Mit welchem Betrag ist eine falsche Verurteilung entschädigt? Das LG Karlsruhe verhandelt zu Harry Wörz. Außerdem in der Presseschau: Konsequenzen des Fitschen-Rücktritts, Würdigung für Völkerrechtler und Genugtuung von der Steuer.
Thema des Tages
LG Karlsruhe – Harry Wörz: Der Fall Harry Wörz gilt als besonders krasses Beispiel eines Justizirrtums. Wegen versuchten Totschlags seiner getrennt lebenden Frau wurde Wörz zu elf Jahren verurteilt, von denen er viereinhalb Jahre verbüßte. Ein Wiederaufnahmeverfahren führte in zwei Anläufen schließlich 2010 zu seinem rechtskräftigen Freispruch.
Vor dem Landgericht Karlsruhe begehrt Wörz nun vom Land Baden-Württemberg rund 110.000 Euro an Entschädigung. Der Betrag solle über die bereits gewährte gesetzliche Haftentschädigung hinaus den Verdienstausfall des mittlerweile arbeitsunfähigen Bauzeichners ausgleichen, schreibt die SZ (Wolfgang Janisch). Der Kläger habe sich einer "quälenden Vernehmung" zu seiner hypothetischen Arbeitsbiographie stellen müssen. Nach dem Bericht von spiegel.de schlug das Gericht einen Vergleich vor, für dessen Annahme die Parteien nun einen Monat Zeit hätten.
Rechtspolitik
Sicherheitsbehörden: In einem Gastbeitrag für die SZ beklagt Wolfgang Seibel, Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaften, eine "Flucht aus der Verantwortung" von sowohl Regierung als auch Opposition im Umgang mit Problemen deutscher Sicherheitsbehörden. Politische Einflussnahme habe die Ermittlungstätigkeit von Polizei und Verfassungsschutz zu den mutmaßlichen NSU-Morden behindert. Die jetzigen Forderungen zur Herausgabe von Selektorenlisten bedienten zwar einen Kontrollreflex, behinderten aber die zum Schutz von Grundrechten notwendige Arbeit von Sicherheitsbehörden.
Bürokratiebremse: In einem Gastkommentar kritisiert Johannes Heuschmid (taz) die im März vom Bundeskabinett als Selbstverpflichtung beschlossene sogenannte Bürokratiebremse. Die nach einem "One in, one out"-Prinzip geplanten Maßnahmen für Bürokratieabbau begünstigten schematische Herangehensweisen an komplexe Sachverhalte. Insbesondere seien Einschränkungen bei der naturgemäß kostenverursachenden Arbeits- und Sozialgesetzgebung zu befürchten. Erfahrungen mit vergleichbaren Initiativen in Großbritannien legten nahe, dass sogenannter Bürokratieabbau "eine umfassende Deregulierungsagenda" verberge.
Umsatzsteuer: Das Handelsblatt (Melanie Rübartsch) berichtet über Kritik an willkürlich erscheinenden, kurzfristigen Anhebungen des Mehrwertsteuersatzes durch den Fiskus. Die hierdurch um Planungssicherheit gebrachten Unternehmen setzten sich der Gefahr hoher Nachzahlungen und strafrechtlicher Verfolgung aus. Für eine ausnahmslose Vereinheitlichung des Steuersatzes gebe es jedoch keine politische Mehrheit.
Demonstrationsfreiheit: Michael Wolffsohn (Welt) setzt sich in einem Gastkommentar mit dem Wesen der Demonstrationsfreiheit auseinander. Der Historiker folgert aus der Zeichensetzung als Sinn und Zweck einer Demonstration, dass unfriedlich geplante oder durchgeführte Versammlungen den Schutz des Grundgesetzes nicht für sich in Anspruch nehmen könnte. Denn die Demonstrationsfreiheit sei "kein Freifahrtschein für Straßenschlachten".
Justiz
EuGH – umweltrechtliche Einwendungspräklusion: Vor dem Europäischen Gerichtshof wird derzeit zur europarechtlichen Vereinbarkeit bestimmter Präklusionstatbestände aus dem deutschen Verwaltungsverfahrens- und Umweltrecht verhandelt. Die deren Unionsrechtswidrigkeit bejahenden Schlussanträge von Generalanwalt Melchior Wathelet unterzieht Referendar Johannes Schulte (jurop.org) einer kritischen Prüfung. Der ausführliche Beitrag geht auch auf die Rechtslage zur Einwendungspräklusion im Umweltrecht und deren praktische Relevanz ein.
BAG zu sittenwidriger Rechtsanwalts-Vergütung: Sind 1.200 Euro brutto bei 20 Stunden wöchentlicher Arbeit eine sittenwidrige Vergütung für einen angestellten Rechtsanwalt? Das Bundesarbeitsgericht verneinte diese Frage in einer Entscheidung vom Dezember, meldet beck-blog.de (Christian Rolfs).
OLG Bamberg zu Abi-Noten: Die Verurteilung eines Schuldirektors wegen Falschbeurkundung im Amt ist vom Oberlandesgericht Bamberg aufgehoben worden. Der Pädagoge hatte die Abitur-Noten zahlreicher Schüler eigenhändig nach oben korrigiert, beschreibt spiegel.de den Fall. Seine Unterschrift habe jedoch "richtige, d.h. wahre Tatsachen beurkundet", weshalb er aus Rechtsgründen freizusprechen sei.
LG München I – Deutsche Bank: Joachim Jahn (FAZ) meint, dass sich Jürgen Fitschen "künftig auf der Anklagebank im Münchner Strafjustizzentrum etwas entspannter zurücklehnen" kann. Der angekündigte Rücktritt des Vorstandschefs der Deutschen Bank habe die Gefahr gebannt, dass die Zuverlässigkeit des Managers durch die Bankenaufsicht geprüft werde. Das Verfahren gegen Fitschen und dessen Vorgänger wird am heutigen Dienstag fortgesetzt.
LG Düsseldorf – Bertelsmann-Buchclub: Vor dem Landgericht Düsseldorf wird ab August zu der Klage von Buchhändlern gegen den Medienkonzern Bertelsmann verhandelt. Aus finanziellen Gründen wolle der den Buchclub schließen, an dessen Umsatz die Kläger anteilmäßig beteiligt sind, schreibt die FAZ (Jan Hauser)und erläutert auch die wirtschaftlichen Hintergründe des in Streit stehenden Geschäftsmodells.
ArbG Düsseldorf zu Leistungsbonus und Mindestlohn: Die Anwälte Kira Falter und Alexander Bissels (Handelsblatt-Rechtsboard) begrüßen eine Entscheidung des Arbeitsgerichts Düsseldorf, nach der ein Leistungsbonus auf den gesetzlichen Mindestlohn angerechnet werden kann, als "erfreulichen Schritt in die richtige Richtung". Nach dem Urteil vom April sei jede in einem Gegenseitigkeitsverhältnis stehende Zahlung von Arbeitgebern anrechenbar.
Frauenquote an Gerichten: Im Rechtsausschuss des Bundestages ist kürzlich ein Antrag der Grünen-Fraktion nach Einführung einer Frauenquote am Bundesverfassungsgericht abgelehnt worden. lto.de (Tanja Podolski) nimmt dies zum Anlass, den gegenwärtigen Anteil von Richterinnen an deutschen Gerichten zu untersuchen.
Recht in der Welt
Türkei – Verfassung: Der Rechtswissenschaftler Hüseyin Celik (verfassungsblog.de) bezeichnet die Parlamentswahl in der Türkei als verfassungspolitische Zäsur in der Geschichte des Landes. Während sich alle maßgeblichen Parteien darüber einig seien, dass die geltende "Putsch-Verfassung" von 1982 änderungsbedürftig sei, habe das Ergebnis vom Sonntag den Plänen von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zur Einführung eines Präsidialsystems einen Dämpfer verpasst. Stattdessen zwinge es alle Seiten zur Kompromissbereitschaft.
Sonstiges
Knut Ipsen: Die FAZ (Helene Bubrowski) würdigt Rechtsprofessor Knut Ipsen anlässlich dessen 80. Geburtstages. Der Völkerrechtler habe das Ziel verfolgt, seine Disziplin "aus den Sphären des Glasperlenspiels zu holen und für die Probleme dieser Welt anwendbar zu machen". Nicht zuletzt durch das von ihm gegründete Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht an der Ruhr-Universität Bochum sei es ihm gelungen, das Recht der Friedenssicherung völkerrechtliche Disziplin zu etablieren.
PKW-Maut/Vertragsverletzungsverfahren: Nach Darstellung von welt.de (Matthias Kamann/Christoph B. Schlitz) wird zu der Unterzeichnung des Gesetzes zur Einführung der PKW-Maut durch Bundespräsident Joachim Gauck noch in diesem Monat ein Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission eingeleitet. Es sei zu erwarten, dass die Kommission ein beschleunigtes Verfahren durchführe, bei dem durch eine Einstweilige Verfügung die zwischenzeitliche Einführung der Infrastrukturabgabe verhindert werde.
Provisionsauszüge: Anhand eines Fallbeispiels beschreibt das Handelsblatt (Ozan Demircan/Sönke Iwersen) die Praxis des Versicherungsunternehmens Ergo, ausgeschiedene Makler zu einem Verzicht auf erwirtschaftete Provisionen zu bewegen. Deren Anspruch auf Erstellung eines Buchauszugs würde häufig durch die Übersendung zahlreicher Kisten von Papier erfüllt, dessen Inhalt sich bei eingehender Prüfung dann häufig als falsch erweise. Betroffene kapitulierten allerdings regelmäßig vor einer solchen Prüfung und akzeptierten lieber geringere Abfindungs- oder Vergleichszahlungen.
Das Letzte zum Schluss
Steuer-Genugtuung: Eine Genugtuung aus ungewöhnlicher Richtung erfuhr ein Schweizer Hilfsarbeiter. Weil er jahrelang aus Scham über seine Legasthenie die Abgabe einer Steuererklärung unterließ, schätzte die zuständige Steuerverwaltung sein Einkommen. Der Betrag erhöhte sich regelkonform Jahr für Jahr, weil der Mann auf Widersprüche verzichtete. Der zu versteuernde Betrag erhöhte sich so von 3.200 auf zuletzt 480.000 Franken, die Steuern brachte der Betroffene aus seinen Ersparnissen und Verkäufen auf. Nach dem Bericht der SZ (Charlotte Theile) ist damit nun Schluss: Die Bürger seines Heimatdorfes stimmten dafür, ihm 250.000 Franken als Genugtuung zu erstatten. Wäre die Summe als Schenkung deklariert worden, dann hätte die Steuerbehörde erneut zugeschlagen.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 9. Juni 2015: Entschädigung für Wörz – Entspannung für Fitschen – Geburtstag von Ipsen . In: Legal Tribune Online, 09.06.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15782/ (abgerufen am: 09.05.2024 )
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