Fast jeder Anwalt klagt über viel Arbeit, aber wann ist es zu viel? Karriereberaterin Carmen Schön erklärt, wie man Überlastungen erkennt und effektiv gegensteuert – und warum sich Kanzleien doch Mitarbeiter wünschen, die am Limit arbeiten.
LTO: Anwälte haben bekanntlich immer viel zu tun. Wann ist es aber zu viel?
Carmen Schön: Zunächst einmal: Jeder trägt selbst für sich die Verantwortung und sollte herausfinden, was für ein Arbeitspensum das richtige für ihn ist. Es gibt Menschen, die fühlen sich nur dann lebendig, wenn sie besonders viel zu tun haben. Andere dagegen brauchen ein geringeres Arbeitspensum, um sich noch wohl zu fühlen. Die individuellen Unterschiede im Energie-, Stress- und Leistungshaushalt sind riesig. Manche sind nach einem Arbeitstag von zehn Stunden noch topfit, während andere zusammenbrechen. Es ist also nicht für jeden gesundheitsbedrohlich, wenn er zwölf Stunden am Tag arbeitet.
Die Psychologie unterscheidet zwischen negativem und positivem Stress, dem sogenannten Dis- und Eu-Stress. Zehn Stunden im positiven Stress zu arbeiten, schadet demnach nicht. Bedenklich wird es dagegen, wenn man solch eine lange Zeit im negativen Stresszustand verbringt.
LTO: Es gibt also keine allgemeingültige Aussage darüber, wie viel Arbeit gesund ist?
Schön: Es gibt natürlich medizinische Studien, die besagen, dass die meisten Menschen nicht dauerhaft in hoher Intensität arbeiten können, ohne dass es zu gesundheitlichen Problemen kommt. Aber im Grunde ist die Belastbarkeit tatsächlich sehr individuell. Deswegen sollte jeder herausfinden, was für eine Art von Stress- oder Arbeitstyp er ist.
"Welche Aufgaben sind wirklich wichtig?"
LTO: Wie macht man das?
Schön: Man könnte die Arbeitsbelastung probehalber etwas justieren. Gehen Sie beispielsweise eine halbe Stunde früher nach Hause oder lehnen sie aktiv Projekte ab. Fühlt sich das gut für Sie an? Oder macht sich ein Gefühl der Unterforderung breit? Das wiederum wäre auf Dauer auch ungesund.
LTO: Aber seine Aufgaben muss man doch erledigen?
Schön: Die Frage ist ja, was denn alles zu den Arbeitsaufgaben gehört! Es klingt vielleicht etwas spießig, aber man sollte sich durchaus einmal mit einer Arbeitsplatzbeschreibung befassen und sich fragen: Was ist mir und meiner Karriere förderlich, und was mache ich nur aus Interesse oder Pflichtgefühl? Welche Arbeiten sind wichtig für mich oder die Kanzlei - was ist dagegen unwichtig? Worauf wird in der Kanzlei wert gelegt?
Schlafstörungen, Kopfkino, Herzrasen
LTO: Woran erkennt man, dass man mit seiner Arbeitsbelastung am Limit ist?
Schön: Typische Anzeichen sind Schlafstörungen und Kopfkino, d.h. wenn man auch abends noch an die Kanzlei denken muss und nicht abschalten kann. Manche bekommen Herzrasen, bei vielen Überlasteten schleicht sich auch ein abweichendes Essverhalten ein, sie haben also viel mehr oder viel weniger Appetit als üblich. Wer in der Kommunikation, sei es beruflich oder privat, schnell gereizt wird und gar nicht mehr ausgleichend wirken kann, ist wohl ebenfalls überlastet.
Auch mangelnde Konzentration, Fehleranfälligkeit und Fahrigkeit sind Anzeichen. Hinzu kommt Drogenmissbrauch, und damit meine ich auch Nikotin und Alkohol: Wenn man jeden Abend drei Gläser Wein braucht um zu entspannen, dann läuft etwas schief. Die Endstufe ist eine innere Leere, ein Ausgebrannt Sein, das bis hin zur Depression führen kann.
2/2 "Schnell gegensteuern"
LTO: Was sollte ein Anwalt unternehmen, der erste Anzeichen bei sich bemerkt?
Schön: Er sollte möglichst schnell gegensteuern, um nicht in der Endstufe, dem Burn-out, zu landen. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass er zunächst einmal wahrnimmt, dass er überhaupt ein Problem hat. Als Anwalt arbeitet man in dieser Hinsicht in einem Risikoberuf. Aber das hat auch eine positive Seite: Man ist nicht allein mit seiner Arbeitsüberlastung.
LTO: Wie kann man gegensteuern?
Schön: Indem man sich zuerst fragt, ob es an einem selbst liegt - oder ob die anderen zu viel einfordern. Viele Menschen können nicht Nein sagen, und das hängt auch damit zusammen, dass sie eine falsche Vorstellung davon haben, was für ihre Karriere wichtig ist. Wer sich überlastet fühlt, sollte aktiv das Gespräch mit dem Vorgesetzen suchen und auch gleich Vorschläge machen, wie er entlastet werden kann. Er sollte sofort ankündigen, dass er beispielsweise ein oder zwei Abende pro Woche schon um 19 Uhr nach Hause gehen wird, um Sport zu treiben oder sich anderweitig zu entspannen.
Krankmeldung als Ausdruck schlechter Arbeitsmoral
LTO: Es gibt sicher Kanzleien, in denen so etwas nicht gern gesehen wird…
Schön: Ja, die gibt es. Bei manchen Partnern herrscht ja die Auffassung, eine Krankmeldung sei bloß Ausdruck einer mangelhaften Arbeitsmoral. In solch einem Fall sollte man sich aber fragen, ob die Erwartungshaltung der Kanzlei an den Anwalt nicht falsch ist.
LTO: Welche Tipps haben Sie für den Arbeitsalltag?
Schön: Man sollte Entspannungstechniken erlernen und im Alltag kleine Pausen einplanen. Vielen Menschen hilft ein kleiner Spaziergang, manche Anwälte ziehen sich auch in ihrem Büro zurück und machen ein paar Entspannungsübungen oder eine Kurzmeditation. Generell gilt: Den Blick weiten, sich bewegen, bewusst durchatmen.
LTO: Kanzleien als Arbeitgeber tragen ja durchaus eine Mitverantwortung. Haben Sie den Eindruck, dass sie ein Augenmerk auf die Arbeitsbelastung der Mitarbeiter haben?
Schön: Es gibt durchaus Kanzleien, die für ihre Mitarbeiter die Mitgliedschaft in einem Fitness Club sponsern, Obst statt Kekse in die Besprechungsräume stellen oder ab und zu einen Masseur kommen lassen. Aber ein breites Gesundheitsmanagement, wie es in vielen großen Unternehmen längst üblich ist, habe ich noch nicht erlebt.
"Wer nicht am Limit arbeitet, ist nicht erfolgreich"
LTO: Woran liegt das?
Schön: Ich denke, es liegt an der althergebrachten Denkweise in den Kanzleien: Wer nicht am Limit arbeitet, ist nicht erfolgreich. Die heutigen Partner sind in dieser Kultur groß geworden, sie arbeiten alle sehr viel.
Für die Associates gilt ja in den meisten Sozietäten das Up-or-out-Prinzip. Wenn die jungen Anwälte ohnehin nach drei bis fünf Jahren wechseln, dann denkt sich die Kanzlei doch, dass sie in dieser Zeit am Limit arbeiten und alles geben sollen. Zusammenbrechen können sie dann woanders. Ich sage das etwas überspitzt, aber es ist grundsätzlich schon so: In der derzeit vorherrschenden Kultur hat eine Kanzlei eigentlich gar kein Interesse daran, einen Mitarbeiter zu halten, der bis zur Rente gesund bei ihr arbeitet.
LTO: Ist denn ein Kulturwandel absehbar?
Schön: Ich fürchte nein. Wenn man die Selbstdarstellung der Kanzleien im Recruiting anschaut, dann fällt auf, dass kaum mit Werten, die jungen Juristen wichtig sind, geworben wird. Dabei wäre es einfach: Ein flotter Slogan, z.B. "Hier darf man leben und nicht nur arbeiten" und ein Masseur, der regelmäßig in die Kanzlei kommt. Ich wette, solch eine Recruiting-Kampagne wäre viel effektiver als das, was die meisten Kanzleien immer noch machen: Bunte Lollies und Hochglanzbroschüren verteilen.
Anja Hall, Wenn die Arbeit zu viel wird: "Anwalt ist ein Risikoberuf" . In: Legal Tribune Online, 13.12.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21441/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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