EU-Wettbewerbskommissarin Vestager strickt angeblich gerne in Sitzungen. Dass ihre Entscheidungen wollweich wären, lässt sich aber nicht behaupten. Drei Brüsseler Kartellrechtler berichten über den Arbeitsalltag im Europaviertel.
Silvio Cappellari arbeitet im Herzen der europäischen Politik. Der Weg von seinem Büro zur EU-Kommission führt ihn durch das Europaviertel Brüssels: die Rue du Luxembourg entlang, geradewegs auf das Europäische Parlament zu, kurz davor scharf links abbiegen, das Besucherzentrum hinter sich lassen, am Europäischen Rat vorbei und schließlich vor der EU-Kommission zum Stehen kommen. Dort, in dem kreuzförmigen Berlaymont-Gebäude, sitzt Cappellaris Lieblingskommissarin: Margrethe Vestager.
"Vestager leistet hervorragende Arbeit", sagt Cappellari. "Zupackend und zielorientiert. Da haben wir schon ganz andere Kommissare erlebt." Die Dänin ist seit zwei Jahren EU-Kommissarin für Wettbewerb und somit für Kartellrechtler wie Cappellari eine Schlüsselfigur. Dass die Wettbewerbshüterin während der Sitzungen gerne strickt, tue ihrer Professionalität keinen Abbruch, findet der Anwalt. "Die Kommissarin ist charmant und eloquent, aber in der Sache sehr konsequent."
Der deutsche Anwalt mit italienischen Wurzeln lebt und arbeitet seit 20 Jahren in Brüssel. Als Referendar gelang ihm der Einstieg in eine US-Großkanzlei. Nach einem LL.M.-Studium in den USA kehrte er nach Brüssel zurück. Im Jahr 2001 wechselte er zu Shearman & Sterling, zwischen 2009 und 2013 arbeitete Cappellari für die US-Kanzlei Arnold & Porter.* Im Oktober 2013 eröffnete er dann für SZA Schilling Zutt & Anschütz gemeinsam mit Dr. Stephanie Birmanns das Brüsseler Büro. Insgesamt fünf Kartellrechtler arbeiten dort heute.
Wettbewerbsvorteil: direkter Draht in die Kommission
In der täglichen Arbeit ist nicht nur Verstager von großer Bedeutung für Capellari, auch die Referatsleiter sind wichtige Kontakte. "Der direkte Draht zu den Referatsleitern kann von Vorteil sein, um in komplexeren Fällen die Gespräche konkret vorzubereiten", findet der SZA-Kartellrechtspartner. Oder schlicht, um bei auftauchenden Fragen unkompliziert in den Abteilungen nachfragen zu können.
"Was nicht bedeutet, dass wir bei den Referatsleitern Schlange stehen", stellt der SZA-Partner klar. Bloß nichts überstrapazieren. Meistens wird unspektakulär per Telefon und Email kommuniziert. Dennoch helfe es, mit dem Büro in Brüssel vertreten zu sein, ist Cappellari überzeugt. "Von Mannheim oder Frankfurt aus könnten wir keine derart stabilen Beziehungen aufbauen. Die Präsenz vor Ort ist eindeutig von Vorteil."
Netzwerken mit angezogener Handbremse
"Sicherlich helfen vertrauensvolle Beziehungen zu Kommissionsmitarbeitern, zum Beispiel, wenn es darum geht, einen guten Rat einzuholen", findet auch Anne Federle. "Man sollte solche Kontakte jedoch nur mit großer Zurückhaltung nutzen, da Kommissionsbeamte zu strikter Neutralität und Unabhängigkeit verpflichtet sind", schränkt sie ein. Federle ist Kartellrechtspartnerin bei Bird & Bird in Brüssel. Ihre Erfahrung hat sie gelehrt, dass die Kommission sehr auf Unabhängigkeit achtet, gerade bei Anwälten.
"Es erleichtert sicherlich die Zusammenarbeit, wenn man sich bei der Kommission den Ruf als zuverlässiger und kompetenter Anwalt erworben hat", sagt Federle. "Doch letztlich trifft die Kommission Entscheidungen nach objektiven Kriterien. Persönliche Kontakte spielen daher nur eine beschränkte Rolle." Mandanten erklärt sie daher schon mal, dass es sich eher schädlich auswirken könnte, würde sie die entsprechende Abteilung übergehen und direkt bei den Vorgesetzten anrufen. Es geht also auch darum, Kontakte eher nicht zu nutzen.
Federle begann ihre Anwaltskarriere in einer kleinen belgischen Kanzlei und stieg 1992 bei Oppenhoff & Rädler ein, wo sie 1998 Partnerin wurde. Insgesamt 18 Jahre lang war sie für Oppenhoff - und nach der Fusion bei Linklaters - tätig, bis sie 2010 zu Bird & Bird wechselte. Bis auf die ersten zwei Jahre bei Oppenhoff, die sie in Köln verbrachte, arbeitete die Kartellrechtsanwältin stets in Brüssel.
*Anm. d. Red.: In einer früheren Version des Artikels hieß es fälschlicherweise, Cappellari habe zwölf Jahre, von 2001 bis 2013, für Shearman & Sterling gerarbeitet (korrigiert am 8.11.2016, 10:22 Uhr).
2/2 Das Entstehen der EU hautnah miterleben
Als Federle ihre Karriere 1992 begann, unterzeichneten zwölf EG-Länder den Vertrag von Maastricht, der das Entstehen der Europäischen Union einläutete. "Tatsächlich war es damals ein echter Wettbewerbsvorteil, sein Büro in Brüssel zu haben", erinnert sich Federle. "Das EU-Recht und Informationen über geplante oder in Vorbereitung befindliche EU-Gesetzgebung waren damals nicht online zugänglich."
Die Brüsseler Anwälte agierten deswegen auch als eine Art Informationsbüro für ihre deutschen Kollegen. Federle erzählt, dass Mitarbeiter täglich das Amtsblatt aus der Bibliothek holten, es kopierten und in Karteikästen einsortierten. "Rief ein deutscher Kollege an und fragte nach dem Stand eines speziellen Richtlinienvorhabens, ging ich zu diesem riesigen Karteikasten und suchte die Information für ihn heraus."
Diese Arbeit vermisst sie nicht - zu langweilig. Spannender fand sie die Internationalisierung des Geschäfts und die Verschiebung der Rechtsfragen. Das Kartellrecht war damals noch kein Thema, denn der Binnenmarkt entstand gerade erst. "Daher beschäftigte ich mich damals etwa viel mit Fragen der Warenverkehrsfreiheit", sagt die Bird & Bird-Partnerin. Heute berät sie ihre internationalen Mandanten dagegen ausschließlich in kartellrechtlichen Fragen.
EU-Erweiterung bringt Farbe in den Brüsseler Alltag
Dr. Ulrich Soltész betreut – wie auch Federle und Cappellari - multinationale Unternehmen aus verschiedenen Ländern. "Obwohl wir eine deutsche Kanzlei sind, arbeiten wir ganz überwiegend an internationalen Fällen", sagt der Gleiss-Lutz-Partner. Seine Mandate haben zwar häufig einen Deutschlandbezug, aber die Mandanten kommen aus den USA, Japan oder Frankreich.
Auch Soltész arbeitet seit fast 20 Jahren in Brüssel, er stieg 1997 bei Gleiss Lutz ein. Die Kanzlei war übrigens die erste deutsche Sozietät, die in Brüssel ein Büro eröffnete - im Jahr 1962. "Die Europäische Union hat sich in den letzten Jahren extrem verändert. Als ich herkam, gab es 15 Mitgliedsstaaten, heute sind es 28", erzählt der Anwalt. "Das hat das Leben in Brüssel sehr viel bunter gemacht." Und die Arbeit sehr viel anspruchsvoller.
Kommission arbeitet immer professioneller
Der Kartellrechtler Soltész beobachtet eine zunehmende Professionalisierung der EU-Kommission. Die Mitarbeiter vermeiden heute viele Fehler, die in der Vergangenheit bisweilen zu Aufhebungen von Entscheidungen geführt haben. Die Verfahren werden größer und umfangreicher, der Aufwand nimmt dementsprechend zu. Auch für die Anwälte.
"Die Verfahren sind aufwändiger geworden, auch wegen der wachsenden Bedeutung der ökonomischen Analyse", erzählt der Gleiss Lutz-Partner. "Früher hat die Anmeldung eines einfachen Zusammenschlussvorhabens gerade einmal 20 Seiten gezählt. Heute umfasst sie häufig zwischen 100 und 200 Seiten – ohne Anlagen."
Die Professionalisierung der Verwaltungsvorgänge führte nicht nur zu Papierbergen, sondern verändert auch das Verhalten der Mitarbeiter spürbar. "Die Kommissionsmitarbeiter haben gelernt, besser mit den Verteidigungsstrategien der Anwälte umzugehen", sagt dazu Soltész. "Das macht unsere Arbeit nicht immer einfacher", fügt er mit einem Augenzwinkern hinzu.
Désirée Balthasar, Deutsche Anwälte in Brüssel: Mittendrin statt nur dabei . In: Legal Tribune Online, 07.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21075/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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