Der türkische Präsident Erdogan hat Anzeige gegen den Bundestagsvizepräsidenten erstattet, weil dieser ihn "kleine Kanalratte" genannt hat. Im Gegensatz zum Fall Böhmermann eine klar strafbare Beleidigung, meint Felix W. Zimmermann.
Wolfgang Kubicki gibt sich gelassen. Der FDP-Vize Bundestagsvizepräsident sieht der Anzeige von Recep Tayyip Erdogan wegen Beleidigung und Verleumdung laut dpa "sorglos" entgegen. Sein Grund hierfür: "Im Gegensatz zur Türkei ist Deutschland ein Rechtsstaat, in dem die Meinungs- und Äußerungsfreiheit zentralen Verfassungsrang hat."
Allerdings sollte und dürfte Kubicki als Volljurist und Rechtsanwalt auch wissen, dass gleiches in Deutschland für das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gilt. Ebenfalls müsste ihm bekannt sein, dass die Meinungsfreiheit keinen allgemeinen Vorrang vor dem Persönlichkeitsrecht beansprucht, sondern jeder Konfliktfall einzeln zu lösen ist.
Beschimpfung ohne doppelten Boden
Wer sich nun assoziativ an Böhmermanns Schmähgedicht und die damalige Diskussion erinnert fühlt, ist indes auf dem Holzweg. Die Titulierung des türkischen Staatspräsidenten als "kleine Kanalratte" bei einem Wahlkampfauftritt im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik der Türkei eignet sich weder für ein "juristisches Proseminar" noch für jahrelange wissenschaftliche Diskurse über die Grenzen der Satire und auch nicht für Titelstorys im Spiegel. Während Böhmermann mit seinen Versen die tatsächlichen Grenzen der Meinungsfreiheit aufzeigen wollte, ist Kubickis Beschimpfung ohne jeden doppelten Boden und juristisch einfach zu bewerten:
Anders als Erdogans Rechtsanwalt Mustafa Kaplan laut Spiegel in seiner Anzeige vorträgt, scheidet die Verwirklichung des Tatbestands der Verleumdung, § 187 Strafgesetzbuch (StGB) offensichtlich aus. Denn eine Verleumdung verlangt eine Tatsachenbehauptung. Herr Kubicki wollte aber selbstverständlich nicht behaupten, Herr Erdogan sei tatsächlich ein Tier, konkret eine Ratte, sondern verwendete den Begriff als Beschimpfung.
In dieser liegt indes eine recht eindeutige Beleidigung, strafbar nach § 185 StGB vor. Die Beurteilungsmaßstäbe hierfür sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) klar und im Grundsatz einfach. Formalbeleidigung und Schmähkritik sind stets unzulässig, im Übrigen muss zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht abgewogen werden.
"Ratte" steht für widerlichen Menschen, "Kanalratte" erst recht
Hier spricht viel dafür, bereits eine Formalbeleidigung anzunehmen. Das sind Begriffe, die kontextunabhängig gesellschaftlich absolut missbilligt und tabuisiert werden. Dies kann bei "Ratte" angenommen werden. Der Duden versteht hierunter als Schimpfwort einen "widerlichen Menschen". Das Tier wird zudem mit Müll-, Krankheitsübertragung und Verwahrlosung assoziiert. Kubickis konkrete Formulierung als "Kanalratte" unterstreicht den Bedeutungshorizont der Widerwärtigkeit sogar noch.
Die Verteidigung des FDP-Politikers, eine Kanalratte sei ein "kleines, niedliches, gleichwohl kluges und verschlagenes Wesen, weshalb sie auch in Kindergeschichten als Protagonistin auftritt", ist eine offensichtliche Ausrede. Zum einen wollte Erdogan im Kontext seiner Rede gerade nicht positiv darstellen, sondern kritisieren. Zum anderen geht es in Kinderbüchern wie "Kalle Kanalratte" oder "Ratatouille" auch gerade nicht darum, dass Menschen entsprechend bezeichnet werden, sondern das Tier selbst, also nur seine wahre Natur benannt wird.
Nach Kubickis Logik wäre dann auch das Wort "Schwein" nicht beleidigend, sondern angesichts von Welt- und Kinderliteratur sowie Kinofilmen ("Farm der Tiere", "Peppa Wutz", "Schweinchen Babe") ein Synonym für intelligente und neugierige Menschen. Wie jeder weiß, wird die Titulierung von Menschen als "Schwein" jedoch nicht als positiv intoniert verstanden. Entsprechend hat kürzlich etwa das OLG Köln geurteilt, Menschen als "Schwein" zu bezeichnen, sei sozial tabuisiert. Für "Ratte" gilt dies mindestens ebenso.
Das Recht ist unteilbar
Bejaht man die Strafbarkeit wegen einer Formalbeleidigung, kommt es nicht mehr darauf an, ob auch eine in jedem Fall unzulässige Schmähkritik vorliegt – also eine Äußerung, die keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug zu einer sachlichen Auseinandersetzung liefert – oder dies wegen des Zusammenhangs von Kubickis Rede mit der der Flüchtlingspolitik Erdogans ausscheidet.
Selbst wenn man Schmähkritik und Formalbeleidigung verneinte, wäre in der dann vorzunehmenden Abwägung nicht ersichtlich, warum diese zugunsten von Kubicki ausfallen sollte. Der Mann ist Politiker und Vizepräsident des Deutschen Bundestages und nicht etwa Satiriker, für welche andere Maßstäbe gelten. Zwar müssen sich Politiker auch von anderen Politikern im öffentlichen Diskurs regelmäßig mehr gefallen lassen, doch auch hier gibt es Grenzen, wie das BVerfG in den vergangenen Jahren immer wieder betont hat. Diese Grenzen gelten aufgrund der vorbehaltlos garantierten Menschenwürde auch für einen Despoten wie Erdogan - das Recht ist unteilbar.
Daher nützt Kubicki auch der Vortrag nichts, dass Erdogan seit Beginn seiner Amtszeit im Jahr 2014 tausende Beleidigungsverfahren auch gegen Journalist:innen habe einleiten lassen. Erdogans despotisches Vorgehen in der Türkei führt selbstverständlich dazu, dass er mit besonders scharfen Worten auch überspitzt kritisiert werden darf. Doch Kubicki ging es in der Rede schon gar nicht um Kritik an Erdogans Verhaftungen.
Kubickis Gleichstellung mit verfolgten Journalisten ist anmaßend
Anmaßend stellt sich Kubicki zudem auf eine Stufe mit Journalist:innen in der Türkei, obwohl die Lage dort eine völlig andere ist. In der Türkei werden diese auch für sachliche Kritik und nicht nur für Beleidigungen verhaftet, ihre Recherchen stuft Erdogan als Terrorunterstützung ein, ganze Zeitungen müssen dicht machen.
Kubicki hingegen hat Erdogan einfach nur billig beleidigt, mangels Komplexität seiner Aussage dürfte auch der Beleidigungsvorsatz offensichtlich sein - im Gegensatz zum Fall Böhmermann, in dem die Staatsanwaltschaft Mainz eine Strafbarkeit ablehnte.
Wann geht das Persönlichkeitsrecht vor, wann die Meinungsfreiheit? Diese oft schwierige Abwägungsfrage dürfte im "Kanalratten-Fall" ausnahmsweise leicht zu beantworten sein. Doch auch wenn die Staatsanwaltschaft Hildesheim dies ebenso sieht: eine Anklage oder ein Strafbefehl könnte gleichwohl nicht einfach zu erreichen sein. Als Bundestagsabgeordneter genießt Kubicki Immunität, die der Bundestag erst aufheben müsste.
* Textversion vom 4.10.2022. Syntaxfehler korrigiert.
Erdogan zeigt Kubicki wegen "kleiner Kanalratte" an: . In: Legal Tribune Online, 30.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49786 (abgerufen am: 11.11.2024 )
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