Darf man Nationalspieler Antonio Rüdiger wegen seiner Tauhid-Finger-Geste in Verbindung mit Islamismus bringen? Nein sagen Rüdiger und der DFB, die Strafanzeige gegen Julian Reichelt erstattet haben. Yves Georg zu den Erfolgsaussichten.
Vor rund zwei Wochen, zum Beginn des Ramadan (11. März), veröffentlichte der deutsche Nationalspieler Antonio Rüdiger bei Instagram ein Bild, in dem er in traditioneller islamischer Gebetskleidung mit nach oben ausgestrecktem Zeigefinger seiner erhobenen rechten Hand ("Tauhid-Finger") auf einem Gebetsteppich kniete. Unter dem Bild stand "Ramadan Mubarak to all Muslims around the world. May the almighty accept our fasting and prayers #AlwaysBelieve".
Dieses Bild teilte der ehemalige BILD-Chefredakteur Julian Reichelt anlässlich der Bekanntgabe der "Startelf" des Länderspiels Deutschlands gegen Frankreich am vergangenen Samstag (23. März) unter Beteiligung Rüdigers durch das "DFB-Team" bei X (vormals Twitter) ebendort mit dem Post "Islamismus heute Abend in der deutschen Start-Elf. Das ist die Ideologie, die alles mit Regenbogen-Farben vom Dach wirft und Frauen steinigt. Antonio Rüdiger sollte uns mehr besorgen als ein Nike-Trikot. #FRAGER". Tags darauf legte er nach mit einem Post, der das von Rüdiger veröffentlichte Bild um eine Broschüre des Bundesamts für Verfassungsschutz ergänzte, in der ein Bild von die "Tauhid"-Geste zeigenden IS-Kriegern mit der Bildunterschrift "IS-Kämpfer zeigen den sogenannten IS-Finger"versehen ist. Dazu schrieb Reichelt: "Für alle, die beim Islamisten-Gruß von Antonio Rüdiger keinen Islamismus erkennen wollen: Der Verfassungsschutz nennt diese Geste den 'IS-Finger' und wertet den Zeigefinger als klares Zeichen für Islamismus. Man kann es nicht schönreden, der DFB muss sich dazu äußern."
Der tat, was von ihm verlangt wurde, wenn auch wohl anders, als von Reichelt erwartet: Auf dessen Posts erstatteten sowohl Rüdiger als auch der DFB Strafanzeige "wegen Beleidigung bzw. Verleumdung, verhetzender Beleidigung sowie Volksverhetzung". Gegenüber der 'Bild' teilten Rüdigers Anwälte mit, er sei "als überzeugter Gläubiger ein friedliebender Mensch", der jede Art der Gewalt ablehne. Die Geste als "Islamisten-Gruß" zu werten, sei "falsch, verkürzt und bewusst polarisieren". Es handle sich um die Tauhid-Geste, die sinngemäß bedeutet: "Es gibt keinen Gott außer Allah".
Ist nach der Strafanzeige nun mit einer Anklage zu rechnen?
Verleumdung und Beleidigung
Am einfachsten liegen die Dinge beim Vorwurf der Verleumdung (§ 187 StGB). Denn die fordert eine Behauptung unwahrer Tatsachen – in Abgrenzung zu Werturteilen –, an der es fehlt. Soweit die Äußerungen Reichelts einen Tatsachenkern enthalten, ist er wahr: Der Islamismus diskriminiert Personen anderer sexueller Orientierung, in islamischen Republiken werden Frauen (und etwa auch gleichgeschlechtlich Orientierte) gesteinigt, und das Bundesamt für Verfassungsschutz bezeichnet den "Tauhid-Finger" in der Tat als "IS-Finger" und kategorisiert ihn als islamistische Symbolik. Im Übrigen behauptet Reichelt nicht deskriptiv, sondern bewertet normativ.
Nicht ganz so trivial ist demgegenüber der Vorwurf der Beleidigung (§ 185 StGB): Sie erfordert einen rechtswidrigen Angriff auf die Ehre einer anderen Person durch die vorsätzliche Kundgabe ihrer Miss- oder Nichtachtung.
Kundgabe der Nichtachtung?
Schon hieran wird man zweifeln dürfen: Reichelt bringt die Bekanntgabe der "Startelf" der Fußball-Nationalmannschaft mit dem Bild Rüdigers zusammen und kommentiert beides dahin, an besagtem Abend sei "Islamismus [...] in der deutschen Start-Elf" – den er als "Ideologie, die alles mit Regenbogen-Farben vom Dach wirft und Frauen steinigt" beschreibt, weshalb Rüdiger "uns" besorgen sollte. Auf den ersten Blick scheint er ihn dadurch als Person mit der von ihm scharf kritisierten Ideologie des Islamismus gleichzusetzen ("Islamismus [...] in der deutschen Start-Elf"). Andererseits sind auch alternative Deutungen nicht ausgeschlossen. So lässt sich der Post auch dahin verstehen, dass eine Person, die islamistisch konnotierte Gesten nutzt, nach der Ansicht Reichelts damit stets auch selbst – wenn auch ungewollt – die islamistische Ideologie symbolisiert, ihr eine Bühne bietet, und deshalb zu besorgen ist. Auch solch eine Interpretation, in der wohl kein ehrabschneidender Ausdruck der Nichtachtung Rüdigers als Person läge, darf angesichts der überragenden Bedeutung der Meinungsfreiheit nicht vorschnell verworfen werden.
Wahrnehmung berechtigter Interessen
Legt man gleichwohl die erstgenannte Bedeutung zugrunde, liegt die Gretchenfrage, wie regelmäßig bei Äußerungsdelikten, im Bereich der Rechtswidrigkeit: So ist eine Beleidigung nach dem auch verfassungsrechtlich verankerten speziellen Rechtfertigungsgrund des § 193 StGB nicht rechtswidrig, wenn sie in Wahrnehmung berechtigter Interessen erfolgt. Strafbar ist sie deshalb nur, wenn auf Grundlage einer Auslegung der inmitten stehenden Äußerung nach ihrem objektiven Sinngehalt das in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG normierte Allgemeine Persönlichkeitsrecht ("Ehre") des Betroffenen die in Art. 5 Abs. 1 Fall 1 GG normierte Meinungsfreiheit des Äußernden im Rahmen einer Güter- und Interessenabwägung überwiegt.
Keine Schmähkritik
Entbehrlich ist eine solche Abwägung lediglich bei Äußerungen, die sich als Angriff auf die Menschenwürde, als Formalbeleidigung oder als Schmähung darstellen. Zu beachten ist dabei, dass die Meinungsfreiheit "als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt", "für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung [...] schlechthin konstituierend" und "in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt" ist, wie es im bekannten Lüth-Urteil des BVerfG heißt. Daher sind strenge Maßstäbe anzulegen. Meinungen fallen in den grundrechtlichen Schutzbereich, gleichviel, ob sie wahr oder unwahr, begründet oder grundlos, emotional oder rational, wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos, sind. Sie dürfen auch scharf und überzogen geäußert werden; grundsätzlich geschützt sind nach der Rechtsprechung des BVerfG sogar rechtsextremistische Meinungen, weil der Äußernde die verfassungsmäßigen Wertsetzungen nicht teilen muss (NJW 2010, 2193). Eine sog. Schmähkritik liegt demgegenüber nur vor, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht.
Das wird man vorliegend nicht annehmen können. Reichelt geht es offensichtlich um eine – wenn auch polemische – Kritik am Islamismus, die er an der an ein Millionenpublikum (8,7 Mio. Follower) gerichteten Geste Rüdigers ("Tauhid-Finger") exemplifiziert. Dass die kritische Auseinandersetzung mit der islamistischen Ideologie im Hintergrund, die Verächtlichmachung Rüdigers als Person hingegen im Vordergrund stünde, wird man nicht ernstlich behaupten können.
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Abwägung lässt Meinungsfreiheit überwiegen
Bei der demnach vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht Rüdigers und der Meinungsfreiheit Reichelts wird man in den Blick zu nehmen haben, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz den von Rüdiger prominent gezeigten "Tauhid-Finger" in der Tat in einer öffentlich zugänglichen Broschüre als "sogenannten IS-Finger" bezeichnet. Und auch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz, auf das Reichelt sich beruft, qualifiziert die Geste als "islamistische Symbolik" und bringt sie mit dem Salafismus in Verbindung.
Andererseits darf die Ikonographie nicht aus dem Blick geraten: Für Muslime symbolisiert die Geste die Einheit und Einzigartigkeit Gottes. Ursprünglich unverfänglich, wurde sie in den vergangenen Jahren von radikalen Islamisten vereinnahmt und missbraucht. Auch das Bundesinnenministerium hat sich auf eine dpa-Anfrage dahin erklärt, sie sei "als Glaubensbekenntnis zu verstehen und insofern mit Blick auf die öffentliche Sicherheit als unproblematisch einzuordnen", könne allerdings "in bestimmten Kontexten als Zeichen einer salafistischen bzw. islamistischen Radikalisierung angesehen werden, wenn Akteure sich bewusst dieser Mehrdeutigkeit bedienen."
Allerdings erfährt jede Äußerung ihre rechtliche Einordnung im Spannungsfeld zwischen Persönlichkeitsschutz und Meinungsfreiheit vor allem vor dem Hintergrund ihrer kommunikativen Bedeutung im sozialen Kontext, den der sich Äußernde nicht beeinflussen kann, sondern hinnehmen muss: Rüdiger akzentuiert eine Geste, deren objektiver Erklärungswert sich ungeachtet ihrer ursprünglichen Unverfänglichkeit angesichts ihrer radikalistischen Okkupation gewandelt, jedenfalls aber erweitert hat, zumal in einer Art, die selbst Verfassungsschutzbehörden zu Warnungen veranlasst hat. Mit Blick auf die überragende Bedeutung der Meinungsfreiheit für die freiheitlich demokratische Grundordnung und unter Berücksichtigung der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten sog. Wechselwirkungslehre – nach der das freiheitsbeschränkende Gesetz (hier also § 185 StGB) selbst wieder im Lichte der Meinungsfreiheit begrenzend auszulegen ist – dürfte die Abwesenheit jeglicher Distanzierung die stark überspitzte Kritik als in Ergebnis gerechtfertigt erscheinen lassen.
Vieles spricht dafür, dass auch scharfe Kritik an der öffentlichen Verwendung eines zwar auch anders deutbaren, von Verfassungsschutzbehörden aber als islamistisch qualifizierten Symbols durch ein reichweitenstarkes Vorbild von Millionen gerade junger Menschen verfassungsrechtlich zulässig und deshalb auch nicht strafbar ist. Dies gilt umso mehr, als der Reichelt'sche Post mit seiner Kritik an der islamistischen Diskriminierung von Frauen ("Steinigung") und Personen anderer sexueller Identität ("Regenbogen-Farben") bei aller Schärfe im Ton verfassungsrechtliche Akkorde spielt.
Um nicht missverstanden zu werden: Rüdiger muss sich der islamistischen Vereinnahmung der Geste keineswegs durch eigene Distanzierung beugen – er muss allerdings hinnehmen, wenn andere diese Ambivalenz zum Anlass für gesalzene Kritik nehmen. Das gilt jedenfalls so lange, wie sie sein Verhalten nicht wider besseres Wissen zum bloßen Vorwand für seine Diffamierung ausnutzen.
Verhetzende Beleidigung und Volksverhetzung
Auch den Tatbestand der verhetzenden Beleidigung (§ 192a StGB) verwirklichen Reichelts Äußerungen nicht. Weil er Rüdiger nicht etwa dessen Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeit in der staatlichen Gemeinschaft abspricht, fehlt ihnen jedenfalls die Eignung, Rüdigers Menschenwürde anzugreifen.
Schließlich hat sich Reichelt auch nicht der Volksverhetzung (§ 130 StGB) strafbar gemacht. Man kann schon nicht annehmen, dass seine Posts etwa gegen Muslime oder gegen Rüdiger wegen seines Muslimseins zum Hass – und nicht nur, was nicht genügt, zur Ablehnung oder Verachtung – aufstacheln, zur Gewalt auffordern oder die Menschenwürde angreifen.
Resümee
Auf Grundlage des öffentlich Bekannten spricht alles dafür, dass ein auf die Anzeige Rüdigers und des DFB etwa eingeleitetes Ermittlungsverfahren gegen Reichelt gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt werden wird. Keineswegs ironisch, sondern ein besonderer Ausdruck der Geltungskraft des verfassungsrechtlichen Wertesystems ist es, dass der Rechtsstaat – Rosa Luxemburg und Ernst-Wolfgang Böckenförde sei Dank – seine schützende Hand gerade über diejenigen hält, die seine Grundlagen sonst durch populistische Hetze infrage zu stellen versuchen. Schon Voltaire wusste, dass man die Meinungen anderer nicht teilen muss, um dafür zu kämpfen, dass sie sie frei äußern dürfen.
Dr. Yves Georg ist Strafverteidiger und Partner der Kanzlei Schwenn Kruse Georg Rechtsanwälte in Hamburg (www.rechtsanwalt-strafrecht.com).
Rüdiger und DFB erstatten Strafanzeige gegen Julian Reichelt: . In: Legal Tribune Online, 31.03.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54229 (abgerufen am: 15.10.2024 )
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