Wenn das Europäische Recht in einem nationalen Strafverfahren eine Rolle spielen soll, dann muss der EuGH während des Verfahrens angerufen werden – danach ist es zu spät. Marco Mansdörfer stellt das Urteil des EuGH vor.
Kann ein Beschuldigter den Verstoß gegen europäisches Recht – hier: einen Verstoß gegen das Verbot mehrfacher Strafverfolgung – auch dann noch rügen, wenn bereits eine rechtskräftige Entscheidung gegen ihn vorliegt? Nein! Das Recht der Europäischen Union gilt in nationalen (Straf)Verfahren unmittelbar. Ein Beschuldigter kann sich in einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren daher nur während des Verfahrens auf unionseuropäische Verfahrensrechte berufen. Die nachträgliche Anrufung des Europäischen Gerichtshofs ist ausgeschlossen. Auch die Rechtskraft von Entscheidungen wird von eventuellen Verstößen gegen das Unionsrecht nicht berührt. Erst recht ist eine Erneuerung nach österreichischem Recht bzw. eine Wiederaufnahme analog § 259 Nr. 6 StPO nach deutschem Recht, wie sie für Verletzungen der EMRK vorgesehen ist, bei Verstößen gegen das Recht der Europäischen Union nicht geboten.
Das Urteil des Gerichtshofs vom 24. Oktober 2018 in der Rechtssache C-234/17 betrifft ein Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofs Österreichs in einem dortigen auf § 363a öStPO gestützten Antrag auf Erneuerung eines Strafverfahrens. Der Antrag auf Erneuerung eines Strafverfahrens nach österreichischem Recht ist grob vergleichbar mit einer Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten nach § 359 Nr. 6 StPO im deutschen Recht. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist daher trotz seines unmittelbaren Bezugs zum österreichischen Recht gleichermaßen bedeutsam für den deutschen Rechtsanwender.
In der Sache geht es wieder einmal um den Grundsatz des transnationalen Verbots mehrfacher Strafverfolgung aus Art. 54 SDÜ und Art. 50 EU-Grundrechtecharta. Vereinfacht: Die Beschuldigten begehen – vermutlich, da ist das Urteil nicht ganz klar – einen grenzüberschreitenden Mehrwertsteuerbetrug. Dafür werden sie in Deutschland bzw. Lichtenstein verurteilt. Danach wendet sich die Schweiz mit einem Rechtshilfeersuchen an Österreich wegen einer Steuerhinterziehung zu Lasten der Schweizer Steuerverwaltung. Dagegen wenden sich die Beschuldigten mit dem Argument, die Taten seien doch bereits in Deutschland bzw. Liechtenstein rechtskräftig abgeurteilt worden. Einer erneuten Strafverfolgung stehe daher der in Art. 54 SDÜ verankerte Grundsatz des transnationalen Strafklageverbrauchs entgegen.
Durchbrechen der Rechtskraft nur bei Verstoß gegen EMRK
Nachdem die Beschwerden in letzter Instanz durch das Oberlandesgericht Innsbruck abgelehnt worden waren, stellten die Beschuldigten einen Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens analog § 363a öStPO. Diese Vorschrift durchbricht die Rechtskraft zugunsten des Beschuldigten aber nur, wenn in einem Verfahren gegen Beschuldigtenrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen wurde.
Der Oberste Gerichtshof Österreichs hat dem Europäischen Gerichtshof daher die Frage vorgelegt, ob das Recht der europäischen Union und namentlich der Art. 4 Abs. 3 EUV niederlegte Grundsatz der "loyalen Zusammenarbeit" die Erstreckung des Rechtsbehelfs nach § 363a öStPO auch auf Verstöße gegen das Recht der Europäischen Union gebietet.
Der Europäischen Gerichtshof hat dies klar verneint und begründet seine Entscheidung im Kern mit den unterschiedlichen Wirkungsmechanismen des Rechts der Europäischen Union einerseits und dem Recht der Europäischen Menschenrechtskonvention andererseits: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann gem. Art. 35 Abs. 1 EMRK erst dann angerufen werden, wenn die nationalen Rechtsbehelfe erschöpft sind und daher eine rechtskräftige Entscheidung vorliegt.
EuGH-Vorabentscheidungsverfahren als Schlüsselsystem
Die außerordentliche Durchbrechung der Rechtskraft im Anschluss an eine die Verletzung der EMRK feststellende Entscheidung des EGMR ist daher zwingende Folge des menschenrechtlichen Rechtsschutzes. Das vom Europäischen Gerichtshof sogenannte Schlüsselsystem zur Durchsetzung des Unionsrechts ist dagegen das in Art. 267 AEUV vorgesehene Vorabentscheidungsverfahren. Danach sind die nationalen Gerichte berechtigt und verpflichtet, für die volle Wirkung von Bestimmungen des Unionsrechts bereits im nationalen Verfahren zu sorgen und Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts gegebenenfalls vorab dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen. Dieser "verfassungsrechtliche Rahmen" gewährleistet effektiven Rechtsschutz schon bevor eine rechtskräftige Entscheidung vorliegt. Ein Bedürfnis zur späteren Durchbrechung der Rechtskraft im Wege eines außerordentlichen Rechtsbehelfs besteht daher nicht.
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof überzeugt: Das Recht der Europäischen Union ist supranationales Recht und folgt anderen Wirkungsmechanismen als das im Grundsatz dem einfachen Völkerrecht unterliegende Recht der Europäischen Menschenrechtskonvention. Würde man beides gleichen Regeln unterwerfen, würden Äpfel wie Birnen behandelt. Das ist tatsächlich aber nicht der Fall.
Das EuGH-Urteil ist eine europarechtliche Mahnung
Der Europäischen Menschenrechtskonvention als einer Gesamtheit völkerrechtlicher Normen wird in den verschiedenen nationalen Rechten eine privilegierte Stellung eingeräumt. Entsprechend hat auch der Generalwalt am Europäischen Gerichtshof in seinem Schlussantrag zur vorliegenden Entscheidung betont, dass die besondere Stellung, die der Europäischen Menschenrechtskonvention in einzelnen nationalen Rechten eingeräumt wird, "keine (…) relevante Vergleichsbasis" bildet. Der Grundsatz der Rechtskraft mit seiner Bedeutung für den Rechtsfrieden und eine geordnete Strafrechtspflege wird daher an dieser Stelle mit Recht nicht angetastet.
Für den Rechtsanwender ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs eine wichtige Mahnung, die aus dem Recht der Europäischen Union resultierenden Rechte nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Ein "Nachhaken" gibt es nicht. Erst recht ist der Europäische Gerichtshof keine "Superrevisionsinstanz" - aber das stand auch vor diesem Urteil nicht zur Debatte.
Dem Europäischen Gerichtshof wird in Zukunft dennoch eine zunehmend stärkere Stellung für die nationalen Straf- und insbesondere Strafverfahrensrechte zukommen. Der Gehalt der Richtlinien zu Verfahrensrechten, zur Prozesskostenhilfe und zu Opferrechten, die für die weitere Harmonisierung des Strafrechts in Europa eine zentrale Rolle spielen werden, ist längst noch nicht ausgelotet. Dabei bedarf es geringer prophetischer Gaben um zu erkennen, dass auch das deutsche Verfahrensrecht längst nicht allen Anforderungen genügt, die in diesen Richtlinien aufgestellt worden sind.
Der Autor Prof. Dr. Marco Mansdörfer ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht einschließlich Wirtschaftsstrafrecht und Strafprozessrecht an der Universität des Saarlandes. Zudem ist er als selbstständiger Strafverteidiger mit einem Schwerpunkt auf Wirtschaftsstrafrecht tätig.
EuGH zu Verstoß bei abgeschlossenem Strafverfahren: . In: Legal Tribune Online, 26.10.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31735 (abgerufen am: 10.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag