In Leipzig sprechen Verwaltungsrichter miteinander über das Prozessrecht. Außerdem in der Presseschau: prominente Kritik am NetzDG, Gewalttat von Hameln wird in Hannover verhandelt, U-Ausschuss Amri auch in Berlin und Hamburger Torjubel.
Thema des Tages
Leipziger Dialog: 350 Verwaltungsrichter aller Instanzen fanden sich am Sitz des Bundesverwaltungsgerichts zum "Leipziger Dialog" zusammen. Die hierbei behandelten Themen werden in einem von lto.de (Tanja Podolski) geführten ausführlichen Interview mit dem Richter am Bundesverwaltungsgericht Robert Seegmüller vorgestellt. Das Forum solle den Austausch zwischen den Instanzen fördern, so der Vorsitzende des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen. Dies sei nötig, weil zahlreiche Fallgestaltungen ihren Weg nicht mehr im regulären Instanzenzug zum Bundesverwaltungsgericht fänden. Weitere Themen betrafen grundsätzliche prozessrechtliche Probleme wie das gelockerte Erfordernis des subjektiven Rechtsschutzes, den Regelungsgehalt von Entscheidungen über Untätigkeitsklagen. Daneben äußert sich Seegmüller zur Qualität von Bescheiden des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, die Belastung der Verwaltungsgerichte durch Asylverfahren und zur Möglichkeit asylrechtlicher Leitentscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts.
Rechtspolitik
NetzDG: In einem Gastkommentar für das Hbl bezeichnet die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) das geplante Netzwerkdurchsetzungsgesetz als "schlechtes Gesetz". Ähnlich wie bei den weiland geplanten Netzsperren solle kurz vor einem Wahlkampf "Tatendrang demonstriert werden in einem Bereich, der rechtlich komplizierter kaum sein könnte". Die ohnehin schwierige Frage, wie weit Meinungsfreiheit reiche, werde nach dem Entwurf Richtern entzogen und "Callcenter-Agenten" überantwortet. Im Verbund mit fehlender zivilgesellschaftlicher Beteiligung befördere der Entwurf so Politikverdrossenheit. Jan Figel, ehemaliger EU-Kommissar für Jugend, Bildung und Kultur, nennt in einem Gastbeitrag für die FAZ das Vorhaben einen "gefährlichen Rückschritt" und "beispiellosen Eingriff in die Meinungsfreiheit". Geltendes Recht könne "selbstverständlich auch auf Online-Plattformen angewandt werden".
Online-Durchsuchung: Die in der vergangenen Woche bekannt gewordenen Pläne zur Ausweitung sogenannter Online-Durchsuchungen sind nun auch Thema eines vertieften Beitrags von Richter Ulf Buermeyer auf lto.de. Selbst angesichts der 2008 vom Bundesverfassungsgericht vorgenommenen Differenzierung zwischen Online-Durchsuchungen und Quellen-TKÜ seien die Vorschläge verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Es stehe zu vermuten, dass die Regierungskoalition nunmehr "Trojaner zum gängigen Mittel der Strafverfolgung" machen wolle.
BDSG: In einem Gastbeitrag für netzpolitik.org behauptet Thilo Weichert, dass die im neuen Bundesdatenschutzgesetz jüngst beschlossene, ab dem 25. August geltende Einschränkung der Kontrollbefugnis von Datenschutzaufsichtsbehörden bei Berufsgeheimnisträgern europarechts- und verfassungswidrig sei. Die Kontrolleinschränkung sei "ein Resultat der Tätigkeit der Anwaltslobby" und öffne Datenschutzverstößen in diesem Bereich künftig Tür und Tor, so der ehemalige Datenschutzbeauftragte von Schleswig-Holstein.
Justiz
BVerfG – "Rote Karte": Vor der am morgigen Mittwoch anstehenden Hauptsacheverhandlung zu einer AfD-kritischen Presseerklärung von Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) erläutert nun auch der Tsp (Jost Müller-Neuhof) die rechtlichen Grundlagen der Justiziabilität staatlicher Kommunikation. Der Beitrag setzt sich zudem kritisch mit der "Grauzone" offiziöser Kommunikation mit Journalisten auseinander.
LG Hannover – Hameln: Vor dem Landgericht Hannover wurde der Prozess wegen der Gewalttat von Hameln vom vergangenen Herbst eröffnet. Dem Angeklagten wird versuchter Mord zulasten seiner Ex-Frau vorgeworfen, zu Beginn der Verhandlung räumte er ein, nach einem Streit über Unterhaltsverpflichtungen "ausgerastet" zu sein und die Geschädigte dann mit seinem Auto durch die Hamelner Innenstadt geschleift zu haben. Über die Verhandlung berichten SZ (Peter Burghardt) und Welt (Christine Kensche). Nach dem Zeugnis der Geschädigten sei die Tat nur der traurige Höhepunkt dauernder Misshandlungen und Erniedrigungen gewesen.
LG Ulm – Erwin Müller: Die Schweizer Privatbank J. Safra Sarasin muss dem Drogerieketten-Inhaber Erwin Müller nach einem Urteil des Landgerichts Ulm knapp 45 Millionen Euro Schadensersatz zahlen. Der Betrag ersetzt die Einlage Müllers in einen Fonds der Bank, der über sogenannte Cum-Ex-Deals herausragende Rendite versprach. Nachdem die Finanzverwaltungen Cum-Ex-Auszahlungen stoppten, brach der Fonds zusammen. Die Bank habe den Kläger über die mit dem Geschäft verbundenen Risiken nicht ausreichend aufgeklärt, schreiben SZ (Stefan Mayr) und Hbl (Sönke Iwersen/Volker Votsmeier) über die Entscheidung.
LG Stuttgart – Schlecker: Im Verfahren gegen Anton Schlecker und Familienangehörige äußerte sich ein früherer Geschäftsführer zur Arbeit der formell eigenständigen Logistikfirma der mitangeklagten Kinder des Firmengründers. Darüber hinaus stellte das Gericht eine Einstellung des Verfahrens gegen Christa Schlecker in Aussicht. bild.de (Philipp-Marc Schmid) berichtet.
LG Neubrandenburg – SS-Mann: Aus der Perspektive eines Nebenklägers befasst sich die Welt (Per Hinrichs) in einer Reportage mit dem Verfahren gegen den früheren SS-Mann Hubert Z. vor dem Landgericht Neubrandenburg. In dem bislang unter dem Vorsitz des Richters Kabisch geführten Verfahren ist auch die Nebenklageberechtigung des Auschwitzüberlebenden widerrufen worden.
AG Zwickau zu Andre E.: Der im NSU-Verfahren am Oberlandesgericht München mitangeklagte Andre E. ist vom Amtsgericht Zwickau wegen Körperverletzung und Bedrohung zu einer Geldstrafe von 52 Tagessätzen verurteilt worden. Wie in München schwieg der Angeklagte auch zu den nun zur Verhandlung stehenden Vorwürfen, schreibt die SZ (Wiebke Ramm).
ArbG Lüneburg zu Klinikdirektor: Die fristlose Kündigung des Direktors einer Dannenberger Klinik ist nach einem Urteil des Arbeitsgerichts Lüneburg vom vergangenen Freitag wegen fehlender vorheriger Abmahnung unwirksam. Der erfolgreiche Kläger hatte einen Anti-Abtreibungs-Aktivisten als Chefarzt der Gynäkologie eingestellt, schreibt die taz-Nord (Jana Anzlinger). Dieser hatte mit Unterstützung seines Chefs den ihm unterstellten Ärzten Abtreibungen untersagt, solange das Leben betroffener Frauen nicht in Gefahr sei.
BAW – Franco A.: Die Welt (Florian Flade) gibt einen Überblick zu den bisherigen Erkenntnissen der von der Bundesanwaltschaft geführten Ermittlungen gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. und dessen mutmaßliche Komplizen. § 89a Strafgesetzbuch, der die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat mit Strafe bedroht, sei "in der Praxis ein eher schwaches Schwert der Justiz" und diene in der Regel als "Türöffner" für weitere Maßnahmen wie Hausdurchsuchungen.
StA Frankfurt – Deutsche Börse: Das wegen des Verdachts des Insiderhandels von der Staatsanwaltschaft Frankfurt/M. geführte Ermittlungsverfahren gegen den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Börse, Carsten Kengeter, steht offenbar vor der Einstellung. FAZ (Daniel Mohr) und SZ (Jan Willmroth) berichten, dass die Börse bereit sei, eine Geldbuße wegen verspäteter Mitteilung ihrer Fusionspläne mit dem Betreiber der Londoner Börse zu akzeptieren.
Anwaltliche Fortbildungspflicht: Die Bundesrechtsanwaltskammer hat den Gesetzgeber in einer Resolution dazu aufgefordert, wie schon ursprünglich geplant, nun doch eine konkretisierte, allgemeine Fortbildungspflicht für Anwälte einzuführen. Der Bericht von lto.de zeichnet das bisherige Scheitern des Vorhabens nach.
Schellenberg und Legal Tech: Der am morgigen Mittwoch beginnende Deutsche Anwaltstag steht unter dem Motto Legal Tech. Das Hbl (Heike Anger) befragt aus diesem Anlass den Präsidenten des Deutschen Anwaltvereins, Ulrich Schellenberg, zur Bereitschaft der Anwaltschaft, sich auf neue Technologien bei der Arbeit einzulassen, und zu Risiken hiermit verbundener Geschäftsmodelle. Auch die FAZ (Marcus Jung) berichtet über Schellenbergs Positionen. Legal Tech ermögliche es Anwälten, sich wieder auf den Kern ihrer Tätigkeit, die Rechtsanwendung, zu konzentrieren.
Recht in der Welt
Afghanistan – Verfassung: Die afghanische Verfassung von 2004 wird in ihrem Versuch, islamische Scharia-Prinzipien und internationale Menschenrechte zu vereinen, von Rechtsreferendar Adeel Hussain auf verfassungsblog.de in einem englischsprachiger Beitrag beschrieben.
Sonstiges
U-Ausschuss Amri: Das Berliner Abgeordnetenhaus hat sich auf die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zum Fall Anis Amri verständigt. Hierdurch solle der "Nebel, in dem die Berliner Politik angesichts der neuesten Entwicklungen" um mutmaßlich manipulierte Ermittlungsakten sich bewege, gelüftet werden, schreibt die Welt (Sabine Menkens). Reinhard Müller (FAZ) hofft in einem Kommentar, dass bei diesem Ausschuss mehr herauskomme, "als politische Schuldzuweisungen". Vielmehr sollten Lehren für die Zukunft erarbeitet werden. Solange bekannte Straftäter offen ihr Unwesen trieben, sollte man "nicht über eine Ausweitung der Sicherheitsgesetze reden".
Heiko Maas: Henryk M. Broder (Welt) fragt in einem Feuilleton-Kommentar, ob es "nicht ein wenig anmaßend" sei, dass Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) sein neues Buch "Aufstehen statt wegducken. Eine Strategie gegen Rechts" ausgerechnet am heutigen Dienstag, dem Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes, vorstellt. Mitnichten gehöre es zu den Aufgaben eines Justizministers, "darüber zu entscheiden, wer oder was die öffentliche Debatte 'vergiftet'", wie es den Verlagsankündigungen bezüglich der Haltung des Ministers gegenüber Rechtspopulisten verkündet werde.
Rupert Scholz: Die FAZ (Reinhard Müller) würdigt den früheren Bundesverteidigungsminister Rupert Scholz (CDU) anlässlich seines 80. Geburtstags. Der Staatsrechtslehrer war nach seinem Ministeramt als stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag unter anderem für die Auswahl der Verfassungs- und Bundesrichter zuständig, mittlerweile schreibe er als Mitarbeiter einer Großkanzlei "flotte Gutachten".
Flüchtlingshelfer: Die für Flüchtlinge erklärte Bürgschaft kann erfolgreich angefochten werden, wenn die Bürgen irrtümlich davon ausgingen, dass die Bürgschaft nur für einige Monate gelten würde. Das erklärte das Bundessozialministerium auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke (Linke). Nach dem Bericht der SZ (Bernd Kastner) sehen sich mittlerweile Bürgen oft fünfstelligen Rückforderungen von Jobcentern ausgesetzt.
Das Letzte zum Schluss
Besitzverhältnisse an Fußball-Reliquie: Anhänger des Hamburger SV freuen sich derzeit, weil ihr Herzensverein mal wieder den Klassenerhalt geschafft hat. Den Jubel im Stadion wohl leicht übertrieben haben zwei Fans, die nach einer Pressemitteilung der Polizei am Hauptbahnhof der Stadt mit der Querlatte eines Tors angetroffen wurden. Nach der Meldung von spiegel.de gaben sie gegenüber den Beamten an, die Latte in ihrem Vereinsheim aufstellen zu wollen. Die Bundespolizei erklärte, die Querlatte sei sichergestellt worden, um "die Besitzverhältnisse zu klären".
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 23. Mai 2017: Leipziger Dialog / Gewalttat von Hameln / Amri-Ausschuss in Berlin . In: Legal Tribune Online, 23.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22946/ (abgerufen am: 29.04.2024 )
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