Dürfen sich ehemalige Verfassungsrichter in die Tagespolitik einmischen? Außerdem in der Presseschau: Ausnahmen vom Mindestlohn für Flüchtlinge, das BVerfG verhandelt zum OMT-Programm und die Gehgeschwindigkeit eines Anwalts.
Thema des Tages
Verfassungsrichter a.D.: Neben zwei amtierenden Senaten besitzt das Bundesverfassungsgericht einen informellen Dritten, bestehend aus den wissenschaftlichen Mitarbeitern. Darüber hinaus wird aber auch noch vom Vierten Senat gesprochen, wenn von ehemaligen Richtern die Rede ist. Recht eindeutige jüngste Äußerungen des vormaligen Präsidenten Hans-Jürgen Papier zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung oder das für die bayerische Staatsregierung erstellte Gutachten Udo di Fabios bewegen nach Darstellung der SZ (Wolfgang Janisch) das Karlsruher Gericht nun zu der Überlegung, amtierende Richter durch eine Selbstverpflichtung dazu anzuhalten, sich im Ruhestand einer Mäßigung in der Kundgabe politischer Ansichten zu befleißigen. Öffentliche Aufgaben ausgeschiedener Verfassungsrichter seien zwar nicht ungewöhnlich, wer sich aber "ohne politisches Amt ins politische Geschäft" begebe, "kontaminiert den auf Unabhängigkeit und Distanz beruhenden Nimbus" des Karlsruher Gerichts. Als Beispiel für die stärkere öffentliche Präsenz hoher Richter nennt der Beitrag zudem die Kolumnen des Bundesrichters Thomas Fischer. Dessen "völlig neue Form der Vermittlung juristischer Inhalte" verschaffe Rechtsthemen ein neues Publikum. Dagegen wirke aber Papiers Kritik "im Kern politisch motiviert" und erhalte durch sein früheres Amt auch besonderes Gewicht.
Rechtspolitik
Mindestlohn für Flüchtlinge: Ein genereller Ausschluss der Bestimmungen des Mindestlohngesetzes für Flüchtlinge ist nach Einschätzung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages dazu geeignet, "den sozialen Frieden zu gefährden". Der Idee stünden zudem erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken entgegen, so die SZ (Thomas Öchsner). Dass von Mindestlohnregelungen betroffene arme Flüchtlinge mit armen Deutschen vergleichbar wären, stellt Reinhard Müller (FAZ) in Abrede. "Wer als Schutzsuchender kommt, hat Anspruch auf ebendas: auf Schutz und eine menschenwürdige Unterbringung". Aufgenommen würden Flüchtlinge "mit dem Ziel ihrer baldigen und hoffentlich von ihnen gewünschten Rückkehr", dies unterstreiche ihren "anderen Status".
EU-Flüchtlingspolitik: Die auf dem EU-Gipfel am kommenden Donnerstag zur Verhandlung stehenden, gegensätzlichen Positionen zum Umgang mit Flüchtlingen fasst die taz (Eric Bonse) zusammen.
Sichere Herkunftsstaaten: Die taz (Ulrich Schulte/Christian Rath) berichtet zu ihr vorliegenden Belegen, nach denen der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) die Zustimmung seines Landes bei der Bundesrats-Abstimmung über die von der Bundesregierung geplante Erklärung von Tunesien, Algerien und Marokko als sichere Herkunftsstaaten anbietet. Im Gegenzug solle eine Aufenthaltserlaubnis für vor dem 31.12.2013 Eingereiste sowie eine Vereinfachung in asylrechtlichen Eilverfahren erreicht werden. Nach dem Kommentar von Stefan Reinecke (taz) sind Verhandlungen zu realpolitisch durchsetzbaren Themen zwar legitim. Gleichwohl müsse ein Kern des Asylrechts "dem Geben und Nehmen pragmatischer Politik entzogen" bleiben. Anderenfalls löse sich das Asylrecht auf.
Bundestags-Zugang: Die SZ (Markus Balser) berichtet zu Überlegungen der Bundestagsverwaltung, die Anzahl der für Lobbyisten ausgestellten Dauer-Hausausweise deutlich zu verringern. Die Offenlegung der mehr als 1.000 derartigen dauerhaften Zugangsberechtigungen war erst durch lange juristische Auseinandersetzungen erreicht worden.
Kosten des Atomausstiegs: Eine von Jürgen Trittin (Grüne) geleitete Experten-Kommission der Bundesregierung hat klargestellt, dass die Kosten des Atomausstiegs von den betroffenen Unternehmen getragen werden sollen. Markus Balser (SZ) begrüßt dieses Ergebnis in einem Kommentar, bezweifelt jedoch dessen Durchsetzbarkeit. Bisherige Rückstellungen der Konzerne seien gebunden, wolle sich der Staat den Zugriff auf diese Gelder sichern, triebe er die Unternehmen in die Insolvenz. Somit drohe wie bereits in der Finanzkrise auch in der Energiebranche die Privatisierung von Gewinnen und Sozialisierung von Verlusten.
Finanztransaktionssteuer: Nach Bericht des Hbl (Ruth Berschens/Jan Hildebrand) hat die von elf EU-Staaten, unter ihnen Deutschland, geplante Finanztransaktionssteuer kaum noch Chancen auf eine Einführung. Die offizielle Verabschiedung von dem Projekt durch die Finanzminister der betreffenden Staaten stehe aber noch aus. Im Kommentar von Jan Hildebrand (Hbl) ist für das absehbare Scheitern auch die durch die Steuer versuchte "Quadratur des Kreises" verantwortlich. Denn sollte die Abgabe einerseits zusätzliche Einnahmen generieren, andererseits als Regulierungsinstrument dazu beitragen, hochspekulative Börsengeschäfte einzudämmen.
Tisa: In einem Gastkommentar für das Hbl stellt Viviane Reding als Mitglied des Ausschusses für Internationalen Handel des Europäischen Parlaments die seit 2013 laufenden Verhandlungen über das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (Tisa) vor. Trotz immenser Bedeutung für den Alltag von Bürgern fänden diese Verhandlungen in der Öffentlichkeit kaum Wiederhall. Das Europäische Parlament setze sich jedoch mit Nachdruck für die Durchsetzung der von ihm aufgestellten Leitlinien volle Transparenz, faire Handelsregelungen und gegenseitige Marktöffnungen ein.
TTIP: Das Hbl (Heike Anger) berichtet zur Kritik der Europäischen Richtervereinigung (EAJ) an der geplanten Einrichtung eines Investitionsgerichts im Rahmen des Freihandelsabkommens TTIP. Alle Mitgliedsstaaten der Union besäßen "gut funktionierende Rechtssysteme", ein neues Gerichts außerhalb dieses Systems könne sich demgegenüber auf keine Rechtsgrundlage stützen, gibt der Beitrag die Meinung des Vorsitzenden des EAJ wieder.
Justiz
EuGH zu Inhaftierung von Asylbewerbern: Die SZ (Wolfgang Janisch) berichtet von einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs, nach dem die Inhaftierung von Asylbewerbern aus Gründen der nationalen Sicherheit zwar zulässig sei, gleichzeitig aber "auf das absolut Notwendige" beschränkt und damit so kurz wie nötig gehalten werden müsse.
BVerfG – OMT: Auch die FAZ (Helene Bubrowski) berichtet nun zu der am heutigen Dienstag anstehenden Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtmäßigkeit des OMT-Programms der Europäischen Zentralbank (EZB). Obwohl das Programm nie aktiviert wurde und wohl auch nicht werde, sei die Verhandlung "kein Glasperlenspiel". Denn gehe es grundsätzlich um das Verhältnis "des höchsten deutschen und dem höchsten europäischen Gericht", in dem sich Karlsruhe immer noch die Entscheidungskompetenz zu deutschen Hoheitsakten, die auf angeblichen Kompetenzüberschreitungen von Unionsorganen beruhen, vorbehält. In ihrer Rubrik Aktuelles Lexikon erläutert die SZ (Wolfgang Janisch) den entscheidungserheblichen Ultra Vires-Begriff. Die Annahme eines Handelns der EZB außerhalb ihrer Zuständigkeiten beruhe auf dem Verständnis der begrenzten Einzelermächtigungen im Europarecht.
BVerfG zu Völkerrecht und Demokratie: Den am vergangenen Freitag veröffentlichten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum fehlenden Vorrang völkerrechtlicher Verträge gegenüber einfachen Bundesgesetzen bespricht nun auch Joachim Wieland auf lto.de. Für den Rechtsprofessor gebieten Demokratie und Rechtsstaat das gefundene Ergebnis, das abweichende Votum von Verfassungsrichterin Doris König vermag ihn nicht zu überzeugen.
LAG R-P – Befristung von Fußballerverträgen: Am morgigen Mittwoch verhandelt das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz in der Berufung zur Zulässigkeit der Befristung von Arbeitsverträgen von Profifußballern. Die Welt (Lars Wallrodt) stellt in ihrem Sportteil den Fall des früheren Torwarts von Mainz 05, Heinz Müller, vor. Sollte das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz, nach dem von der Anwendung des Teilzeit- und Befristungsgesetzes auch im Spitzensport nicht ohne weiteres abgesehen werden dürfe, Bestand haben, drohte das gegenwärtige System der zeitlich begrenzten vertraglichen Bindung von Profifußballern zusammen zu brechen.
LG Frankfurt – Emissionszertifikate: Wegen bandenmäßiger Steuerhinterziehung beim Handel mit CO2-Emissionszertifikaten müssen sich mehrere ehemalige Mitarbeiter der Deutschen Bank vor dem Landgericht Frankfurt/M. verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten vor, die Geschäfte in den Jahren 2009 und 2010 allein mit dem Ziel der Steuerhinterziehung durch sogenannte Umsatzsteuerkarusselle begangen zu haben, schreibt die FAZ (Manfred Schäfers). Die SZ (Meike Schreiber) berichtet ebenfalls.
LG Stuttgart – Porsche: Auch nach Einschätzung der FAZ (Susanne Preuß) spricht einiges dafür, dass die vor dem Landgericht Stuttgart wegen Marktmanipulation angeklagten Wendelin Wiedeking und Holger Härter mit einem Freispruch rechnen können. Die für das Ende der kommenden Woche terminierte Urteilsverkündung behalte trotz noch ausstehender Beweisaufnahmen in jedem Fall Relevanz für die zahlreichen zivilrechtlichen Prozesse angeblich geschädigter Hedgefonds gegen Porsche SE.
LG Bayreuth zu Teldafax: Biner Bähr, Insolvenzverwalter des vormaligen Stromanbieters Teldafax, hat vor dem Landgericht Bayreuth von einem Übertragungsnetzbetreiber im Wege einer Anfechtungsklage mehr als 30 Millionen Euro erstritten. Diese Entscheidung reihe sich nach Bericht des Hbl (Sönke Iwersen) in eine Reihe gleichlautender anderer, mittlerweile obsiege Bähr "fast im Wochentakt". Es stehe zu erwarten, dass Netzbetreiber die ihnen so entstandenen zusätzlichen Kosten auf ihre Kunden umlegen würden.
Recht in der Welt
Spanien – Regierungsbildung: Knappe zwei Monate nach der nationalen Parlamentswahl konnte in Spanien immer noch keine Regierung gebildet werden. Ein kürzlicher Auftrag zur Regierungsbildung von König Felipe VI. an den bisherigen Ministerpräsidenten und relativen Wahlsieger Mariano Rajoy wurde von diesem zurückgewiesen. In der Einschätzung des an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer tätigen wissenschaftlichen Mitarbeiters Daniel Toda Castan (verfassungsblog.de) hat der Ministerpräsident damit gegen die Verfassung des Landes verstoßen.
USA – Antonin Scalia: Zum Tod von Verfassungsrichter Antonin Scalia und dem bereits laufenden, politischen Streit über die Besetzung der nun offenen Richterstelle am US-Supreme Court prognostiziert Rechtsanwalt Robert Peres auf lto.de ein gegenüber der Vergangenheit "noch absurderes Schaulaufen der Macht". Bei nun amtierenden acht Verfassungsrichtern drohten Entscheidungen ohne Mehrheit, in diesen Fällen würden unterinstanzliche Entscheidungen aufrechterhalten. Die Nominierung eines Richters durch den noch amtierenden Präsidenten dagegen drohe am gegenwärtigen Kräfteverhältnis im Senat zu scheitern. Die durch die gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnisse in den USA erschwerte mögliche Nachfolge Scalias beschreibt auch SZ (Nicolas Richter). Die taz (Rieke Havertz) porträtiert dagegen die Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg, die als Vertreterin des "linken" Flügels am Supreme Court gilt, und die mit dem verstorbenen Scalia eine Leidenschaft für Opernmusik verband.
Israel – Ehud Olmert: Wegen Bestechlichkeit ist der ehemalige israelische Ministerpräsident Ehud Olmert zu mindestens 19 Monaten Haft verurteilt worden. Die FAZ (Hans-Christian Rößler) zeichnet das Verfahren nach und berichtet zur Unterbringung Olmerts.
Sonstiges
Unternehmensstrafrecht: Für das Feuilleton der FAZ skizziert Marc Engelhart, Referatsleiter am Max-Planck-Institut für ausländisches Wirtschaftsstrafrecht, in einem Gastbeitrag die Geschichte des Unternehmensstrafrechts. Unter ausführlicher Darstellung der hierzu in den USA entwickelten Dogmatik behauptet der Autor, dass die diesbezüglichen transatlantischen "Gräben weniger tief und vor allem historisch begründet" seien. Die hierzulande geltende Regelung einer Unternehmensgeldbuße im Ordnungswidrigkeitenrecht sei eine "Scheinlösung", weil auch sie auf einem persönlichen Vorwurf, dem der Verantwortlichkeit, aufbaue. Demgegenüber könne das unternehmerische Unterlassen gebotener Maßnahmen "der passendere Ansatz eines sanktionsrechtlichen Vorwurfs" sein.
Das Letzte zum Schluss
Gut zu Fuß: Strafverteidiger haben gewöhnlich andere Qualitäten als eine besonders flotte Sohle. Ein vor dem Schweizerischen Bundesstrafgericht ausgetragener Gebührenstreit hat dem dort klagenden Anwalt nun sogar den gerichtlichen Segen für einen gemächlichen Gang erteilt. Das Gericht führte aus, dass der von einem Anwalt zurückzulegende Weg zur Verhandlung 650 Meter betrug und "zu Fuss in neun Minuten" zu bewältigen sei. Martin Steiger (justillon.de) rechnet aus, dass dies eine Geschwindigkeit von 4,333 km/h bedeutet.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 16. Februar 2016: Aktiver Vierter Senat / Mindestlohn für Flüchtlinge / BVerfG zu OMT . In: Legal Tribune Online, 16.02.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18442/ (abgerufen am: 18.05.2024 )
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