Befangenheitsanträge gegen Richter führen nur selten zur Abberufung. Jetzt aber in Den Haag. Außerdem in der Presseschau: Privatisierungsbremse in Bremen, Anklage gegen Jürgen Schneider, 30 Tage Haft für Vergewaltigung, geschlechtsspezifisches Schmerzensgeld und soziales Erbe.
Befangenheit in Den Haag: Vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag/Niederlande wird seit mehreren Jahren gegen den serbischen Nationalisten Vojislav Seselj verhandelt. Ab sofort ohne Richter Frederik Harhoff. Auf Antrag des Angeklagten ist der Däne wegen Besorgnis der Befangenheit vom Verfahren ausgeschlossen worden, ein Novum in der Geschichte des 1993 gegründeten ICTY.
Wie spiegel.de (ade) schreibt, hatte sich Harhoff in einem Schreiben kritisch zu jüngsten Freisprüchen am Jugoslawientribunal geäußert. Zudem habe er den US-amerikanischen Gerichtspräsidenten Theodor Meron beschuldigt, eine Auslegung, nach der Offiziere nicht notwendigerweise für Kriegsverbrechen ihrer Untergebenen verantwortlich zu machen seien, zum Schutz US-amerikanischer Soldaten voran getrieben zu haben. Hierdurch habe Harhoff nach Entscheidung seiner Richter-Kollegen einen "nicht zu akzeptierenden Anschein der Voreingenommenheit zugunsten von Verurteilungen" erweckt. Nach dem Bericht der SZ (Ronen Steinke) erscheine es als "ausgemacht", dass der abberufene Richter auch von den anderen bislang von ihm verhandelten Fällen gegen den serbischen Geheimdienstler Jovica Stanisic und den bosnischen Kommandeur Rasim Delic entbunden wird.
Weitere Themen – Rechtspolitik
Steuerrechtsreform: Eine prominent besetzte "Kommission Steuergesetzbuch" der Stiftung Marktwirtschaft hat ein umfassendes Reformkonzept zum Steuerrecht vorgelegt. Es sieht die drastische Vereinfachung der Einkommenssteuer, einen grundlegenden Umbau der Finanzierung der Kommunen sowie ein neues Unternehmenssteuerrecht vor, schreibt die SZ (Claus Hulverscheidt). Auch die FAZ (Joachim Jahn) berichtet.
Sexueller Kindesmissbrauch: Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig (SPD), hat am gestrigen Donnerstag einen Bilanzbericht vorgelegt. Wie die SZ (Ronen Steinke) schreibt, übte er dabei an der zum 30. Juni erfolgten Änderung des Verjährungsbeginns bei Missbrauchstaten Kritik. Der nunmehr geltende Beginn mit Ablauf des 21. Lebensjahrs des Opfers sei "noch immer unzureichend", stattdessen sollte die Verjährung bis zum 30. Lebensjahr angehalten werden.
NSU-Untersuchungsausschuss: Die taz (Wolf Wiedmann-Schmidt) befragt Petra Pau (Linke) und Eva Högl (SPD) zu Erkenntnissen aus dem NSU-Untersuchungsausschuss. Pau konkretisiert ihre Forderung nach Abschaffung des Verfassungsschutzes als dem "Hauptversager" und fordert dessen Ersetzung durch eine Koordinierungsstelle zur Beobachtung "neonazistischer, rassistischer und menschenfeindlicher Bestrebungen." Die Stelle sollte unter Verzicht auf geheimdienstliche Mittel und mit einem sofortigem Verzicht auf V-Leute arbeiten. Högl dagegen hält das Amt für alternativlos, will es aber "grundlegend" reformieren, durch eine "ganz andere Struktur, anderes Personal und eine stärkere Kontrolle durch das Parlament."
Privatisierungsbremse: Die Bremische Bürgerschaft hat eine in der Verfassung verankerte "Privatisierungsbremse" beschlossen, nach der künftig ein Verkauf öffentlicher Unternehmen, die dem Gemeinwohl dienen, nur noch nach zustimmendem Volksentscheid zulässig ist. Der Bericht der FAZ (Robert von Lucius) zitiert einen Vertreter der örtlichen Handelskammer, nach der die bundesweit einmalige Regelung als rechtswidrige Beeinträchtigung des parlamentarischen Haushaltsrechts verfassungswidrig sei. Eine Klage vor dem Bremischen Staatsgerichtshof sei gleichwohl nicht geplant.
Kommunale Stromversorger: In Berlin und Hamburg stimmen Wahlberechtigte anlässlich der Bundestagswahl auch über Volksinitiativen zur Schaffung kommunaler Stromversorger ab. Der Rechtswissenschaftler Jan Henrik Klement (FAZ) kritisiert in einem längeren Gastbeitrag diesen Trend zur "Kommunalisierung" aus energiepolitischen und juristischen Gründen.
Datenüberwachung: In einem Kommentar erinnert Reinhard Müller (FAZ) an die Pflicht der Regierung, die Grundrechte der Deutschen, einschließlich des Rechts auf "Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme", zu schützen. Die US-amerikanische Bereitschaft zu einem "No Spy"-Abkommen belege, dass hiesige Bedenken ernst genommen würden. Die rechtsstaatliche Bindung und Kontrolle von Geheimdiensten "sollte sich von selbst verstehen."
Lobbyismus und Gesetzgebung: Die Reihe zu den Wahlprogrammen der Parteien setzt lto.de (Claudia Kornmeier) mit Positionen zu den vielfältigen Arten der Einflussnahme auf Gesetzgebungsverfahren fort. Während die Oppositionsparteien mehr Transparenz durch die Einrichtung eines verbindlichen Lobbyregisters beim Bundestag erreichen wollten, sieht ein für den Beitrag zu Rate gezogener Experte dies vor allem wegen der Pflicht zur Offenlegung der Finanzmittel der betroffenen Gruppen und Verbände kritisch. Die gleichfalls geforderte "legislative Fußspur", aus der hervorgehen soll, welchen Beitrag externe Berater, etwa Großkanzleien, an der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes besitzen, begegne demgegenüber keinen grundsätzlichen Bedenken.
Weitere Themen - Justiz
BGH zu Terrorhelfer: Nach Meldung von lto.de hat der Bundesgerichtshof die gegen eine Verurteilung wegen Werbung für eine für eine ausländische terroristische Vereinigung und anderer Delikte eingelegte Revision als unbegründet verworfen. Gegenstand des vorinstanzlich vom Oberlandesgericht Koblenz verhandelten Falls war insbesondere die Verlinkung eines Enthauptungs-Videos.
BAG - Kündigungsgrund HIV-Infektion: Liz Collet berichtet im Jus@Publicum-Blog über Verfahrensverlauf und Hintergründe einer zweijährigen arbeitsrechtlichen Auseinandersetzung um die Wirksamkeit einer Probezeit-Kündigung, die am Ende des Jahres vor dem Bundesarbeitsgericht verhandelt wird. Dem Kläger, einem chemisch-technischen Assistenten in der Arzneimittelherstellung, war wegen seiner HIV-Infektion gekündigt worden. Mit seiner bislang erfolglosen Klage macht er geltend, dass die Infektion als Behinderung einzustufen sei.
BVerwG zu Dienstunfall: Führt eine vom Dienstherrn organisierte Schutzimpfung im Anschluss zu gesundheitlichen Problemen, kann dies als Dienstunfall zu werten sein. Die Impfung sei eine dienstliche Veranstaltung, entschied das Bundesverwaltungsgericht nach Meldung von lto.de.
LG Potsdam zu Hells Angels: Nach Meldung der FAZ (Mechthild Küpper) hat das Landgericht Potsdam zwei Mitglieder der Hells Angels wegen versuchten Mordes zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Verurteilten hätten im Dezember 2011 einen Mann niedergestochen, der zuvor den Präsidenten einer lokalen und mittlerweile verbotenen Hells Angels-Gruppe beleidigt habe.
LG Bremen zu Totschlag: Das Landgericht Bremen hat einen Mann wegen der Tötung seiner 82-jährigen Mutter zu sieben Jahren Haft verurteilt. Wie die taz-Nord (Simone Schnase) schreibt, hatte der Verurteilte behauptet, die durch Ersticken mit einem Kissen ausgeführte Tat aus "Altruismus" gegenüber dem bettlägerigen Opfer begangen zu haben. Das Gericht habe diese Erklärung als Rationalisierung der Tötung gewertet.
StA Bonn – Jürgen Schneider: Der in den 1990er Jahren wegen Betruges in Milliardenhöhe zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilte Jürgen Schneider ist erneut in das Visier der Ermittlungsbehörden gelangt. Wie das Handelsblatt (cs) schreibt, hat die Staatsanwaltschaft Bonn den mittlerweile 79-jährigen wegen gewerbsmäßigen Betruges in sechs Fällen angeklagt. Schneider soll in den Jahren 2008 und 2009 Unternehmer über seine Absicht und Fähigkeit zu Investitionen getäuscht und als Vertrauensbeweis von den Geschädigten vorab finanzielle Sicherheiten gefordert haben.
Arbeitsrechtliche Wettbewerbsverbote: Nach Rücknahme der beim Bundesarbeitsgericht eingelegten Revision ist ein arbeitnehmerfreundliches Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm zu arbeitsrechtlichen Wettbewerbsverboten vom Februar nun rechtskräftig. Wie Rechtsprofessor Michael Fuhlrott für lto.de ausführt, hatte die Vorinstanz in Abweichung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu rechtlich fehlerhaften und damit unverbindlichen Wettbewerbsverboten entschieden, dass Betroffene ihrem ehemaligen Arbeitgeber nicht mitteilen müssten, ob sie sich an das Verbot halten wollten. Es würde genügen, wenn sie dies tatsächlich täten.
Weitere Themen – Recht in der Welt
Italien – Berlusconi: Das Oberste Gericht Italiens hat nun die Begründung des Steuerbetrugsurteils gegen den früheren Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi veröffentlicht. Wie die FAZ (Jörg Bremer) schreibt, war der Verurteilte nach Feststellung des Gerichts "Ideengeber für rechtswidrige Steuermechanismen" in seinem Medienunternehmen. Berlusconi selbst plane derweil eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, um sich gegen die "Verfolgung" durch die italienische Justiz zu wehren.
USA – Vergewaltigungsurteil: Die FAZ (Christiane Heil) schreibt über Proteste gegen ein Urteil in einem Vergewaltigungsfall in Montana/USA. Ein 54-jähriger Lehrer war wegen sexuellen Missbrauchs einer 14-jährigen Schülerin zu 30 Tagen Freiheitsstrafe verurteilt worden. In seiner Urteilsbegründung habe der entscheidende Richter u.a. ausgeführt, dass Tatopfer, dass sich während des Prozesses das Leben nahm, sei über sein Alter hinaus reif gewesen.
Sonstiges
Schmerzensgeld: Mit geschlechtsspezifischen Unterschieden bei der Bemessung von Schmerzensgeld beschäftigt sich die SZ (Wolfgang Janisch). Unter Berufung auf einen aktuellen Beitrag in der Zeitschrift für Schadensrecht werden Beträge verglichen, die nach den gängigen Schmerzensgeldtabellen etwa bei Verlust der Zeugungsfähigkeit zuerkannt werden und die bei männlichen Verletzten höher liegen. Dafür würde die Narbe eines Frauengesichts höher entschädigt als eine in einem männlichen Gesicht.
Private Erreichbarkeit: Die SZ (Thomas Öchsner) berichtet über eine Vereinbarung zwischen dem Bundesarbeitsministerium und dem Personalrat des Hauses, nach der Mitarbeiter nur noch "in begründeten Ausnahmefällen" außerhalb der Arbeitszeit mittels E-Mails oder Anrufen dienstlich kontaktiert werden sollen. Die Vereinbarung diene nach Worten der zitierten Ministerin Ursula von der Leyen (CDU) dem "Schutz der seelischen Gesundheit" der Mitarbeiter; vergleichbare Regeln würden bereits bei Konzernen wie VW oder der Telekom gelten.
Terrorlisten-Screening: Auf die oftmals verkannte Notwendigkeit eines Terrorlisten-Screenings von Mitarbeitern auch privater Unternehmen macht Rechtsanwalt Christian Gleich im Handelsblatt-Rechtsboard aufmerksam. Das in zwei europäischen Anti-Terror-Verordnungen normierte Bereitstellungsverbot untersagt es, finanzielle Mittel jeglicher Art Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die dem internationalen Terrorismus zuzurechnen sind, zur Verfügung zu stellen. Das Verbot umfasse auch gewöhnliche Gehaltszahlungen an Mitarbeiter. Unternehmen seien daher zur Vermeidung von Geldbußen gehalten, das datenschutzrechtlich zulässige Terrorlisten-Screening regelmäßig durchzuführen.
Asyl-Tragödie: Die FAZ (Ulla Fölsing) erinnert an den Tod des Asylbewerbers Cemal Altun vor 30 Jahren und stellt dessen Fall vor. Trotz Anerkennung als politisch Verfolgter habe dem Studenten die Auslieferung in die Türkei gedroht. Anlässlich einer Anhörung vor dem Verwaltungsgericht Berlin nahm er sich durch einen Sprung aus dem Fenster das Leben. Die taz-Berlin (Milla Menzemer) interviewt Wolfgang Wieland (Grüne), der Altun als Anwalt vertrat und für den der Tod seines Mandanten ein "Trauma" war.
Das Letzte zum Schluss
Unsere schöne Stadt: Die britische Kleinstadt Sidmouth wird demnächst durch Hunderttausende neu eingepflanzte Blumenzwiebeln verschönert, schreibt die Welt, hier eine längere Version von welt.de (Nina Trentmann). Mit der Aktion wird eine Erbauflage erfüllt: Ein 2007 verstorbener Investmentbanker hatte der Stadt knappe drei Millionen Euro vermacht, damit "die Stadt schön bleibt."
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 30. August 2013: Befangenheit in Den Haag – Privatisierungsbremse in Bremen – Geschlechtsspezifisches Schmerzensgeld . In: Legal Tribune Online, 30.08.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9463/ (abgerufen am: 05.05.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag