Vierjährige Hängepartie um Strafrechtsklausur

Prüfer dürfen ihre Mei­nung ändern

Gastbeitrag von Jannina SchäfferLesedauer: 6 Minuten

Das Justizprüfungsamt NRW hat den Streit um die Neubewertung einer Strafrechtsklausur durch alle Instanzen getrieben – ohne Erfolg. Das BVerwG lässt den Kandidaten nach vier Jahren Rechtsstreit endlich zur mündlichen Prüfung antreten.

Bei einem Referendar, der 2019 an den Klausuren zum zweiten Staatsexamen in Nordrhein-Westfalen teilnahm, lief es schlecht. So schlecht, dass er nicht die mindestens geforderten 3,50 Punkte im Gesamtdurchschnitt der Klausuren erreichte. Daher ließ ihn das Landesjustizprüfungsamt (LJPA) im März 2020 nicht zur mündlichen Prüfung zu, sondern überbrachte ihm stattdessen die Horrornachricht, dass er das Staatsexamen nicht bestanden habe.

Dagegen legte der Prüfling zunächst erfolglos Widerspruch ein und klagte anschließend. Inhaltlich wendete er sich gegen die Bewertung von fünf seiner acht Klausuren. Darunter auch die Klausur "Strafrecht 1", die mit sechs Punkten (ausreichend) bewertet worden war. Denn hier hatte es ein kurioses Hin und Her gegeben.  Zunächst hatten sowohl Erst- als auch Zeitgutachter die Klausur mit sechs Punkten bewertet. Auf den Widerspruch des Prüflings hoben sowohl der Erst- als auch Zweitkorrektor im sog. "Überdenkungsverfahren" die Benotung der Strafrechtsklausur um einen Notenpunkt an.

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Prüfungsamt mischt sich in Neubewertung ein

Zur Begründung erklärte der Erstkorrektor: "Bei erneuter Abwägung der durchaus vorhandenen Stärken und der Schwächen der Bearbeitung unter Berücksichtigung des Widerspruchsvorbringens halte ich auch eine Bewertung der Gesamtleistung mit befriedigend (7 Punkte) für vertretbar." Dem schloss sich der Zweitprüfer an. Gut für den Kandidaten: Mit der Hochsetzung der Note von sechs auf sieben Punkte erreichte er den notwendigen Gesamtschnitt von 3,5 Punkten.

Doch die Freude währte nur kurz: Das Prüfungsamt teilte den beiden Prüfern mit, dass die Anhebung der Bewertung "aus prüfungsamtlicher Sicht nicht ohne weiteres eingängig begründet" sei. Daraufhin nahmen sowohl der Erst- als auch der Zweitgutachter diese Hochstufung auf Drängen des LJPA wieder zurück und blieben bei der ursprünglichen Bewertung der Klausur mit sechs Punkten.

Dass diese Einmischung nicht rechtens war, bestätigte nun das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, Beschl. v. 14.12.2023, Az. 6 B 12.23). Im Kern ging es in dem vom LJPA durch alle Instanzen getriebenen Verfahren um folgende Frage: Ist es möglich, eine Klausur bei nochmaliger Korrektur in der Gesamtbetrachtung besser zu benoten, ohne dass sich die Bewertungskriterien geändert haben?

Das Landesjustizprüfungsamt (LJPA) hatte dies kategorisch verneint. Im sogenannten "Überdenkungsverfahren" dürften sich die Prüfer nur mit "substantiierten Einwänden" des Prüflings auseinandersetzen; andernfalls komme es zu einer "unzulässigen Verschiebung des Bewertungsmaßstabs".

OVG: Andere Gewichtung im Rahmen der Gesamtbewertung möglich

Der Prüfling gab nicht auf und klagte gegen den ablehnenden Bescheid. Er war der Ansicht, das Prüfungsamt habe durch die Anweisung "in unzulässiger Weise in den Bewertungsspielraum" der Prüfer eingegriffen. Die Bewertung sei eine "eigenverantwortliche Entscheidung", auf die das Prüfungsamt keinen Einfluss nehmen dürfe.

Sowohl das Verwaltungsgericht (VG) Gelsenkirchen als auch das Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen (Beschl. v. 13.03.2023, Az. 14 A 1200/22) gaben ihm Recht. Beide Gerichte verpflichteten das Prüfungsamt dazu, die Note von sechs auf sieben Punkte anzuheben.

Grundsätzlich müssen Prüfer im Überdenkungsverfahren alle substantiierten Einwände überprüfen, die der Kandidat innerhalb seines Widerspruchs erhebt. Das OVG NRW führte dazu aber aus, dass sich aus diesem Gebot im Umkehrschluss kein Verbot ergebe, auch sonstige Einwände zu prüfen. Im Einzelfall könnten vielmehr Einwände, die jeweils für sich genommen nicht durchgreifen, bei einer Gesamtbetrachtung zu einer anderen Bewertung führen. Es bestehe gerade kein Verbot, die Gesamtbewertung einer Überprüfung zu unterziehen, wenn kein Einwand des Prüflings für sich genommen verfängt.

Außerdem verstoße die Hochstufung der Note auch nicht gegen die Chancengleichheit. Dieser Grundsatz sei nur betroffen, wenn die Prüfer das ursprünglich zugrunde gelegte Bewertungssystem bei der Neubewertung verändern würden. Dies sei hier aber nicht geschehen.

Auch lägen keine sachwidrigen Gründe wie z. B. Arbeitsersparnis vor und die Neubewertung diene in diesem Fall nicht dem Zweck, "dem Widerspruchsführer 'den Wind aus den Segeln zu nehmen', wie es das OVG formuliert hatte. Vielmehr habe sich der Erstprüfer mit den Einwänden des Prüflings auseinandergesetzt. Dabei nahm er seine Einschätzung, dem Kandidaten sei bei der Prüfung eines Delikts ein "schwerwiegender" Fehler unterlaufen, teilweise zurück und maß diesem Mangel ein "geringeres Gewicht" bei. Zu den §§ 100a und 100b Strafprozessordnung* bescheinigte er dem Kandidaten "durchaus zutreffende Gedanken", wohingegen er ursprünglich eine "wenig überzeugende Begründung" moniert hatte.

LJPA scheitert in allen Instanzen

Vor diesem Hintergrund war es laut OVG geboten, die Gesamtbewertung der Klausur zu überprüfen. Dass die Prüfer dabei zu dem Schluss kamen, die Note um einen Punkt nach oben zu korrigieren, sei folglich nicht zu beanstanden.

Da das OVG die Revision nicht zuließ, blieb dem LJPA NRW nur eine Nichtzulassungsbeschwerde. Trotz Niederlagen in zwei Instanzen, Nichtzulassung der Revision und drohender Kostenlast klammerte sich das LJPA NRW auch an diesen letzten Strohhalm – was Juristische Prüfungsämter eben so machen. Doch auch vor dem BVerwG scheiterte die Behörde: Die Richter in Leipzig wiesen die Nichtzulassungsbeschwerde zurück.

Das BVerwG war nicht überzeugt von der Argumentation des LPJA, dass eine Hochstufung der Note ohne echte Zweifel an der ursprünglichen Bewertung zu einer unzulässigen Verschiebung der Bewertungskriterien führe. Denn es sei grundsätzlich möglich, einzelne Aspekte der Bewertung im Rahmen der angestellten Gesamtbewertung anders zu gewichten, auch wenn die Einwände gegen die Benotung jeweils einzeln nicht durchgriffen. So sei es hier geschehen, weswegen entgegen der Ansicht des LJPA der Grundsatz der Chancengleichheit nicht beeinträchtigt sei.

Anfechtung oder Verpflichtung?

Daneben musste sich das BVerwG auch mit einer Frage aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht beschäftigen: Ist gegen eine Prüfungsentscheidung eine Anfechtungs- oder eine Verpflichtungsklage statthaft?

Auch hier erteilte das BVerwG dem Prüfungsamt eine klare Absage. Wegen dieser Frage könne die Grundsatzrevision nicht zugelassen werden, denn sie sei in der Rechtsprechung bereits geklärt. Die Antwort wie stets: Es kommt drauf an! Werde mit einer Klage nicht unmittelbar eine bessere Bewertung einer Prüfungsleistung, sondern die Aufhebung einer Entscheidung begehrt, die z. B. den weiteren Fortgang des Prüfungsverfahrens versperre, sei die Anfechtungsklage statthaft. Dagegen sei die Verpflichtungsklage zu erheben, wenn die Neubewertung oder die Wiederholung einer Prüfung angestrebt werde und hierfür zunächst eine darauf bezogene Entscheidung in der Form eines Verwaltungsakts vorgesehen sei. So auch im vorliegenden Fall.

Auch wenn das BVerwG den gerichtlichen Erfolg des Prüflings mit seinem Urteil besiegelte, ist er ein Leidtragender des Verfahrens: Er wartet seit 2019 auf seinen Abschluss und konnte in dieser Zeit nicht als Jurist arbeiten. Vier Jahre nach den Klausuren des zweiten Staatsexamens darf er nun endlich zur mündlichen Prüfung antreten. Dort steht er vor der Aufgabe, sich noch von dreieinhalb auf über vier Punkte zu hieven. Andernfalls waren die Strapazen aus einem Widerspruchsverfahren und drei gerichtlichen Instanzen umsonst.

"Ich schließe mich dem Votum des Erstgutachters an"

Der Fall verdeutlicht ein zentrales Problem der Zweitkorrektur bzw. ihrer Ausgestaltung in den meisten Bundesländern. Vier Augen sehen mehr als zwei, sollte man meinen. Das gilt aber nur, wenn sie unabhängig voneinander beobachten. Doch in den juristischen Staatsprüfungen kennt der Zweitprüfer das Erstgutachten, wenn er sein Zweitgutachten erstellt. Das nennt sich offene Zweitkorrektur (in Abgrenzung zur verdeckten). In der Praxis führt das oft dazu, dass sich der Zweitkorrektor einfach dem Votum des Erstkorrektors anschließt. So war es auch in diesem Fall – und zwar sowohl beim "Hin" als auch beim "Her".

Angesichts sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse ist das Verfahren der offenen Zweitkorrektur fragwürdig. "Eine unabhängige zweite Meinungsbildung findet nach Sichtung der ersten Bepunktung nicht mehr statt", sagt die Juristin und Psychologin Alica Mohnert gegenüber Jurios. "Der Ausweg: blinde Korrekturen, also ohne Einsicht in das andere Votum." Dies liege vor allem an dem sog. Ankereffekt (anchoring). Darunter versteht man eine kognitive Verzerrung (bias), die darin besteht, dass ein Teilnehmer einer Diskussion oder Verhandlung einen Anker setzt, von dem andere Teilnehmende dann nicht mehr allzu weit abweichen, obwohl sie theoretisch könnten. "Wenn wir eine fairere Juristenausbildung wollen, dann müssen die LJPAs vor allem eins beachten: Juristengehirne sind menschliche Gehirne, die ihrer eigenen Psychologie nicht entkommen können", so Mohnert.

In Rheinland-Pfalz lässt man sich von solchen empirischen Argumenten überzeugen: Ein Neuerlass der Juristische Ausbildungs- und Prüfungsordnung  (JAPO) sieht dort die Wiedereinführung der verdeckten Zweitkorrektur vor, die Ende 1993 abgeschafft worden war.

Jannina Schäffer ist Gründerin und Chefredakteurin des Online Magazins "JURios – kuriose Rechtsnachrichten". Die Volljuristin promoviert berufsbegleitend an der Deutschen Hochschule der Polizei.

* Zunächst war hier das Strafgesetzbuch zitiert, weil auch das OVG NRW dies in seinem Urteil so zitiert. Gemeint sein dürften aber die entsprechenden Vorschriften der Strafprozessordnung, denn § 100b StGB existiert nicht. Korrigiert am 30.01.2024, 17:30 Uhr.

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