Verzichtet ein behinderter Mensch zu Lasten des Sozialhilfeträgers auf seinen Pflichtteil, ist dieses Vorgehen nicht sittenwidrig. Mit seinem Urteil setzt der BGH die Rechtsprechung zum so genannten Behindertentestament fort. So gerecht der Ansatz ist, das Risiko "Behinderung" auf die Gesellschaft abzuwälzen - diese Gerechtigkeit hat auch Grenzen. Von Franz Dillmann.
Private und öffentliche Interessen gehen oft verschiedene Wege. Das Recht hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jeder Einzelne seinen ihm möglichen Beitrag für die Allgemeinheit leistet. So darf Wohlstand nicht ausschließlich privatisiert und eine schicksalhafte Belastung wie Krankheit, Pflege oder Behinderung nicht vollständig sozialisiert werden.
Zwischen diesen Polen bewegt sich auch der Konflikt Erbrecht versus Sozialhilfe. Wegen der grundrechtlich geschützten Testierfreiheit nach Art. 2 Abs. 1, 14 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) darf jeder über seinen Nachlass verfügen, wie er es will. Ob und inwieweit ihm dies jedoch zu Lasten der Allgemeinheit gestattet sein soll, ist eine Frage von fast hamletschem Ausmaß.
Bei drohendem Zugriff des Sozialhilfeträgers werden viele Eltern kreativ
Es ist ein verständlicher Wunsch vieler Familien: Das Erbe soll zusammen gehalten werden. Besonders fantasievolle testamentarische Konstruktionen werden gewählt, wenn die Eltern eines behinderten Kindes ihren Nachlass wirksam vor dem Zugriff des Sozialhilfeträgers abschotten wollen, der die Kosten etwa für Betreuungsmaßnahmen und Lebensunterhalt des Kindes alleine trägt. Dazu setzen sich etwa die Eltern gegenseitig zu Alleinerben für den Fall des Todes ein und die gemeinsamen Kinder unter Verzicht auf ihren Pflichtteil als Nacherben.
Über eine solche testamentarische Gestaltung hat nun der 4. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) entschieden (Urt. v. 19.01.2011, Az. IV ZR 7/10): Im konkreten Fall hatten die Eltern eines behinderten Kindes 2006 ein notarielles gemeinschaftliches Testament errichtet, in dem sie sich gegenseitig als Alleinerben einsetzten. Schlusserben sollten die drei Kinder sein, von denen eines behindert ist. Diese erhält seit 1992 vom klagenden überörtlichen Sozialhilfeträger Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach §§ 53 ff. Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) in Form der Übernahme von Wohnheimkosten von zuletzt etwa 3000 Euro monatlich.
Die lernbehinderte geschäftsfähige Tochter wurde für den Schlusserbfall, also bei Versterben beider Eltern als so genannte nicht befreite Vorerbin eingesetzt. Sie wird deshalb über den Nachlass später nicht frei verfügen können, sondern durch die Einsetzung eines Nacherben beschränkt sein. Im vorliegenden Fall sind dies die beiden Geschwister, die jeweils zu Voll-Miterben für den Schlusserbfall vorgesehen sind.
Der Bruder der behinderten Tochter wurde als ihr Testamentsvollstrecker bestimmt. Er sollte seiner Schwester aus den ihr zustehenden Erträgen des Nachlasses nach seinem Gusto solche Geld- und Sachleistungen zufließen lassen, an die der Sozialhilfeträger nicht herankommt. Im Anschluss an das Testament verzichteten alle drei Kinder in einem gesonderten Vertrag auf ihren Pflichtteil. Die Mutter verstarb noch am gleichen Tag.
Sittenwidrigkeit setzt der Testierfreiheit Schranken
Im Jahr 2008 erließ der Sozialhilfeträger einen amtlichen Bescheid. Darin leitete er zum Zwecke der Abgeltung der aus öffentlichen Mittel getragenen Kosten für die behinderte Tochter deren Pflichtteilsanspruch nach § 93 SGB XII auf sich über. Dieses Rechtskonstrukt stattet die zuständige Behörde mit den gleichen Rechten aus wie den vorherigen Rechtsinhaber, hier also die Tochter. Zweck ist die Wiederherstellung des so genannten Nachranges der Sozialhilfe: Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB XII erhält keine Sozialhilfe, wer sich vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens selbst helfen kann.
Nach Eintritt des Erbfalls verklagte der Sozialhilfeträger den Vater vor dem Zivilgericht: Der Pflichtteilsverzicht sei gemäß § 138 BGB sittenwidrig und damit nichtig. Dieser habe nur dazu gedient, ihn nach dem Tod seiner Frau finanziell abzusichern und eine Verwertung des beträchtlichen Vermögens durch den Sozialhilfeträger zu verhindern.
Hintergrund dieser Begründung des Sozialhilfeträgers ist, dass die Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB der Privatautonomie damit auch der Testierfreiheit Schranken setzt. Der Begriff der "guten Sitten" verweist auf herrschende moralische Anschauungen. Maßgeblich sind die Werte, wie sie sich in der gültigen Rechtsordnung, vor allem im GG widerspiegeln. Die Sittenwidrigkeit kann sich auch aus einer Gesamtschau ergeben, wobei Inhalt, Beweggrund und Zweck unter die Lupe zu nehmen sind.
BGH: Bei Leistungen an Behinderte ist Vermögenseinsatz auf das Zumutbare beschränkt
Im konkreten Fall hielt der BGH den Vorgang nach einer Gesamtschau nicht für sittenwidrig und bestätigte die Klageabweisung der beiden Vorinstanzen: Weder das Testament noch der Pflichtteilsverzicht verstießen gegen die guten Sitten. Die Überleitung des Pflichtteilsanspruches durch den Kläger ginge folglich ins Leere. Es handele sich auch nicht um einen Vertrag zu Lasten Dritter, wie die klagende Behörde meinte.
Das Urteil baut zunächst auf einer schon gefestigten Rechtsprechung zum so genannten Behindertentestament auf und entwickelt diese weiter zu Lasten der Sozialhilfe. Schon vor zwanzig Jahren hatte der BGH erbrechtliche Regelungen, die den Nachlass des behinderten Kindes zu seinen Lebzeiten vom Zugriff des Sozialhilfeträgers entziehen, nicht als sittenwidrig eingestuft (BGH, Urt. v. 21.3.1990, Az IV ZR 169/89) und dies in mehreren nachfolgenden Urteilen bestätigt.
Die Testierfreiheit sei vorrangig, weil das Nachrangprinzip bei der Sozialhilfe in Bezug auf behinderte Menschen in erheblichen Umfang durchbrochen sei und daher nicht die für einen Maßstab der Sittenwidrigkeit erforderliche Prägekraft habe. Bei Leistungen für behinderte Menschen sei der Vermögenseinsatz auf das Zumutbare beschränkt. Vor allem die Überleitung von Unterhaltsansprüchen, insbesondere gegen die Eltern des behinderten Kindes, sei nur in sehr beschränkten Umfang möglich.
Senat übersieht Architekturfunktion des Nachrangprinzips fürs Sozialhilferecht
Der 4. Senat überträgt die bisherige Rechtsprechung zum Behindertentestament nunmehr auf erbrechtliches Handeln. Die Erbrechtsgarantie aus Art. 14 Abs. 1 GG enthalte als Pendant die "negative Erbfreiheit": Niemand sei verpflichtet, zu erben. Auch hinsichtlich des Pflichtteilsverzichts habe der im SGB XII unvollkommen ausgestaltete Nachrang nicht die hinreichende Prägekraft. Im Übrigen werfen die Richter die in Art. 6 GG geschützte familiäre Solidarität in die Waagschale: Hätte die behinderte Tochter nicht verzichtet, hätte sie sich den Wünschen der ganzen Familie entgegengestellt.
Indem sie seine schwache Ausgestaltung gebetsmühlenartig beschwören, wischen die Richter das Subsidiaritätsprinzip in der Behindertensozialhilfe allerdings ein wenig zu forsch vom Tisch. Überdies scheint der Senat im Sozialhilferecht nicht ganz sattelfest zu sein; so wirft er auf Seite 17 des Urteils die maßgeblichen von ihm zitierten Vorschriften des SGB XII (§ 92 und § 94 SGB XII) munter durcheinander.
Es ist zwar richtig, dass Unterhaltsansprüche volljähriger behinderter Menschen gegen ihre Eltern per Gesetz nur in Höhe von maximal knapp 50 Euro monatlich auf den Sozialhilfeträger übergehen, und zwar selbst bei Einkommensmillionären. Ferner trifft es zu, dass bei minderjährigen behinderten Menschen für wichtige Maßnahmen, insbesondere heilpädagogische oder schulische, sowie generell für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation behinderter Menschen oder zur Förderung von Arbeit in einer Behindertenwerkstatt Einkommen auch der Eltern nur in Höhe der häuslichen Ersparnis gefordert wird, und das Vermögen ohnehin vollständig unangetastet bleibt.
Grundsätzlich gilt aber nach §§ 19 Abs. 3, 90 Abs. 1 SGB XII darüber hinaus, dass über einen Betrag von 2.600 Euro das gesamte verwertbare Vermögen einzusetzen ist. Dabei werden unter anderem nur ein angemessener Hausrat, Familienstücke und ein selbst bewohntes angemessenes Hausgrundstück geschont. Die Härteklausel des § 90 Abs. 3 SGB XII wird bei lebenslangen, öffentlich finanzierten Wohnheimaufenthalten zudem eng ausgelegt. Der Nachranggrundsatz ist ein Architekturprinzip des Sozialhilferechts; dies gilt auch für die Eingliederungshilfe, auch wenn es dort ein wenig auf tönernen Füßen steht.
Wachsende Ausgaben der Kommunen zwingen zu einer Änderung des Sozialhilferechts
In den unteren Instanzen finden sich Urteile, die zu Recht die Sittenwidrigkeit eines Erb- bzw. Pflichtteilsverzicht annehmen. In Anlehnung an die für die Sittenwidrigkeit von Unterhaltsverzichtsverträgen zwischen Ehegatten entwickelten Grundsätze sei dies zumindest dann der Fall, wenn der Verzichtende sowohl im Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts als auch im Zeitpunkt des Erbfalles hilfebedürftig ist und den Beteiligten dies bekannt war (so etwa der Verwaltungsgerichtshof Baden Württemberg, Urt. v. 08.06.1993, Az. 6 S 1068/92).
Dem hält der BGH entgegen, dass beim Unterhaltsverzicht auf eine bereits bestehende Vermögensposition verzichtet wird, während beim Erb- oder Pflichtteilsverzicht lediglich eine Erwerbschance vereitelt werden würde. Im aktuell entschiedenen Fall lagen zwischen Aussicht und Haben jedoch nur wenige Stunden, nämlich vom Vertragschluss bis zum Tod der Mutter. Dieses Faktum fiel in der eher einseitigen Gesamtschau des Senats unter den Tisch.
Eigentum verpflichtet, so steht es in Art. 14 Abs. 2 Satz 1 GG. Von 2000 bis 2010 wurden in Deutschland etwa zwei Billionen Euro vererbt. Allein im Jahr 2009 wurden für Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach der Bundesstatistik ca. 13,28 Milliarden Euro aufgewendet, denen im Rahmen des Nachranges erzielte Einnahmen von 1,31 Milliarden Euro gegenüberstanden. Angesichts dieser allein von den Kommunen zu schulternden wachsenden Ausgaben lohnt es sich, über eine Änderung des SGB XII nachzudenken, um den Zugriff auf hohe Einkommen der Eltern oder hohe Vermögen wieder zu erleichtern.
Beispielsweise könnte § 94 Abs. 2 SGB XII so wie die bis noch 2002 gültige Regelung des § 91 BSHG gestaltet werden, die im Rahmen einer Billigkeitsentscheidung in weit größerem Umfang einen Regress der Sozialhilfekosten bei weit überdurchschnittlich verdienenden Eltern erlaubte. Auch der Einsatz des Vermögens bei den Maßnahmen des § 92 Abs. 2 SGB XII wäre zu überlegen. Entsprechende Änderungen des SGB XII könnten dem Nachranggrundsatz so wieder zu einer auch den BGH beeindruckenden Strahlkraft verhelfen.
Franz Dillmann ist Verwaltungsjurist und leitet die Rechtsabteilung eines überörtlichen Sozialhilfeträgers, der in dem geschilderten Fall Kläger war. Der Autor publiziert regelmäßig zu sozialrechtlichen Themen. Der vorliegende Artikel spiegelt seine persönliche Meinung wider.
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Testierfreiheit und Sozialhilfe: . In: Legal Tribune Online, 25.02.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2628 (abgerufen am: 16.10.2024 )
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