Der EuGH erklärte das polnische Richter-"Maulkorbgesetz" für rechtswidrig. Justizminister Buschmann will, dass Massenverfahren mit BGH-Hilfe schneller erledigt werden. Das OLG Schleswig ordnete Missbrauchs-Anklage gegen Staatsanwalt an.
Thema des Tages
EuGH/Polen – Justizreform: Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass ein wichtiges polnisches Gesetz zur Absicherung der Justizreform gegen EU-Recht verstößt. Das Gesetz von 2019 (von der Opposition "Maulkorbgesetz" genannt) verbot es polnischen Gerichten, die Unabhängigkeit anderer polnischer Gerichte zu prüfen. Dies und die Vorlage entsprechender Fragen zum EuGH sollte als Dienstvergehen behandelt werden. Die Unabhängigkeit polnischer Gerichte sollte ausschließlich durch die Kammer "für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten" (sog. Kontroll-Kammer) beim Obersten Gericht erfolgen. Außerdem sollten Richter ihre (aktuellen und früheren) Mitgliedschaften in Verbänden und Parteien offenlegen, damit diese im Internet veröffentlicht werden. Dagegen erhob die EU-Kommission eine Vertragsverletzungsklage, der der EuGH nun in vollem Umfang stattgab. Die Regelungen seien geeignet, die Unabhängigkeit der polnischen Justiz zu beinträchtigen. Wie schon 2021 stellte der EuGH fest, dass die Kontroll-Kammer und die Disziplinarkammer am Obersten Gerichthof nicht ausreichend unabhängig sind. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Marlene Grunert/Thomas Gutschker), taz (Christian Rath), beck-aktuell und LTO.
Reinhard Müller (FAZ) vermutet, dass die inzwischen erfolgte Abschaffung der Disziplinarkammer keine Folge des Vertragsverletzungsverfahrens beim EuGH war, sondern des Zurückhaltens von Milliardensummen aus dem EU-Corona-Aufbaufonds.
Rechtspolitik
Massenverfahren: Justizminister Marco Buschmann (FDP) hat einen Gesetzentwurf in die Ressortabstimmung der Bundesregierung gegeben, der die Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof vorsieht. Künftig soll der BGH aus anhängigen Revisionen ein Verfahren auswählen und zum Leitentscheidungsverfahren bestimmen können. Die Instanzgerichte hätten dann die Möglichkeit, laufende Parallelverfahren bis zur Klärung auszusetzen. Der BGH könnte auch dann entscheiden, wenn die Parteien die Revision zurückziehen. Die FAZ (Katja Gelinsky) berichtet.
Bundestags-Wahlrecht: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier prüft noch das im März beschlossene neue Bundestagswahlrecht und hat das Gesetz noch nicht unterzeichnet. Verfassungsrechtlich umstritten ist vor allem der Wegfall der Grundmandateklausel, der der Linken und der CSU potenziell schaden wird. Die SZ (Robert Rossmann) berichtet.
Namibia/Deutschland – Herero und Nama: Die namibische und die deutsche Regierung haben Kritik von UN-Sonderbeauftragten an der 2021 vorgelegten aber noch nicht unterzeichneten Gemeinsamen Erklärung zum Völkermord an Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika zurückgewiesen. Deutschland müsse keine Reparationen zahlen, weil 1904 bis 1908 das Verbot des Völkermords noch nicht internationaler Standard war. Die Völkerrechtlerin Karina Theurer kritisiert dies. Auch damals seien afrikanische Völker gegen willkürliche Tötungen geschützt gewesen. Umstritten ist auch, ob Vertreter der Herero und Nama ausreichend in die Verhandlungen eingebunden waren. Die FAZ (Claudia Bröll) berichtet.
Justiz
OLG Schleswig – Missbrauch beim Schlafwandeln: Das Oberlandesgericht Schleswig hat die Staatsanwaltschaft angewiesen, Anklage gegen einen Staatsanwalt zu erheben, der nachts seinen achtjährigen Sohn sexuell missbraucht hatte, aber angab, sich an nichts zu erinnern. Die Staatsanwaltschaft ging im Fall des Staatsanwalts von einem Fall des straflosen Schlafwandelns aus. Das OLG hielt dies nicht für überzeugend. Die Welt (Per Hinrichs) berichtet.
BGH – Energiecharta/§ 1032 ZPO: Am 27. Juli wird der Bundesgerichtshof entscheiden, ob deutsche Zivilgerichte gem. § 1032 ZPO über die Gültigkeit von Schiedsverfahren nach dem Energiecharta-Vertrag entscheiden können. Anwälte gehen laut Hbl (Alexander Pradka) davon aus, dass der BGH zugunsten der klagenden Staaten Deutschland und Niederlande entscheiden wird.
OLG Frankfurt/M. zu E-Scootern und Blutalkohol: Wer mit unzulässigem Blutalkohol von mehr als 1,1 Promille auf einem E-Scooter fährt, ist in der Regel zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet, weshalb die Fahrerlaubnis zu entziehen ist, entschied das Oberlandesgericht Frankfurt/M. Anfang Mai. Das OLG stellt Trunkenheitsfahrten mit dem E-Scooter damit gleich mit Trunkenheitsfahrten mit anderen Kraftfahrzeugen. LTO berichtet
LG Halle – Björn Höckes SA-Ausruf: Die Staatsanwaltschaft Halle hat den Thüringer AfD-Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke wegen "öffentlichem Verwenden von Kennzeichen einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation" angeklagt. Höcke hatte bei einer Veranstaltung 2021 die verbotene Losung der Sturmabteilung (SA) der NSDAP "Alles für Deutschland!" verwendet. LTO berichtet.
Soziale Schieflage derJustiz? Mit der Frage "Arm und Reich vor Gericht. Wie gerecht ist unsere Strafjustiz?" beschäftigt sich eine Dokumentation, die die ARD jetzt ausstrahlte. Marlene Grunert (FAZ) begrüßt, dass der Film "beklemmende Unwuchten" beleuchtet. Allerdings hätte dem Film "etwas mehr Ausgewogenheit gutgetan". Das deutsche Strafrecht könne durchaus nachsichtig sein, gerade bei Kleinkriminalität.
Recht in der Welt
EGMR/Ukraine – homosexuelle Partnerschaften: Zum ersten Mal hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass das Fehlen einer rechtlichen Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Paaren gegen das Diskriminierungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. Die Entscheidung wird von Post-Doc Giulio Fedele auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) vorgestellt.
UNITAD/Irak – IS-Straftaten: Im Interview mit LTO (Christian Rath) schildert Bundesanwalt Christian Ritscher seine Tätigkeit als Leiter der UN-Mission zur Verfolgung von IS-Verbrechen im Irak (UNITAD). Das UN-Untersuchungsteam soll die irakische Justiz unterstützen, kann mit ihr aber kaum zusammenarbeiten, weil im Irak noch die Todesstrafe verhängt wird und es noch kein Völkerstrafrecht gibt.
Chile – Verfassung: In Chile hat ein neuer Anlauf zur Schaffung einer Post-Pinochet-Verfassung begonnen, nachdem ein erster fortschrittlicher Verfassungsentwurf bei einer Volksabstimmung 2022 scheiterte. In diesem Jahr wurde der Verfassungsrat neu gewählt und hat jetzt eine rechtsextreme Mehrheit. Die taz (Sophia Boddenberg) berichtet.
Hongkong – Journalistin Bao Choy: Das Oberste Gericht Hongkongs sprach eine Journalistin frei, die nach regierungskritischen Recherchen 2021 wegen angeblicher "falscher Angaben" zu einer Geldstrafe verurteilt worden war. Das Gericht begründete dies mit den "verfassungsmäßig garantierten Rede- und Pressefreiheiten", weshalb das Urteil viel beachtet wurde. Die FAZ berichtet.
Australien – vier tote Kinder: Die 2003 wegen vierfachen Kindsmordes verurteilte Mutter Kathleen Folbigg, wurde jetzt begnadigt. Alle vier Kinder waren kurz nach der Geburt oder spätestens nach 18 Monaten aus unerklärlichen Gründen gestorben. Das Gericht hatte damals keine andere Erklärung als die Tötung der Kinder durch die Mutter für realistisch erachtet. Nun konnte nachgewiesen werden, dass zumindest zwei Kinder von der Mutter einen seltenen Gendefekt geerbt hatten, der zu Herzrhythmusstörungen und zum plötzlichen Tod führen kann. Die SZ (Kerstin Lottritz) berichtet.
Juristische Ausbildung
Reform: Die FDP-Bundestags-Abgeordnete Ria Schröder skizziert im FAZ-Einspruch eine Reform der juristischen Ausbildung. Hierzu gehören für sie: die Einführung eines Bachelor-Abschlusses, digitale Klausuren, die Nutzung von Kommentaren und Datenbanken im Examen, das Abschichten von Zivil-, Straf- und Öffentlichem Recht in getrennten Examensabschnitten, Entschlacken des Prüfungsstoffes, Stärkung der Grundlagenfächer sowie unabhängige Erst- und Zweitkorrektur im Examen.
Sonstiges
Ex-Bundeswehr-Piloten in China: Rechtsanwalt Patrick Heinemann untersucht auf LTO, welche rechtlichen Folgen der Einsatz von Ex-Bundeswehr-Piloten als Ausbilder der chinesischen Armee haben kann. Ein Dienstvergehen wäre dies nur, wenn dabei geheimzuhaltende Informationen über die westliche Luftwaffe verbreitet werden. Als Sanktion käme eine Streichung des Ruhegehalts in Betracht, was aber angesichts des hohen chinesischen Soldes keine abschreckende Wirkung hätte. Strafrechtlich könnte eine Verletzung von Dienstgeheimnissen und Landesverrat geprüft werden.
Anwälte und KI: Rechtsanwalt Marcus M. Schmitt plädiert im Hbl in der Kolumne "Votum" dafür, den Einsatz von KI-Programmen wie ChatGPT durch Anwälte als Chance zu sehen, die aber mit der nötigen Sorgfalt genutzt werden sollte, da ChatGPT noch "halluziniere" und Urteile erfinde.
Das Letzte zum Schluss
Die Polizei gerufen: Ein Mann in Langenhagen bei Hannover rief - ohne in Not zu sein - mehrfach die Notrufnummern von Polizei und Feuerwehr, 110 und 112. Auch der Einsatz einer vorbeigeschickten Polizeistreife nützte nichts. Kaum war die Streife weggefahren, rief der 54-jährige erneut die Polizei - die auch sofort kam, alle Telefone beschlagnahmte und ihm die Kosten des Einsatzes auferlegte. spiegel.de berichtet.
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LTO/chr
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Die juristische Presseschau vom 6. Juni 2023: . In: Legal Tribune Online, 06.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51922 (abgerufen am: 05.12.2024 )
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