Auch rein private Schriftstücke müssen die zuständigen Stellen eines EU-Staats in einen anderen Mitgliedstaat übermitteln, entschied der EuGH. Ob Gerichte nun bald grenzüberschreitend Liebesbriefe zustellen müssen, erklärt Yannick Diehl.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat erstmals den Begriff des „außergerichtlichen Schriftstücks“ im Sinne Art. 16 der Europäischen Zustellungsverordnung (EuZVO) definiert. Die Luxemburger Richter beseitigen damit eine Unklarheit, die bereits den Vorgängervorschriften anhaftete.
Mit dem Begriff hat der Gerichtshofs sich schon 2009 in der Rechtssache Roda Golf Beach Ressort (Urt. v. 25.06.2009, Az. C-14/08) befasst. Seither ist klar, dass das außergerichtliche Schriftstück ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist, den der EuGH selbst festlegt und den er weit interpretiert. So fällt darunter beispielsweise auch eine von einem Notar erstellte Urkunde.
Mit der neuen Entscheidung vom Mittwoch erstreckt der EuGH den Anwendungsbereich der Verordnung auch auf bestimmte Schriftstücke, die weder von einer Behörde oder Amtsperson noch von einem Notar ausgestellt wurden. In der Wortwahl des Vorlagegerichts handelt es sich dabei um "rein private Schriftstücke".
Die Angst des Urkundsbeamten - und des Generalanwalts ColomerDer vorlegende spanische Juzgado de Primera Instancia nº 7 de Las Palmas de Gran Canaria hatte sich mit der Weigerung eines spanischen Urkundsbeamten zu befassen, ein Mahnschreiben förmlich nach der EuZVO zuzustellen. Das Mahnschreiben eines spanischen Unternehmens an eine deutsche Gesellschaft sei "kein außergerichtliches Schriftstück" i.S.v. Art. 16 EuZVO, argumentierte der Beamte.
Die deutsche und die spanische Gesellschaft hatten miteinander im November 2009 einen Handelsvertretervertrag geschlossen. Nachdem das deutsche Unternehmen den Vertrag gekündigt hatte, beantragte die spanische Gesellschaft bei der zuständigen Stelle in Spanien die förmliche Zustellung eines Mahnschreibens an das deutsche Unternehmen.
Mit diesem Mahnschreiben verfolgte sie eine nach spanischem Recht bestehende Geldforderung. Eine vorangegangene Zahlungsaufforderung hatte die spanische Gesellschaft bereits im Vorfeld ohne die Mitwirkung der zuständigen spanischen Stelle zustellen lassen.
Mit seiner Sorge, dass die zuständigen Stellen künftig zu Kurierdiensten verkommen könnten, befand sich der spanische Urkundsbeamte in bester Gesellschaft. In seiner Weigerung, die Mahnung zuzustellen, übernahm er sogar die Wortwahl des Generalanwalts in der Rechtssache Roda Golf Beach Ressort (Urt. v. 25.06.2009, Az. C-14/08), Dámaso Ruiz-Jarabo Colomer.
Außergerichtliche Schriftstücke – und was die Mitgliedstaaten darunter verstanden
Im Unionsrecht findet sich zwar an verschiedenen Stellen der Begriff "außergerichtlich" (u.a. in Art. 67 Abs. 4 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Uniun (AEUV)). Eine Definition lässt sich jedoch keiner der Vorschriften entnehmen. Der EuGH entwickelte die Definition daher autonom aus dem Zweck und der Historie der EuZVO.
Der Generalanwalt Yves Bot hatte in seinen Schlussanträgen das System der Zustellung durch eine zentrale Stelle auf das Haager Zustellungsübereinkommen zurückgeführt und gezeigt, dass rein private Schriftstücke von dessen Anwendungsbereich ausgeschlossen sind. Was so eindeutig scheint, wurde tatsächlich aber bereits seit dem Praktischen Handbuch über die Funktionsweise des Haager Zustellungsübereinkommens und später durch die nachfolgenden EG-Übereinkommen von 1997 und 2000 verwässert.
Die einzelnen Mitgliedstaaten konnten außerdem noch unter Geltung der Vorgängerverordnung EG 1393/2007 ein Glossar über die nationalen Schriftstücke erstellen, die unter die Verordnung fallen sollten. Der Vergleich dieser Verzeichnisse offenbart höchst unterschiedliche Vorstellungen der Mitgliedstaaten vom Begriff des außergerichtlichen Schriftstücks. Dort wird zum Teil auf die Ausstellung durch Behörden oder Amtspersonen abgestellt, andere Mitgliedstaaten nehmen überhaupt keine Unterscheidung vor. Es herrschten Uneinigkeit und ein divergierendes Begriffsverständnis.
2/2: EuGH: auch private Schriftstücke, die Anspruch beweisen oder wahren sollen
Diesem unklaren Zustand hat der EuGH nun ein Ende bereitet. Unter einem "außergerichtlichen Schriftstück" sind nicht nur Behördenschriftstücke und Schriftstücke von Amtspersonen zu verstehen, sondern auch private Schriftstücke, sofern sie zur Geltendmachung, zum Beweis oder zur Wahrung eines Rechts oder Anspruches in Zivil- und Handelssachen erforderlich sind (EuGH, Urt. v. 11.11.2015, Az. C-223/14. Auch schriftliche Mahnungen, Kündigungen oder Aufrechnungserklärungen fallen also in den Anwendungsbereich der EuZVO.
Mit der Beschränkung auf solche privaten Schriftstücke, "deren förmliche Übermittlung […] zum Beweis oder zur Wahrung eines Rechts oder Anspruchs in Zivil- oder Handelssachen erforderlich ist", begegnet der EuGH der Befürchtung, dass die zuständigen Stellen nun zu Kurierdiensten für private Schriftstücke wie Mahnungen werden könnten.
Eine Zustellung nach der EuZVO ist, so der Gerichtshof, auch dann zulässig, wenn bereits zum zweiten Mal zugestellt wird. Dabei kommt es nicht darauf, ob die erste Zustellung nach der EuZVO erfolgt ist oder nicht.
Neue Fragen
Aber es werden sich künftig neue Abgrenzungsfragen stellen, etwa die, ob auch einfache Fristsetzungen oder gar bloße nach deutschem Recht verjährungshemmende Verhandlungsschreiben (§ 203 Bürgerliches Gesetzbuch, BGB) förmlich zugestellt werden können.
Auf der Suche nach den Antworten wird zu berücksichtigen sein, dass der EuGH mit dieser Auslegung zentrale Ziele der Europäischen Union fördern will: die Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen und die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.
Es ist Zweck der EuZVO, auf welchen der EuGH ausdrücklich Bezug nimmt, einen reibungslosen und zuverlässigen europäischen Binnenmarktes zu gewährleisten. Diese Voraussetzung muss aber nicht für jede Zustellung im Einzelfall vorliegen, stellen die Luxemburger Richter klar. Diese Zielsetzung der Verordnung wird ihrer Ansicht nach vielmehr bei Vorliegen der Anwendungsvoraussetzungen zwangsläufig verwirklicht.
Mit der Entscheidung knüpft der EuGH an seine Rechtsprechung aus dem Jahr 2009 an und weitet den Begriff des außergerichtlichen Schriftstücks erneut aus. Es wird für Rechtssicherheit sorgen, dass nun eine vollständige Definition vorliegt. Bei den gemachten Einschränkungen sollte es bleiben: Die neue Definition sorgt dafür, dass nicht jedes beliebige private Schriftstück zugestellt werden muss.
Vor einer bevorstehenden Kurierdiensttätigkeit für private Liebesbriefe müssen sich die nationalen zentralen Stellen also nicht fürchten.
Der Autor Dipl.-Jur. Yannick Diehl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Europäisches Privatrecht, Internationales Privat- und Verfahrensrecht und Rechtsvergleichung von Univ.-Prof. Dr. Götz Schulze an der Universität Potsdam. Er promoviert auf dem Gebiet des Internationalen Privatrechts.
Dipl.-Jur. Yannick Diehl , EuGH zur grenzüberschreitenden Zustellung: Europäische Gerichte bald als Kurierdienste? . In: Legal Tribune Online, 11.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17518/ (abgerufen am: 06.05.2024 )
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