Organspende wird Fall für Bundesgerichte. Außerdem in der Presseschau: An- und Abfahrt zählen zur Arbeitszeit, überraschend großzügige Anwälte und orthodoxer Vandalismus in Russland.
Thema des Tages
Organspende vor Bundesgerichten: Der Bundesgerichtshof (BGH) wird wohl darüber befinden müssen, ob die Richtlinien zur Organspende gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen. Im Zuge des Freispruchs im Transplantationsskandal stellte das Landgericht Göttingen fest, dass es dem Gleichheitssatz widerspricht, Alkoholikern erst nach sechs Monaten Abstinenz ein Anrecht auf eine Spenderleber zu gewähren. Diese grundlegende Frage wird der BGH beantworten müssen, wenn die Staatsanwaltschaft nach der für kommende Woche angekündigten schriftlichen Urteilsbegründung wie erwartet in Revision geht.
Zugleich wurde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) von den zwei Juraprofessoren Wolfram Höfling von der Universität Köln und Heinrich Lang von der Universität Greifswald eine Verfassungsbeschwerde eingereicht, die mit dem Transplantationssystem abrechnet. Hintergrund der Verfassungsbeschwerde sind Vorgänge am Klinikum Großhadern, die nach Ansicht von Kritikern offenbaren, wie in der Transplantationsmedizin Grundrechte verletzt werden. Ein Arzt meldete eine seit zehn Jahren auf eine Spenderniere wartende Frau als "nicht transplantabel", weil er sich über eine E-Mail von ihrem Ehemann geärgert hatte. Dagegen klagte die Frau vor dem Verwaltungsgericht München, das die Klage abwies. Der Bayrische Verwaltungsgerichtshof ließ die Berufung nicht zu. Gegen diese Entscheidungen richtet sich nun die Verfassungsbeschwerde, weiß SZ (Christina Berndt).
Rechtspolitik
Mindestlohnausnahmen für Flüchtlinge: Wie die taz schreibt, hat sich der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages, Hans-Günter Henneke, dafür ausgesprochen, als Beitrag zur Integration bei Flüchtlingen für die Dauer von drei Monaten auf den Mindestlohn zu verzichten. Peter Kulitz, Präsident des baden-württembergischen Industrie- und Handelskammertages, argumentierte, dass die drängende Flüchtlingsintegration nicht durch die starre Anwendung bürokratischer Mindestlohnregelungen verhindert werden dürfe. DGB-Chef Reiner Hoffmann warnte dagegen vor einer Ausnutzung von Menschen in finanzieller Notlage als billige Arbeitskräfte und sagte, dass eine Aussetzung des Mindestlohns für Flüchtlinge mit den Gewerkschaften nicht machbar sei.
Anti-Terrorgesetze: Der "Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der Befristung von Vorschriften nach den Terrorismusbekämpfungsgesetzen" der Bundesregierung sieht vor, dass die Regelungen zur Terrorbekämpfung um fünf Jahre bis 2021 verlängert werden sollen. Wie internet-law.de (Thomas Stadler) konstatiert, zeigt die neuerliche Verlängerung, dass grundrechtseinschränkende Gesetze, selbst wenn sie befristet eingeführt wurden, keinesfalls zurückgenommen werden.
Hartz-IV-Sätze: Die Bundesregierung will die Hartz-IV-Sätze im kommenden Jahr um fünf Euro erhöhen. Dies sei die geringste Erhöhung seit 2012, meldet SZ (Cerstin Gammelin). Von den Sozialverbänden und der Opposition sei der Anstieg als unzureichend kritisiert worden.
Länderfinanzausgleich: Laut taz ist beim Länderfinanzausgleich "Konsensdruck" entstanden, weil die Ministerpräsidenten am 24. September mit Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Finanzierung der Flüchtlingshilfe reden werden. Das hänge mit dem Länderfinanzausgleich zusammen, weil der Bund in beiden Fällen Milliarden dazu schieße. Donata Riedel (Handelsblatt) sieht in dem Problemdruck der zu verteilenden Flüchtlingskosten einen Weckruf für die noch ausstehende Regelung der Länderfinanzen.
Justiz
EuGH zu Arbeitszeit: Der europäische Gerichtshof hat klargestellt, dass Fahrten, die Arbeitnehmer ohne festen oder gewöhnlichen Arbeitsort zwischen ihrem Wohnsitz und dem Standort des ersten und des letzten Kunden des Tages zurücklegen, Arbeitszeit sind und vergütet werden müssen. Arbeitszeit sei im sekundären EU-Recht als Zeitspanne definiert, während derer Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zur Verfügung stehen. Dies sei bei solchen Fahrten der Fall. Die Beschäftigten hätten in deren Verlauf nämlich nicht die Möglichkeit, frei über ihre Zeit zu verfügen und eigenen Interessen nachzugehen, sondern seien an Weisungen des Arbeitgebers gebunden und stünden ihm damit zur Verfügung. Es berichten Handelsblatt (Thomas Ludwig) und lto.de.
EuGH zu Richterbesoldung: Nun berichtet auch der Autor Dr. Stephan Pötters auf lto.de über die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), nach der ein Besoldungsanstieg nach Erfahrungsstufen unionsrechtskonform ist. Damit habe der EuGH seine in der Rechtssache "Specht" begründete Haltung bestätigt, die dem Gesetzgeber einen weiten Ermessensspielraum bei der Rechtfertigung mittelbarer Altersdiskriminierungen einräume.
EuG zu Geschmacksmustern: Das Europäische Gericht (EuG) hat eine Klage von H&M gegen das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt in Alicante abgewiesen. Die Behörde hatte 2006 auf Antrag von Yves Saint Laurent zwei sogenannte Geschmacksmuster eintragen lassen. Die wollte der schwedische Billigkonkurrent für nichtig erklären lassen und argumentierte, zuvor ein ähnliches Modell registriert zu haben. Das EuG dagegen befand, dass zwischen den beiden Geschmacksmustern erhebliche Unterschiede gegeben seien. Maßstab der richterlichen Beurteilung sei die Sichtweise eines "informierten Benutzers" gewesen, der sich durch die Kenntnis verschiedener Geschmacksmuster auszeichne, berichtet die FAZ (Joachim Jahn).
BVerwG zu Kooptationsrecht: Das BVerwG hat das Kooptationsrecht der Mitglieder der Niederrheinischen Industrie- und Handelskammer (IHK) zwar grundsätzlich bestätigt, aber gleichzeitig erklärt, dass die Vertretung aller IHK-Zugehörigen die Bedeutung der örtlichen Branchen und die Interessen aller Kammerbezirke spiegeln müsse. Zu viele Duisburger in der Niederrheinischen IHK-Vollversammlung seien rechtswidrig. Wie die SZ (Thomas Hahn) könnte das Urteil Handels- Handwerkskammern im ganzen Land betreffen und kooptierte Vollversammlungsmitglieder zum Rücktritt zwingen.
LSG Mainz zu Kriegsrenten: Das Landessozialgericht in Mainz hat entschieden, das russische Zusatzrenten für Kriegsteilnehmer den deutschen Sozialhilfeanspruch mindern oder gar ausschließen können. Die Leistungen seien nicht mit der anrechnungsfreien Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz bzw. mit Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz vergleichbar, weil sie nicht dem Ausgleich eines durch erlittenes Einzelfallunrecht entstandenen individuellen Schadens dienten. Über die Entscheidung berichtet lto.de.
LArbG Hessen zu Pilotstreik: Im Streit um das Streikrecht der Lufthansa-Piloten bezeichnet Christian Rath (taz) es als fragwürdig, dass das Landesarbeitsgericht (LArbG) Hessen der Gewerkschaft ein Streikziel unterstellte. Im Hinblick darauf, dass das Bundesarbeitsgericht 2007 entschieden habe, dass nur die Forderungen maßgeblich sind, die von den Gewerkschaftsgremien vor dem Streik offiziell beschlossen wurden, komme die Entscheidung überraschend. Wie SZ (Alexander Hagelüken) schreibt, stufen es Arbeitsrechtler als neu ein, dass sich das LArbG überhaupt mit den wahren Gründen für den Ausstand beschäftigte, denn in den vergangenen Jahren habe die Justiz im Zweifel kaum Streiks verboten.
VG Hamburg zu "Tag der deutschen Patrioten": Das Verwaltungsgericht Hamburg hat einen Eilantrag gegen das Verbot des von militanten Rechtsextremen geplanten Aufmarschs gegen "Überfremdung" und "Islamisierung" in der Hamburger Innenstadt abgelehnt. Begründet wurde der Beschluss damit, dass aus dem Demonstrationszug schwere Gewaltexzessen zu erwarten seien, zu deren Unterbindung der Versammlungsleiter nicht willens und nicht in der Lage sei. Wie taz (Andreas Speit) meldet, haben die Anmelder bereits angekündigt, gegen die Entscheidung vorzugehen.
OLG Oldenburg – Drogenfahrt: Wie blog.beck.de (Carsten Krumm) schreibt, will das Oberlandesgericht (OLG) Oldenburg vom Bundesgerichtshof (BGH) wissen, was der Tatrichter für die fahrlässige Drogenfahrt, § 24a Abs. 2 Straßenverkehrsgesetz (StVG), prüfen muss. Das OLG habe dem BGH die Frage vorgelegt, ob die Feststellung der Drogenkonzetration für den subjektiven Tatbestand ausreiche, oder ob sich das Gericht auch ohne Anhaltspunkte mit der Möglichkeit eines abweichenden Tatverlaufs auseinandersetzen müsse.
Recht in der Welt
England – Anwaltsspenden: Im Interview mit lto.de (Pia Lorenz) berichtet der Barrister Sean Jones über seine Kampagne, mit der er Kollegen dazu aufrief, ein Stundenhonorar für Flüchtlinge zu spenden und von deren Großzügigkeit überrascht wurde.
USA –Managerhaftung: Die US-Regierung hat Leitlinien für Staatsanwälte herausgegeben, nach denen diese künftig auch persönlich gegen leitende Angestellte von Unternehmen, die sich der Korruption, des Betrugs oder eines anderen groben Fehlverhaltens schuldig gemacht haben, vorgehen sollen. Als aktuelles Beispiel nennt die SZ (Claus Hulverscheidt) die Ermittlungen gegen führende Mitarbeiter von General Motors wegen des Unfalltods von mehr als 100 Autofahrern.
Russland – orthodoxer Vandalismus: Orthodoxe Aktivisten der Bewegung "Der Wille Gottes" haben Werke russischer Bildhauer zerstört und dafür nur 13 Euro Strafe zahlen müssen, obwohl der Schaden erheblich größer war. Dass dahinter System steckt, zeigt die SZ (Tim Neshitov) auf.
Serbien – Srebrenica-Anklagen: In Serbien sind zum ersten Mal acht Männer wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligung am Massaker von Srebrenica vor 20 Jahren angeklagt worden. Ihnen wird vorgeworfen, die Ermordung hunderter Muslime in einem Lager bei Srebrenica angeordnet zu haben, meldet die FAZ.
Qatar – Kafala: Das qatarische Regierungskabinett hat beschlossen, das umstrittene Kafala-System abzuschaffen, meldet die FAZ (Michael Ashelm). Das System war von Menschenrechtsorganisationen und dem Menschenrechtsausschuss im europäischen Parlament kritisiert worden, weil Gastarbeiter danach nur nach Zustimmung ihres Arbeitgebers ausreisen dürfen, was oft als Druckmittel bei der Auszahlung von Gehältern eingesetzt wird.
Schweiz – Nestlé: In seinem Blog "Recht Subversiv" auf zeit.de schreibt der Anwalt Wolfgang Kaleck über den Umgang der Schweizer Justiz mit dem Fall des kolumbianischen Nestlé-Arbeiters, der 2005 von Paramilitärs ermordet wurde. Den Nestlé-Managern in der Schweiz wird vorgeworfen, Schutzmaßnahmen unterlassen zu haben, obwohl sie von Kolumbien aus darum gebeten worden waren. Ein Strafverfahren sei an der Schweizer Justiz gescheitert, die keine Ermittlungen aufnahm und am Ende aller Instanzen mitteilte, dass der Fall verjährt sei. Trotz allem sei als Resultat zu verbuchen, dass eine Diskussion darüber angestoßen wurde, wie das Recht reformiert werden müsste, um rechtsverletzende Handlungen oder Unterlassungen von Firmen zu ahnden.
Sonstiges
Facebook-Dialog: Vor dem Hintergrund, dass Justizminister Heiko Maas mit Deckung der Kanzlerin beabsichtigt, Facebook zur Rede zu stellen, erinnert Jost Müller-Neuhof (Tsp) an das Recht als Ordnungsinstrument demokratischer Gesellschaften. Es garantiere die freie Rede. Die Benimmregeln in sozialen Netzwerken amtlich mitzubestimmen, übersteige die Aufgaben des Staates. Das Justizministerium sei keine Hygienekommission für den politischen Dialog und für die Verfolgung von Straftaten im Netz hätten die Staatsanwaltschaften zu sorgen, für deren ausreichende Austattung Maas eintreten möge.
Arbeitsmarktzugang: Die Welt (Martin Pirkl) listet die rechtlichen Hürden auf, die Asylbewerber nehmen müssen bevor sie in Deutschland arbeiten dürfen. Die gesetzlichen Vorschriften für den Arbeitsmarkt seien ein Hindernis bei der Besetzung von offenen Stellen mit Flüchtlingen.
Arbeitsrechte: Wie die taz (Astrid Springer) schreibt, fordern Krankenschwestern in der Deutschen Rotkreuzschwesternschaft normale Arbeitsrechte. Statt nach dem Betriebsverfassungsrecht richten sich ihre Rechte nach dem Vereinsrecht der Schwesternschaft. Dadurch werden den Frauen – und nur ihnen, denn Männer können nicht Mitglied werden – verbriefte Arbeitnehmerrechte, wie die Mitbestimmung durch einen Betriebsrat oder die Klage vor dem Arbeitsgericht genommen.
NSA-Untersuchungsausschuss: netzpolitik.org (Andre Meister) liefert einen Live-Blog aus dem NSA-Untersuchungsausschuss.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/ml
(Hinweis für Journalisten)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 11. September 2015: Organspende vor Bundesgerichten - An- und Abfahrt als Arbeitszeit - großzügige Anwälte . In: Legal Tribune Online, 11.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16870/ (abgerufen am: 18.05.2024 )
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