Am Montag verabschiedet das ungarische Parlament eine neue Verfassung. Das Volk wird nicht gefragt, ebenso wenig die Opposition. Ministerpräsident Viktor Orbán will sich und seiner Zweidrittelmehrheit bei der nationalkonservativen Umgestaltung des Landes von niemanden mehr reinreden lassen, meint Max Steinbeis.
Schon die ersten Worte verraten, dass dies keine ganz gewöhnliche Verfassung ist: "Gott schütze die Ungarn" lauten sie, ein Zitat aus der ungarischen Nationalhymne aus dem 19. Jahrhundert. Dann folgt erst einmal ein Stück Prosa, für das der Begriff Präambel gar nicht mehr richtig passt: Es ist etwa so lang wie dieser Artikel und mit dem Titel "Nationales Glaubensbekenntnis" überschrieben.
Danach kommt ein Abschnitt mit Staatszielbestimmungen und anderen Grundsätzlichkeiten. Und dann, erst dann geht es weiter mit Grundrechten, Staatsorganisationsrecht und was man sonst noch von einer Verfassung an juristisch harter Münze erwartet.
Diese Verfassung wird heute im ungarischen Parlament verabschiedet – allein mit den Stimmen der nationalkonservativen Regierungsparteien. Ministerpräsident Viktor Orbán verfügt im Parlament zu Budapest über eine komfortable Zweidrittelmehrheit.
Das Ende eines Provisoriums
Die erlaubt ihm, da Ungarns Regierungssystem nur eine Kammer kennt, die Verfassung zu ändern, ohne die Opposition dazu um ihre Zustimmung fragen zu müssen.
Die bisherige Verfassung galt immer als Provisorium: Sie ist nominell immer noch die kommunistische Verfassung aus dem Jahr 1949, wenngleich sie 1989 völlig entkernt und demokratisch generalsaniert wurde. Sie sah vor, dass das Parlament eine neue Verfassung verabschieden sollte – und zwar mit Vierfünftelmehrheit. Orbán nutzte im letzten Jahr nach seinem Wahlsieg seine Zweidrittelmehrheit, um die Verfassung zu ändern und diese Schwelle seiner Mehrheit anzupassen.
Ein Verfassungsreferendum ist nicht geplant. Orbán stellt sich stattdessen auf den Standpunkt, die Wahl 2010, die ihm die Zweidrittelmehrheit einbrachte, sei eine "Revolution in der Wahlkabine" gewesen, in der ihm das ungarische Volk den Auftrag zur Verfassungsgebung erteilt habe.
Das "Nationale Glaubensbekenntnis" als bindender Maßstab
Das angesprochene "Nationale Glaubensbekenntnis" am Anfang der neuen Verfassung beschreibt, wie er diesen Auftrag zu erfüllen gedenkt: Dort ist von der "die Nation erhaltenden Kraft des Christentums" die Rede, von der "seelischen und geistigen Einheit der Nation" und anderen nationalkonservativen Topoi mehr.
Die Ehe genießt in der neuen Verfassung als "Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau", die Familie als "Grundlage der Erhaltung der Nation" Schutz. Grundrechte stehen vielfach in Zusammenhang mit entsprechenden Grundpflichten; der Grundrechteteil ist mit "Freiheit und Verantwortung" überschrieben.
Das Verfassungsgericht wird es nicht leicht haben, mit diesem Text umzugehen: Die Verfassung sieht ausdrücklich vor, dass das "Nationale Glaubensbekenntnis" bindender Interpretationsmaßstab für den Verfassungstext zu sein hat.
Verfassung beschneidet die Kompetenzen des Verfassungsgerichts
Die neue Konstitution sorgt auch dafür, dass die Möglichkeiten des Gerichts, verfassungswidriges Recht für nichtig zu erklären, drastisch schwinden: Bereits im letzten Jahr hatte Orbáns Zweidrittelmehrheit dem Gericht einen Großteil seiner Zuständigkeit entzogen, Steuer- und Haushaltsgesetze zu überprüfen, nachdem es ein Gesetz zur Besteuerung von Abfindungen für verfassungswidrig erklärt hatte.
Diese Beschneidung der Kompetenzen des Gerichts wird jetzt für dauerhaft erklärt. Damit kann die Regierung Orbán theoretisch verfassungswidrige Steuergesetze erlassen, ohne dass irgendjemand etwas dagegen tun kann.
Das Verfassungsgericht wird von 11 auf 15 Richter vergrößert, die Mehrheitsverhältnisse verändern sich damit zu Gunsten Orbáns. In der Justiz führt die neue Verfassung eine regelrechte Säuberungswelle durch: Sie senkt das Rentenalter für Richter von 70 auf 62 Jahre, was dazu führt, dass ein großer Teil der höheren Richterschaft ihre Posten für Orbán-Kandidaten frei machen muss.
Im politischen Wettbewerb geht auch zukünftig kein Weg an Orbán vorbei
Auch der politische Wettbewerb wird durch die neue Verfassung drastisch eingeschränkt: Viele politische Schlüsselpositionen werden mit verlängerten Amtszeiten versehen, so dass etwa der Generalstaatsanwalt, die Leitung der Medienaufsicht oder der Chef des Rechnungshofs auf absehbare Zeit Orbán-Leute bleiben. Ihre Neuwahl ist an eine Zweidrittelmehrheit geknüpft, so dass auch nach Ablauf seiner Amtszeit an Orbán kein Weg vorbei geht.
Das gilt auch für die materielle Politik der gegenwärtigen Regierung: Alle grundsätzlichen Gesetzesmaterien sind als so genannte "Kardinalgesetze" an eine Zweidrittelmehrheit gebunden. Das gab es bisher auch schon, Orbáns Verfassung erweitert die Zahl der Kardinalgesetze aber noch: So sind beispielsweise auch fundamentale Steuer- und Rentenreformen künftig nur noch mit Zweidrittelmehrheit (und damit nicht ohne Orbáns Zustimmung) möglich.
Orbán hatte die Einkommensteuerprogression abgeschafft und die private Altersvorsorge verstaatlicht. Die Verfassung zementiert dies, auch wenn künftige Wählermehrheiten Änderungen verlangen sollten.
Das ungarische Volk wird zu alldem nicht gefragt. Es fand eine "Konsultation" in Form eines Fragebogens mit zwölf willkürlich ausgewählten Punkten statt. Eine öffentliche Debatte oder gar ein Verfassungsreferendum gibt es nicht.
Der Autor Maximilian Steinbeis ist Jurist und freier Journalist in Berlin. Seine Schwerpunkte liegen im Verfassungsrecht und der Verfassungspolitik.
Mehr auf LTO.de:
Ungarisches Mediengesetz: Kritik in Maßen weiterhin angebracht
Pressefreiheit in Ungarn: Von der juristischen Machtlosigkeit Europas
Ungarns neue Verfassung: . In: Legal Tribune Online, 18.04.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3066 (abgerufen am: 06.10.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag