinem Ziel – nämlich die Wahrheit in einem rechtsstaatlichen Verfahren, aber auch in einem angemessen zügigen Verfahren zu finden – näherbringen würden. Wir stellen uns das so vor, dass sich jede der sechs Arbeitsgruppen zu zwei zentralen Forderungen entschließt, sodass wir heute Abend zwölf Kernforderungen präsentieren können, die sich im Wesentlichen an den Bundesgesetzgeber richten werden.
Darüber hinaus können alle Teilnehmer im Anschluss an einer Online-Umfrage teilnehmen, bei der wir eine ganze Reihe von Punkten auflisten werden, die beim Strafkammertag nicht als Kernforderungen beschlossen worden sind, aber trotzdem die Zustimmung der Praktiker finden könnten. Die Beschlüsse von heute und das Ergebnis dieser Umfrage werden wir dann sehr zeitnah an die Parteivorsitzenden und an die führenden Rechtspolitiker der politischen Parteien herantragen, die möglicherweise Koalitionsverhandlungen führen werden.
"Bisher ist ein jährlicher Strafkammertag nicht geplant"
LTO: Und Sie werden den Strafkammertag im nächsten Jahr fortsetzen?
Lückemann: Wir wissen noch nicht, ob sich dafür eine Notwendigkeit ergeben wird. Ich bin jetzt erst einmal gespannt, welche Forderungen aus den Reihen unserer Strafrechtspraktiker einvernehmlich oder weitgehend einvernehmlich zusammenkommen. Und wir hoffen, dass wir mit unseren Anliegen eine Resonanz in der Politik finden. Bisher ist es nicht geplant, dass der Strafkammertag eine ständige Einrichtung werden sollte.
LTO: Es gibt immer wieder die Forderung, dass nicht nur der Strafprozess weiter reformiert werden muss, sondern auch im materiellen Strafrecht etwas getan werden müsse. So schrieb etwa die ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger auf LTO, zu viele neue Strafgesetze überlasteten die Justiz – sehen Sie das auch so?
Lückemann: Ich kann natürlich die Feststellung unterstreichen, dass die Strafjustiz durch eine Vielzahl gesetzlicher Regelungen belastet wird – Strafgesetze wären ja sinnlos, wenn daraus keine Verfahren entstehen würden. Aber ich sehe es nicht als Aufgabe eines OLG-Präsidenten an, daran öffentlich Kritik zu üben. Die Justiz ist dazu da, das materielle Recht, das der Gesetzgeber schafft, umzusetzen. Aber wir brauchen gutes Verfahrensrecht als Handwerkszeug, um mit dem materiellen Recht umgehen zu können. Darum meine ich, dass wir legitimiert sind, uns zu verfahrensrechtlichen Fragen mehr zu äußern als zum materiellen Recht.
Clemens Lückemann ist seit 2013 Präsident des OLG Bamberg und seit 2015 außerdem Verfassungsrichter des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs.
Annelie Kaufmann, 2. Strafkammertag in Würzburg: Wenn das Handwerkszeug nicht stimmt . In: Legal Tribune Online, 26.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24715/ (abgerufen am: 04.05.2024 )
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