Ein Beamter, der in den 1930er-Jahren den "Hitlergruß" nicht ordentlich ausführte, musste sich das 1955 noch als Dienstversäumnis anrechnen lassen. Martin Rath über eine wahnwitzige Entscheidung damaliger Bundesrichter.
Unhöfliche Neonazis sollen nicht unbelehrt bleiben. Es heiße "Heil Hitler" oder doch wenigstens "Guten Tag", wenn man in Deutschland einen fremden Raum betrete. So herrschte der Kabarettist Matthias Beltz (1945-2002) die Kunstfigur des Neonazis in einer seiner letzten Bühnennummern an. Als abgebrochener Jurist war Beltz garstig genug, sein glucksendes Publikum nicht davor zu warnen, derlei im Alltag lieber nicht zu versuchen.
Zwar ist der Witz der kabarettistischen Zurechtweisung des virtuellen Neonazis mit der Methode verwandt, geistig Gestörten in der Logik ihrer Wahnwelt so lange zu folgen, bis sie von selbst auf den Gedanken kommen, dass sie dies von ‚normalen‘ Menschen eigentlich nicht erwarten dürfen – womit sie ihre Wahnwelt dann selbst in Frage stellen.
Freilich mag man sich damit viel Ärger bereiten. Beispielsweise zeigte das erst vom Bundesgerichtshof (BGH) beendete Verfahren um die "antifaschistische" Verwendung des durchgestrichenen Hakenkreuzes, dass deutsche Polizisten, Richter und Staatsanwälte nicht unbedingt die Erfinder von Mutterwitz und doppelbödigen rhetorischen Strategien sind (BGH, Urt. v. 15.5.2007, Az. 3 StR 486/06).
Rechtsstaatliche Beamtenpflicht zum Hitlergruß
In freier Wildbahn, so steht zu befürchten, fände sich am Ende noch ein Polizist oder Staatsanwalt, den Matthias Beltz' Mahnung an die Adresse von Neonazis, wenigstens im Rahmen ihres Wahnsystems Höflichkeit an den Tag zu legen, dazu veranlasst, ein Strafverfahren nach §§ 86a, 27 Strafgesetzbuch (StGB) zu betreiben: Anstiftung zur Verwendung von Symbolen verfassungsfeindlicher Organisationen.
Das Oberlandesgericht (OLG) Oldenburg sah 2010 Anlass, auch den unpolitischen Gebrauch des NS-Grußes zu bestrafen (Urt. v. 26.7.2010, Az. 1 Ss 103/10), im Fall Jonathan Meese bedurfte es einiger prozessualer Durchläufe, um dem Künstler seine Narrenfreiheit zuzubilligen.
Unvorstellbar, dass angesichts dieser grundsätzlichen Verpöntheit und formalisierten Abscheu gegenüber jeder NS-Symbolik ein Gericht der Bundesrepublik beispielsweise dem "Hitlergruß" eine positive Seite abgewinnen kann?
Es klingt absurd, doch im Beschluss des Bundesdisziplinarhofs vom 21. Juli 1955 findet sich die gleichsam auf ihren rechtsstaatlichen Kerngehalt reduzierte Plicht des deutschen Beamten, einen formvollendeten "Hitlergruß" gezeigt haben zu sollen (Az. II DW 2/55).
Renitenz im NS-Staat mag auch der Bundesrichter nicht
Die grammatische beziehungsweise stilistische Verrenkung zur Pflicht des Beamten, den "Hitlergruß" zu zeigen, wird den zeitlichen und argumentativen Quälereien gerecht, die sich dieses für Verfehlungen von Beamten zuständige Bundesgericht 1955 leistete.
Mit Urteil der Dienststrafkammer vom 14. November 1938 war ein Stadtinspektor aus dem Dienst entfernt worden, weil er es abgelehnt hatte, dienstlich Auskunft darüber zu geben, warum er nicht im nationalsozialistischen Winterhilfswerk tätig geworden sei, er auch keinen anderen NS-Organisationen angehöre und keine sogenannten Schulungsbriefe der NSDAP erworben hatte. Des Weiteren begründete die Dienststrafkammer die Beseitigung des Beamten mit dessen allgemeiner Dienstunlust sowie damit, dass er seinen Vorgesetzten den "Hitlergruß" nicht angemessen entboten habe.
Knapp 17 Jahre später betrieb der Stadtinspektor die Wiederaufnahme dieses Dienststrafverfahrens nach Artikel 8 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Dienststrafrechts vom 28. November 1952 (BGBl. I, S. 749, 758). Nach dieser Norm waren u.a. Disziplinarstrafen, die zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 "ausschließlich oder überwiegend aus politischen Erwägungen" verhängt worden waren, aufzuheben oder angemessen zu mildern.
2/2: "Hitlergruß" rechtsstaatlich geboten
Der Bundesdisziplinarhof billigte dem Stadtinspektor zu, dass die Fragen des Dienstherren zu seinen Motiven, sich nicht aktiv in NS-Organisationen zu betätigen, seinerzeit rechtsstaatwidrig gewesen seien.
In der nachlässigen Ausübung des "Hitlergrußes" erkannten die Bundesrichter 1955 aber Anzeichen einer überhaupt nachlässigen Haltung des Beamten gegenüber seinen Vorgesetzten, die ihm 1938 unter anderem zum Vorwurf gemacht hatten, dem Gruß etwa durch das Tragen von Akten aus dem Weg gegangen zu sein. Oft hatte der Beamte dann auch mit dem linken Arm gegrüßt, was von Amts wegen nur Körperbehinderten erlaubt war: "Zu den selbstverständlichen Pflichten eines Beamten gehört es, seinen Dienstvorgesetzten mit Achtung zu begegnen. Die Bezeugung der Nichtachtung durch absichtlich nachlässiges Grüßen ist unter jeder Staatsform auch nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ein Dienstvergehen, das eine Ahndung erfordert. Hierfür ist es ohne Bedeutung, daß die damals vorgeschriebene Form des Grußes die des Hitlergrußes war."
Damit trennte der Bundesdisziplinarhof den "Hitlergruß" 1955 in eine gleichsam gute, der sozialen Konvention geschuldete Geste auf, deren Unterlassung einem Beamten als Dienstvergehen vorzuwerfen war, und den nach dem Untergang der NS-Herrschaft unerwünschte bzw. verbotenen Aspekt des Grußes.
Der Peinlichkeit, eine rechtliche Konsequenz aus dieser feinen Unterscheidung zu ziehen, entging der Bundesdisziplinarhof, indem er erstens die 1938 verfügte Entlassung aus dem Dienst für unverhältnismäßig erklärte. Die zweite umgegangene Peinlichkeit bleibt pikant: Eine dienstrechtliche Geldstrafe wegen schlecht oder nicht ausgeführtem "Hitlergruß" wäre in Ordnung gegangen, sie nachträglich zu verhängen war – dieser Peinlichkeit entgingen die Richter 1955 – von Rechts wegen vom Bundesdisziplinarhof nicht zu besorgen.
"Unpolitischer" Hitlergruß? - Eher Unfug
Dem Bundesdisziplinarhof diesen feinen Unterschied zwischen dem politischen und unpolitischen, insoweit beamtenrechtlich und rechtsstaatlich gebotenen "Heil Hitler" als putzige Fehlleistung anzukreiden, könnte sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, eine anachronistische Moral Nachgeborener an den Beschluss von 1955 anzulegen. Fraglich ist, ob der Hitlergruß zwischen 1933 und 1945 als schlichte Höflichkeitsgeste etabliert war.
Ist dies wirklich fraglich? In seiner Studie "Der deutsche Gruß. Geschichte einer unheilvollen Geste" (2005) zitiert der Frankfurter Soziologe Tilman Allert beispielsweise eine Anordnung des Reichsinnenministers vom 22. Januar 1935. Die Anordnung erinnert die Behördenmitarbeiter daran, dass die Beziehung des Beamten "mit dem Führer und Reichskanzler zu einem höchstpersönlichen und unlösbaren Treueverhältnis ausgestaltet, dem in besonderer Form des deutschen Grußes Ausdruck zu geben, die Beamten-, Angestellten und Arbeiterschaft der öffentlichen Verwaltung, wie ich überzeugt bin, freudig gewillt ist. Ich ordne daher an, daß fortan die Beamten, Behördenangestellten und -arbeiter den deutschen Gruß im Dienst und innerhalb der dienstlichen Gebäude und Anlagen durch Erheben des rechten – im Fall körperlicher Behinderung des linken – Armes und durch den gleichzeitigen deutlichen Ausspruch 'Heil Hitler' ausführen. Ich erwarte von den Beamten, Behördenangestellten und -arbeitern, daß sie auch im außerdienstlichen Verkehr in gleicher Weise grüßen."
Affen sind abzuschlachten
Tilman Allert führt weitere Beispiele für rechtlichen Zwang und justizförmigen Terror an, die sich sowohl an die Nichtbeachtung wie an unerwünschte Formen des "Hitlergrußes" anschließen konnten. Die politische Polizei in Hessen wurde 1934 beispielsweise angewiesen: "Es wird uns berichtet, daß von fahrenden Schaustellern dressierte Affen darauf abgerichtet sind, […] den deutschen Gruß nachzuahmen. Derartige Vorführungen sind geeignet, den deutschen Gruß verächtlich zu machen und damit in der Öffentlichkeit Anstoß zu erregen. Wir beauftragen Sie deshalb, in Zukunft auf Jahrmärkten und bei sonstigen Gelegenheiten die fahrenden Schausteller eingehend in dieser Richtung unauffällig zu kontrollieren und bei festgestellten Verstößen die Abschlachtung der betreffenden Tiere zu veranlassen."
Mangelnde Grußbereitschaft löste den Anfangsverdacht staatsfeindlicher Gesinnung aus: Ein spielerischer Umgang mit dem "Hitlergruß" brachte den dressierten Affen in die Abdeckerei und den Anhänger der Swing-Musik mit ihrem ironischen "Swing Heil" ins Jugendkonzentrationslager.
Nein, es fällt schwer, mit dem Bundesdisziplinarhof des Jahres 1955 zwischen politischer Substanz und höflichem Akzidenz (oder umgekehrt) einer Grußformel und -geste zu unterscheiden.
"Satyrspiel" des frühen Bundesbeamtenrechts
Der Beschluss des Bundesdisziplinarhofs steht, wie der spätere Professor Michael Kirn in seiner Dissertation „Verfassungsumsturz oder Rechtskontinuität?“ (1972) zeigte, in besonders drastischer Weise für den heftigen Streit, der sich in den 1950er Jahren zwischen dem Bundesverfassungsgericht und insbesondere dem BGH abspielte.
Sehr verkürzt gesagt, vertraten die Verfassungsrichter den Standpunkt, dass die Beamtenverhältnisse mit dem NS-Staat am 8. Mai 1945 untergegangen seien, während sich der BGH auf das Konzept eines fast gottgegebenen Beamtenverhältnisses festlegte, das von keiner Staatsordnung in seinem unpolitischen Kern befleckt werden und schon gar nicht untergehen könne. Besonders verwirrte Anhänger der letztgenannten Position findet man heute gern unter den Aluhut-Trägern der "Reichsbürger" – und unter ihnen die richtigen Adressaten für den garstigen Matthias-Beltz-Scherz.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Bundesdisziplinarhof 1955: Absurdität mit "Hitlergruß" . In: Legal Tribune Online, 19.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16273/ (abgerufen am: 04.05.2024 )
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