Der EuGH versteht bei Zugverspätungen keinen Spaß: Ob verschuldet oder nicht, ob Unwetter oder Streik – wer zu spät kommt, zahlt. Außerdem in der Presseschau: Anwaltszulassung am BGH, Arzthaftung bei Brustkrebsvorsorge, Taylor verurteilt und Verfahren gegen "Waldjungen" eingestellt.
Thema des Tages
EuGH zu Zugverspätungen: Europäische Bahnunternehmen müssen auch dann Entschädigung für Verspätungen leisten, wenn diese auf "höhere Gewalt", also beispielsweise Unwetter oder Streik, zurückzuführen sind. Das hat der Europäische Gerichtshof auf eine Klage aus Österreich hin unter Berufung auf eine EU-Verordnung entschieden. Ein Verschulden werde von dieser nicht vorausgesetzt; es gehe um einen gerechten Ausgleich. Es berichten die SZ (Daniela Kuhr) sowie FAZ (Corinna Budras/Kerstin Schwenn), taz (Christian Rath) und das Handelsblatt (Dieter Fockenbrock).
In einem gesonderten Kommentar begrüßt Kuhr (SZ) das "Geschenk" für die Bahnfahrer, mahnt aber, dass die EU nun Flug- und Busunternehmen den gleichen Verpflichtungen unterwerfen müsse. Reinhard Müller (FAZ) hält die Entscheidung für "konsequent", Flugreisen habe die EU "eben unterschiedlich geregelt". Kerstin Schwenn (FAZ) fürchtet dagegen teurere Bahnpreise und dass die Regelung die Hemmschwelle für Streiks der Bahngewerkschaften senke. Christian Rath (taz) begrüßt, dass Bahnkunden nun einen Rechtsanspruch hätten und nicht mehr auf die Kulanz der Bahn angewiesen seien. Dieter Fockenbrock (Handelsblatt) wurde von dem Urteil dagegen "ins Staunen" versetzt. Für ihn ist die unterschiedliche Behandlung von Bahn und Flugzeug "blanker Unsinn". Auch Nikolaus Doll (Welt) bezeichnet die Weite der Bahn-Haftung als "unangemessen" und erwartet Fahrpreiserhöhungen.
Rechtspolitik
Grundlose Briefwahl: Bei dieser Bundestagswahl mussten für die Briefwahl erstmals keine Gründe glaubhaft gemacht werden. Auf lto.de begründet der Staatswissenschaftler Alexander Thiele, warum "grundlos per Brief zu wählen" zwar "bequem, aber verfassungsrechtlich unhaltbar" sei. Besonders hebt er die Bedeutung der Gleichzeitigkeit der Wahl hervor – was unlängst vom Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung der Bestimmungen für die Europawahl nicht berücksichtigt worden sei.
Verfassungsschutz-Debatte: Martin Kaul (taz) setzt sich mit der in seinen Augen problematischen Praxis des niedersächsischen Verfassungsschutzes auseinander, Daten überwachter Personen sofort zu löschen, wenn diese nicht rechtmäßig erhoben wurden. Dies entziehe den Überwachten jede Möglichkeit auf Rechtsschutz. Sinnvoller sei eine Sperrung der Daten und eine Information der Betroffenen.
Justiz
Anwaltszulassung am BGH: Die SZ (Wolfgang Janisch) beschäftigt sich mit der beschränkten Anwaltszulassung am Bundesgerichtshof. Anlässlich der Klage des jüngst abgelehnten Rechtsanwalts Thomas Kofler wird das restriktive und inzwischen einmalige Zulassungssystem für Deutschlands oberstes Zivilgericht erläutert – und das Auswahlverfahren kritisiert. Hier wirkten die bislang schon zugelassenen Anwälte mit und müssten die Bundesrichter im Beschwerdefall über ihren eigenen Präsidenten urteilen.
BAG zu Signaturkartenpflicht: Wie lawblog.de (Udo Vetter) berichtet, hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass ein Arbeitgeber seine Arbeitnehmer dazu verpflichten kann, dass diese eine elektronische Signaturkarte nach dem Signaturgesetz beantragen und diese verwenden. Da hierfür persönliche Daten des Personalausweises an die Signaturstelle übermittelt werden müssen, habe die klagende Mitarbeiterin ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt gesehen. Das Gericht habe die Übermittlung nun insbesondere deswegen für zumutbar gehalten, weil keine besonders sensiblen Daten übertragen würden und diese vom Signaturgesetz geschützt seien.
BAG zu Werkverträgen: Das Bundesarbeitsgericht hat der Gestaltung von Arbeitsverhältnissen durch Werkverträge weitere Grenzen gesetzt. Diese dürften nicht zur Verrichtung einer bestimmten Tätigkeit gebraucht werden – im entschiedenen Fall für das Erfassen von Bodendenkmälern mithilfe eines Computersystems für den Freistaat Bayern, wie spiegel.de berichtet.
BAG zu Mitarbeiter-Weitergabe: Wenn die Bundesagentur für Arbeit Mitarbeiter an Kommunen abgibt, wechselt von Gesetzes wegen der Arbeitsgeber der Betroffenen. Darin sieht das Bundesarbeitsgericht laut lto.de eine Verletzung der verfassungsrechtlich geschützten Berufsfreiheit und legte das Gesetz deswegen dem Bundesverfassungsgericht vor.
VG Berlin zu schlechten Schulnoten: Vor dem Verwaltungsgericht Berlin wurde am Donnerstag über einen aufsehenerregenden Fall verhandelt. Drei Schülerinnen hatten ihr ehemaliges Gymnasium wegen ihrer schlechten Noten mit der Begründung verklagt, der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund in ihrer Klasse habe deutlich über dem Stufenschnitt gelegen. Die Schule begründete die Verteilung mit der Fremdsprachenwahl der Schüler, berichtet die taz Berlin (Alke Wierth).
BVerfG zu Funkzellenabfrage Dresden: Neben verschiedenen Bundestagsabgeordneten hat laut internet-law.de (Thomas Stadler) nun auch eine Dresdner Rechtsanwältin Verfassungsbeschwerde gegen die im Februar 2011 in Dresden erfolgte Funkzellenabfrage erhoben, nachdem sie vor den ordentlichen Gerichten erfolglos deren Rechtswidrigkeit festgestellt wissen wollte. Sie mache eine Verletzung des Fernmeldegeheimnisses, des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und der Berufsfreiheit geltend. Stadler begrüßt ihr Vorgehen, hält allerdings Verfassungsbeschwerden von Versammlungsteilnehmern für erfolgversprechender, weil diese sich auch auf Ihre Versammlungsfreiheit berufen könnten.
OLG Hamm zu Brustkrebs-Arzthaftung: Das Oberlandesgericht Hamm hat entschieden, dass ein Arzt schadensersatzpflichtig ist, wenn er einer Frau nicht rechtzeitig zu einer Brustkrebsvorsorge per Mammografie rät. Diese stelle die einzig zuverlässige Vorsorgeuntersuchung dar. Über das Urteil berichtet spiegel.de.
OLG Hamm zu Beschneidung: Heribert Prantl (SZ) kommentiert die Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm zur Beschneidung eines sechsjährigen Jungen. Er betont, dass die neue gesetzliche Regelung angesichts der "eruptiven Debatte" vor einem Jahr "das Beste erreicht" habe, was man von einem Gesetz erwarten könne: Sie habe "zur Rechtsklarheit und zur Befriedung beigetragen".
OLG München – NSU-Prozess: Die SZ (Annette Rammelsberger/Tanjev Schultz) berichtet von den neuesten Entwicklungen im NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht. Dabei geht es vor allem um die Aussagen von Zeugen, welche die Hauptangeklagte Beate Zschäpe in der Nähe von Tatorten gesehen haben wollen. Die Aussage einer erst kürzlich aufgetauchten Zeugin aus Dortmund, die jetzt von der Bundesanwaltschaft vernommen worden sei, führe trotz anfänglicher Plausibilität ihrer Aussage wohl in eine Sackgasse – sie habe anscheinend nur eine Frau gesehen, die Beate Zschäpe sehr ähnlich sehe. Trotzdem solle die Zeugin am Montag vom Gericht vernommen werden. Auch der SWR-Terrorismus-Blog (Holger Schmidt) berichtet.
StA Stuttgart – Anklage gegen SS-Mann: Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat laut spiegel.de Anklage gegen einen bereits seit März in Untersuchungshaft befindlichen 93-Jährigen wegen Beihilfe zum Mord erhoben. Ihm wird vorgeworfen, als Angehöriger der SS im Konzentrationslager Auschwitz dabei geholfen zu haben, tausende Menschen zu töten. Nun müsse das Landgericht Ellwangen über die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheiden.
StA Erfurt – Machnig-Ermittlungen: Die FAZ (Claus Peter Müller) berichtet von den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Erfurt gegen Thüringens Wirtschaftsminister Matthias Machnig (SPD) wegen Betrrugs. Dieser berufe sich auf ein Rechtsgutachten, nach dem er keine Verpflichtung gehabt habe, dem Freistaat Thüringen gegenüber seine Ruhestandsgehälter offenzulegen.
Besonderes elektronisches Anwaltspostfach: Die Bundesrechtsanwaltskammer BRAK bereitet derzeit die Einrichtung des vom Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vorgeschriebenen "besonderen elektronischen Anwaltspostfachs" vor. internet-law.de (Thomas Stadler) berichtet von einem Vortrag des BRAK-Vizepräsidenten Abend auf dem EDV-Gerichtstag in Saarbrücken zu diesem Thema.
Mediation: In ihrem "Management & Karriere"-Teil erläutert die Welt (Harald Czycholl) die Bedeutung des im vergangenen Jahr in Kraft getretenen Mediationsgesetzes und betont die Bedeutung von Mediationsverfahren als Möglichkeit effizienter Streitbeilegung gerade für Unternehmen.
Recht in der Welt
Sierra Leone/Liberia – Tribunal bestätigt Strafe für Taylor: Das UN-Sondertribunal für Sierra Leone hat die Verurteilung des ehemaligen liberianischen Staatschefs Charles Taylor zu 50 Jahren Freiheitsstrafe wegen Kriegsverbrechen im Nachbarland Sierra Leone bestätigt. Damit ist zum ersten Mal seit den Nürnberger Prozessen wieder ein Staatschef von einem internationalen Tribunal verurteilt worden. Taylor hatte in der Berufungsinstanz auf Freispruch plädiert; das erstinstanzliche Urteil galt laut SZ (Stefan Klein) wegen Widersprüchen und der unklaren Faktenlage als umstritten. Auch die Welt (Christian Putsch) berichtet.
Stefan Klein (SZ) kritisiert das Urteil scharf. Die Beweise für Taylors Schuld seien nicht stichhaltig und rechtfertigten den Schuldspruch nicht. Doch die Richter hätten "nicht den Mut dazu aufgebracht", die verbleibenden Zweifel zugunsten des Angeklagten wirken zu lassen – und nährten so den Verdacht, "dass dies in Wahrheit ein politisches Verfahren war". Daniel Haufler (FR) begrüßt das Urteil. Es sei ein Zeichen an "Diktatoren und Warlords", die nun fürchten müssten, für ihre Verbrechen "zur Verantwortung gezogen" zu werden.
USA – Klagen gegen JPMorgan: SZ (Nikolaus Piper) und FAZ (Norbert Kuls) berichten von dem bevorstehenden Milliarden-Vergleich der US-Bank JPMorgan mit US-Behörden zur Beilegung von Klagen im Zusammenhang mit der Finanzkrise. Es gehe um insgesamt elf Milliarden US-Dollar, sieben Milliarden als Strafe, vier Milliarden als Schadensersatz, berichtet auch das Handelsblatt (Frank Wiebe).
Gaza – Alternativer Nobelpreis an Rechtsanwalt: Der alternative Nobelpreis geht in diesem Jahr unter anderen an den palästinensischen Rechtsanwalt Radschi Surani. Er werde "für sein beharrliches Engagement für Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit unter extrem schwierigen Bedingungen" ausgezeichnet, zitiert die taz (Susanne Kaul) aus der Begründung für die Verleihung.
Sonstiges
Verwaltungskooperation: Auf juwiss.de stellt die österreichische Rechtswissenschaftlerin Kerstin Tobisch das europäische Telekommunikationsrecht als ein "Paradebeispiel" und Pionier für Verwaltungskooperation vor.
Das Letzte zum Schluss
AG Berlin-Tiergarten zu "Waldjunge Ray": Als "Waldjunge Ray" war er 2009 durch die Presse gegeistert, gestern fand er sich vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten wieder: Der niederländische Robin van H., der sich in Berlin als "Waldjunge" ausgegeben hatte, der nicht wisse wer er sei und woher er komme. Vorgeworfen wurde ihm Betrug, weil er sich durch seine Lügengeschichte Leistungen des Jugendamts erschlichen habe. Das Verfahren ist laut SZ (Judith Liere) und taz Berlin (Plutonia Plarre) vom Gericht aber gegen die Auflage, 150 Stunden gemeinnütziger Arbeit zu verrichten und sich psychologisch beraten zu lassen, eingestellt worden. Auch die Welt (Hans H. Nibbrig) berichtet.
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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/thd
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 27. September 2013: EuGH lässt Bahn zahlen – Taylor als Kriegsverbrecher verurteilt – Waldjunge vor Gericht . In: Legal Tribune Online, 27.09.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9691/ (abgerufen am: 02.05.2024 )
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