Familienrecht, ganz neu? Nach einer Resolution der parlamentarischen Versammlung des Europarats sollen Eltern die Kinderbetreuung bei einer Trennung paritätisch aufteilen. Damit würde sich einiges ändern, so Karin Susanne Delerue.*
In ihrer Sitzung vom 2. Oktober 2015 verabschiedete die parlamentarische Versammlung des Europarates in Straßburg eine Resolution [2079 (2015)], die das deutsche Familienrecht in dessen Grundprinzipien erschüttern könnte: Von den Mitgliedstaaten in einem Verhältnis von 46 Ja-Stimmen zu 0 Gegenstimmen wurde dort die Verankerung des sogenannten Wechselmodells als künftigem Betreuungsmodell für Kinder getrenntlebender Eltern als Gestaltungsauftrag für die Zukunft beschlossen.
Diese Veränderung wäre ein erheblicher Einschnitt in die in Deutschland vorherrschende Praxis, die Betreuung im "Residenzmodell" als Regelfall anzusehen. Derzeit werden noch in der überwiegenden Anzahl der Fälle Kinder getrennter Eltern durch einen Elternteil – häufig die Mutter – betreut, währen der andere Elternteil in seiner Betreuungsleistung auf Umgangstermine reduziert ist. Zugenommen hat jedoch in den vergangenen Jahren bei nichtstreitigen Trennungen die Praxis, dass die Kinder auch nach der Trennung von beiden Elternteilen zu gleichen Anteilen, also "paritätisch" betreut werden.
Paritätische Betreuung bisher oft erst nach teuren Verfahren
Die Einforderung der paritätischen Betreuung gelingt bei streitigen Auseinandersetzungen derzeit nur über den Rechtsweg – häufig im Rahmen von teuren und komplizierten Sorgerechtsverfahren, in denen die Betreuungsregelung durch Sachverständige beurteilt wird. An die Qualität dieser Gutachten wird seit der Initiative des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz aus dem Jahr 2014 deutlich höhere Anforderungen gestellt. Nichtsdestotrotz würde eine Abkehr vom Automatismus des Residenzmodells zu einer gesellschaftlichen Veränderung führen.
Eine Studie des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2002 resümiert noch auf Seite 176: "Während für viele unterhaltsberechtigte Mütter von vornherein klar ist, dass das Kind bei ihnen aufwächst, werden von Vätern häufig die rechtlichen Regelungen genannt, die aus ihrer Sicht generell oder zumindest in der Praxis ein Aufwachsen des Kindes bei ihnen verhindern.“
2/2: Gleichheit für alle – auch für die Väter
Europäische Gerichte und der Europarat lassen sich von der Überlegung leiten, dass es das Ziel einer europäischen Rechtsordnung sein muss, alle Bürger unabhängig von ihrem Geschlecht gleich zu behandeln. Hierzu gehört eben nach den Vorstellungen des Europarates in der bezeichneten Resolution auch, dass die Gleichstellung von Eltern in der Familie gewährleistet und gefördert werden muss. Hierunter versteht der Europarat nicht nur die paritätische Beteiligung beider Eltern an der Erziehung der Kinder. Ausdrücklich verlangt der Europarat, dass die Rolle der Väter gegenüber ihren Kindern besser anerkannt und angemessener bewertet werden muss. Er fordert, dass die Eltern-Kind-Trennung nur von einem Gericht und nur unter außergewöhnlichen Umständen mit ernsten Risiken für das Wohl des Kindes angeordnet werden soll.
Bereits in den zurückliegenden Jahren hatte die europäische Rechtsprechung die Rechte von Vätern erheblich gestärkt: So hat der Europäische Gerichtshof für Menschrechte (Urteil v. 13.12.2009, 22028/04) in der bis 19.05.2013 geltenden Fassung des elterlichen Sorgerechts einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention gesehen. Im Hinblick hierauf (und auf den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung vom 21.07.2010 -1 BvR 420/09 hin) hatte die Regierung eine Reform der Regelung beschlossen und das Gesetz geändert.
Auch jetzt scheint es so, als hätte das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz die europäischen Überlegungen ernst genommen: es fand dort bereits am 4. Mai 2015 ein Symposium zum Unterhaltsrecht bei Wechselmodell und erweitertem Umgang statt. In der Öffentlichkeit werden die Rufe nach einer Abkehr vom Residenzmodell lauter, viele Väter empfinden die Regelungen aus den 70er Jahren nicht mehr zeitgemäß, wie etwa Spiegel und FAZ berichteten.
*Anm. d. Red.: Der Teaser wurde aufgrund sachlicher Fehler nachträglich korrigiert am Tag der Veröffentlichung, 14:05 Uhr.
3/3: Unterhalt abhängig vom Wohnsitz des Kindes
Noch ist eine Umsetzung der europäischen Vorgaben nicht erfolgt. Unwahrscheinlich ist, dass dies noch in der aktuellen Legislaturperiode gelingt. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich aus einer Abkehr vom Residenzmodell viele Veränderungen ergeben:
So hat der Gesetzgeber in § 1606 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) für die Ermittlung des geschuldeten Kindesunterhaltes nur das Residenzmodell formuliert. Diese Regelung knüpft an den Wohnsitz des Kindes an – und hat finanzielle Auswirkungen in Bezug auf Unterhalt und Steuern wie der fehlende Haushaltsfreibetrag für das Kind, für das man "nur" Unterhalt zahlt. Hier ist der Gesetzgeber ganz entschieden gefordert, diese Regelungen an die europäische Vorgabe des Wechselmodells anzupassen.
Doppelresidenzmodell und doppelter Barunterhalt
Vereinbaren die Eltern nun ein Wechselmodell, entsteht häufig die Frage, wie sich dies auf die Barunterhaltspflicht gem. §1606 BGB auswirkt. Der BGH (Beschl. v. 12.03.2014, Az. XII ZR 234/13) verlangt für eine Abweichung von der einseitigen Barunterhaltspflicht ein „echtes“ Wechselmodell. Mit seiner Entscheidung vom 5. November 2014 (Az. XII ZB 599/13) stellt er klar, dass bei paritätischer Betreuung auch beide Elternteile ihren Kindern zu Barunterhalt verpflichtet sind.
Etliche Elternpaare gehen davon aus, dass bei einem echten Wechselmodell die Unterhaltspflicht entfällt. Diese Überlegung erscheint zunächst realitätsnah, sie ist indes nicht richtig. Durch den Fortfall des Residenzmodells entsteht eben ein Doppelresidenzmodell, das dann zu einer doppelten Barunterhaltspflicht führt. Nur bei nahezu identischen Einkommensverhältnissen kann es daher zu einem „Fortfall“ der Barunterhaltspflicht kommen, weil die Anteile der jeweils paritätisch kinderbetreuenden Elterneile eben gleich hoch wären. Da dies nur in den seltensten Fällen zutrifft, hat sich die Rechtsprechung in den vergangenen –Jahren immer häufiger damit auseinandersetzen müssen, wie der Unterhalt dann zu berechnen ist.
Klagen auf Unterhalt – gar nicht so einfach
Unabhängig hiervon erschwert die aktuelle Rechtslage die Klärung der Frage vor den Gerichten, da auch das Recht, den Unterhaltsanspruch des minderjährigen Kindes klären zu können, gem. § 1629 Abs.2 S2 BGB von dessen Residenz abgeleitet wird.
Dementsprechend muss der Elternteil, der für das zur Hälfte bei ihm lebende Kind Unterhalt geltend machen will, weil er weniger Einkommen erzielt als der andere Elternteil, vor dem eigentlichen Unterhaltsverfahren erst bei Gericht beantragen, dass ihm das Teilsorgerecht für die Frage der Geltendmachung von Unterhalt übertragen oder ein Ergänzungspfleger mit diesem Aufgabenkreis bestellt wird.
Die Autorin Karin Susanne Delerue ist Rechtsanwältin bei Delerue & Sharma und Fachanwältin für Familienrecht. Sie ist ausgebildete Mediatorin (BIM), im Deutschen Anwaltverein Regionalbeauftragte für die Arbeitsgemeinschaft Familienrecht für den Kammergerichtsbezirk, Mitglied im Vorstand der Rechtsanwaltskammer Berlin und im Fachausschuß für Erb- und Familienrecht bei der Bundesrechtsanwaltskammer.
*Anm. d. Red.: Der Teaser wurde aufgrund sachlicher Fehler nachträglich korrigiert am Tag der Veröffentlichung, 14:05 Uhr.
Karin Susanne Delerue, Familienrecht auf europäisch: Residenz weicht dem Wechsel . In: Legal Tribune Online, 27.06.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19661/ (abgerufen am: 04.05.2024 )
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