Belastungsstörung eines Rettungssanitäters, großflächige Verbrennungen, verlorene Finger: Es waren alles andere als erheiternde Fälle, über die das BSG im Jahr 2023 zu entscheiden hatte. Hier sind die wichtigsten in der Kurzfassung.
Wenn die – Stand 2022 – 21 Berufsrichterinnen und Berufsrichter am Bundessozialgericht (BSG) tätig werden, geht es häufig um das, was sich alle gegenseitig für den Übergang ins neue Jahr wünschen: die Gesundheit. Oder zumindest um die Chance auf eine Erleichterung, eine Linderung des Leids.
Oft hilft dabei auch einfach Geld, weil es das Leben leichter macht, wenn man es hat – und so klagen Menschen auch vor dem BSG, um mehr Geld aus den sozialen Kassen zu erhalten. Wie der Fall des Abgeordneten der Linkspartei in diese Reihe einzuordnen ist, der neben der Diät noch die volle Rente haben wollte, konnte getrost den Richter:innen in Kassel überlassen bleiben.
Und damit ein Blick auf einige wichtige Entscheidungen:
Medikamente ohne Zulassung nur im Notfall
Nur in einer notstandsähnlichen Situation haben Versicherte Anspruch auf eine Arznei, die nicht zugelassen ist. Das hat das BSG auf die Klage einer Schwangeren entschieden (Urt. v. 24.01.2023, Az. B 1 KR 7/22 R). Die Frau hatte sich mit dem für sie ungefährlichen Zytomegalievirus infiziert. Für das ungeborene Kind hingegen kann das Virus gefährlich werden, muss es aber nicht.
In einem solchen Fall muss die Krankenkasse nicht für ein Medikament bezahlen, das die Übertragungswahrscheinlichkeit verringen sollte, bei Ungeborenen aber nicht abschließend erforscht und nicht zugelassen ist, so das BSG. Der Staat müsse zwar das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Versicherten schützen – auch des ungeborenen Kindes. Die Ausnahmen vom Leistungskatalog seien aber definiert und könnten nur im Notfall erweitert werden. Das könnte bei einer hohen Wahrscheinlichkeit für einen tödlichen oder besonders schweren Krankheitsverlauf der Fall sein. Hier sagte die Statistik aber: keine notstandsähnliche Situation.
Versicherungsschutz im Ehrenamt auch auf Privatgrundstück
Im Jahr 2017 verlor ein Mann kurz vor Weihnachten zwei Finger. Er hatte Sägearbeiten für den Weihnachtsbasar im Kindergarten auf seinem Privatgrundstück durchgeführt. Das BSG entschied: Als Mitglied des Elternbeirats im Kindergarten war der Mann ehrenamtlich für den Kindergarten tätig – und damit unfallversichert (Urt. v. 05.12.2023, Az. B 2 U 10/21 R).
Damit vertraten die Richter:innen in Kassel eine andere Auffassung als die Vorinstanzen: Der Versicherungsschutz erstrecke sich ohne zeitliche oder räumliche Begrenzung auf ehrenamtliche Tätigkeiten "für" die Einrichtung, so das BSG. Zwar könne diese nicht auf das Privatgrundstück des Mannes einwirken – das war insoweit aber ohne Belang.
Kostenübernahme für Transplantation auch nach Manipulation
Der Göttinger Transplantationsskandal war vor über einem Jahrzehnt bundesweit in den Schlagzeilen: Der Leiter des Klinikums hatte Listen manipuliert und so die eigenen Patienten schneller an Spenderorgane gebracht. Die Krankenkasse kann das Geld für die Operationen aber nicht vom Klinikum zurückverlangen, entschied das BSG (Urt. v. 07.03.2023, Az. B 1 KR 3/22 R).
Die durchgeführten Organtransplantationen seien medizinisch indiziert und einwandfrei durchgeführt worden. Dies sei unabhängig von den zivil- und strafrechtlichen Konsequenzen für den Klinikumsleiter.
Bahnsurfen ist unfallversichert
Vielleicht sind die Eltern in so einem Fall schon genug gestraft – jedenfalls hat das BSG entschieden: Ein Schüler, der beim Bahnsurfen auf dem Heimweg von der Schule einen Stromschlag erleidet und brennend vom fahrenden Zug stürzt, ist gesetzlich unfallversichert (Urt. v. 30.03.2023, Az. B 2 U 3/21 R). Der damals 16-Jährige war auf eine Lok geklettert, erlitt einen Starkstromschlag aus der Oberleitung und stürzte brennend ab. Der Junge überlebte schwer verletzt. Er zog sich unter anderem hochgradige Verbrennungen von etwa 35 Prozent der Körperoberfläche zu.
Für das BSG war dies ein gesetzlich unfallversicherter Wegeunfall, es handele sich um "spielerische Betätigungen von Schülern im Rahmen gruppendynamischer Prozesse". Dazu gehöre auch, wenn ein Schüler auf das Dach eines Regionalexpresses klettert und sich dabei schwer verletzt. Die von ihm selbst geschaffene Gefahr schließe den Unfallversicherungsschutz nicht aus. "Angesichts wiederholt erfolgreicher Surfaktionen steht vielmehr fest, dass die dabei erworbene Sorglosigkeit zu einer massiven alterstypischen Selbstüberschätzung führte", entschieden die Richter:innen in Kassel.
Belastungsstörung kann Berufskrankheit sein
Eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) kann bei Rettungssanitätern eine sogenannte "Wie-Berufskrankheit" sein (BSG, Urt. v. 22.06.2023, Az. B 2 U 11/20 R). Sie ist zwar bei dieser Gruppe nicht in der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung aufgelistet, § 9 Sozialgesetzbuch (SGB) VII. Sie könne aber eine "Wie-Berufskrankheit" gem. § 9 II SGB VII sein: Demnach muss die Versicherung eine Erkrankung wie eine Berufskrankheit behandeln, wenn "nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft" die Voraussetzungen dafür vorliegen.
Grundsätzlich kann eine Posttraumatische Belastungsstörung also eine Berufskrankheit sein, so das BSG. Ob das aber auch im Fall eines Rettungssanitäters tatsächlich der Fall ist, muss das LSG erneut entscheiden.
Krankenkasse muss geschlechtsangleichende Operation nicht zahlen
Die Krankenkasse muss die Kosten für eine geschlechtsangleichende Operation bei einer non-binären Person nicht übernehmen, urteilte das BSG (Urt. v. 19.10.2023, Az. B 1 KR 16/22 R). Erforderlich sei eine Empfehlung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss, und daran fehle es bisher.
Die klagende Person ist als biologische Frau geboren, empfindet sich aber weder als Frau noch als Mann. Sie ließ ihren Vornamen und die Geschlechtsangabe im Geburtenregister ändern. Um nicht als Frau wahrgenommen zu werden, beantragte sie bei der beklagten Krankenkasse die Übernahme der Kosten (rund 5.000 Euro) für die Entfernung der weiblichen Brust. Die Krankenkasse lehnte den Antrag ab. In der Zwischenzeit wurde die Operation durchgeführt. Das Sozialgericht hat die Krankenkasse zur Kostenerstattung verurteilt, das Landessozialgericht hat die Klage abgewiesen – und dabei bleib es auch beim BSG.
Kein Anspruch auf nicht zugelassene Arzneimittel
Versicherte haben selbst bei regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheiten keinen Anspruch auf nicht zugelassene Arzneimittel. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Zulassungserweiterung aufgrund einer aussagekräftigen Studienlage abgelehnt wurde, oder weil die vorgelegten Daten wegen methodischer Probleme der Datenauswahl und Datenanalyse den Nutzen nicht bestätigen konnten, entschied das BSG (Urt. v. 29.06.2023, Az. B 1 KR 35/21 R).
Ein nicht mehr gehfähiger Patient hatte ein Medikament beantragt, das nur für gehfähige Personen in der EU zugelassen ist. Anträge auf die Zulassung für andere Patienten hatte die Arzneimittelbehörde abgelehnt. Der Senat hält mit dieser Entscheidung an seiner bisherigen Rechtsprechung fest: Eine solche negative Bewertung des Arzneimittels im Zulassungsverfahren entfaltet eine Sperrwirkung für Ansprüche auf Kostenübernahme nach § 2 Absatz 1a SGB V.
Elterngeld plus auch bei längerer Erkrankung
Die zwei zusätzlichen Elterngeldmonate gibt es auch, wenn ein Erziehungsberechtigter über die Lohnfortzahlung hinaus erkrankt ist (BSG, Urt. v. 07.09.2023, Az. B 10 EG 2/22 R). Eine andere Auslegung widerspreche der Zielsetzung des Elterngeldes Plus, das die partnerschaftliche Betreuung von Kindern und zugleich die wirtschaftliche Absicherung über eine Teilzeittätigkeit ermöglichen solle.
Nach § 4 Abs. 4 S. 3 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) haben Eltern zwar nur dann Anspruch auf vier zusätzliche Monate Elterngeld Plus als Partnerschaftsbonus, wenn beide Elternteile ihr Kind betreuen und gleichzeitig zwischen 25 und 30 Wochenstunden erwerbstätig sind. Zudem ist in einer Richtlinie zur Umsetzung des BEEG ist festgelegt, dass eine Erwerbstätigkeit nur bis zum Ende der Lohnfortzahlung bestehe.
Nach Ansicht des BSG gelten Eltern im Rechtssinne auch dann als erwerbstätig, wenn sie ihre auf die vorgeschriebene Zahl an Wochenstunden festgelegte Tätigkeit während der Arbeitsunfähigkeit zwar nicht ausüben können, das Arbeitsverhältnis aber fortbesteht und die Arbeit voraussichtlich wieder aufgenommen wird.
Bemessung des Elterngeldes nach Arbeitslosigkeit
Einer schwangeren Frau steht kein höheres Elterngeld zu, wenn sie im Bemessungszeitraum arbeitslos war und ihren bisherigen Beruf schwangerschaftsbedingt nicht wieder aufnehmen konnte. Vielmehr kommt die Gewährung eines höheren Elterngelds nur in Betracht, wenn Ursache des geringeren Erwerbseinkommens eine schwangerschaftsbedingte Erkrankung war (BSG, Urt. v. 09.03.2023, Az. B 10 EG 1/22 R).
Zwar können Umstände vorliegen, die eine Verschiebung des Bemessungszeitraumes bewirken – so etwa auch in diesem Fall, wenn die Frau schwangerschaftsbedingt erkrankt ist. Die Aufzählung der Ausnahmetatbestände ist aber abschließend, es gebe keine planwidrige Regelungslücke. Das wirtschaftliche Risiko von Arbeitslosigkeit tragen die Elterngeldberechtigten, das hat der Gesetzgeber bewusst so geregelt.
Keine volle Rente neben Abgeordnetendiät
Die Entschädigung (Diät) als Abgeordneter plus volle Rente? Das gibt es nach der aktuellen Rechtslage nicht: Bei Abgeordneten mit Diäten i.H.v. aktuell über 10.500 Euro monatlich werden die Rentensprüche um 50 Prozent gekürzt, § 29 Abgeordnetengesetz. Und dabei bleibt es auch, entschied das BSG (Urt. v. 18.10.2023, Az. B 5 R 49/21 R).
Klaus Ernst, Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, hielt die Halbierung für rechtswidrig, ging mit der Sprungrevision direkt zum BSG. Und scheiterte: Mit § 29 Abgeordnetengesetz wollte der Gesetzgeber eine sogenannte Doppelalimentation verhindern. Die Regelung geht auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurück. Das könne den Eingriff in verfassungsrechtlich geschützte Positionen rechtfertigen, so die Richter:innen in Kassel.
Die Ruhensvorschrift solle verhindern, dass mehrere Leistungen aus öffentlichen Kassen mit unterhaltssichernder Funktion in vollem Umfang gleichzeitig gezahlt würden. Dass die Rente selbst erwirtschaftet sei, stehe dieser Ansicht nicht entgegen.
Sollte man kennen: Zehn wichtige BSG-Entscheidungen 2023 . In: Legal Tribune Online, 02.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53536/ (abgerufen am: 09.05.2024 )
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