Ab dem 1. April kann man sich auch in Baden-Württemberg mit einer Landesverfassungsbeschwerde an den Staatsgerichtshof wenden. Im LTO-Interview erklärt dessen Präsident Eberhard Stilz, welche Anliegen Bürger künftig zu ihm und seinen Kollegen statt nach Karlsruhe tragen können und warum es für sein Gericht die Mutwillensgebühr geben wird, die sich BVerfG-Präsident Andreas Voßkuhle so sehr wünscht.
LTO: Warum hat Baden-Württemberg nun eine Landesverfassungsbeschwerde eingeführt? Als Bürger könnte man sich doch genauso gut direkt an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wenden?
Stilz: Der Landesgesetzgeber hat sich entschlossen, seine eigene Verfassung ernst zu nehmen und deren Garantie gegenüber dem Bürger nicht länger einem Organ des Bundes zu überlassen.
LTO: Gab es bisher eine Rechtsschutzlücke? Gibt es also Grundrechts-Anliegen, die Bürger nun vor den Staatsgerichtshof bringen können, aber nicht vor das BVerfG?
Stilz: Das BVerfG kann auch Akte der öffentlichen Hand des Landes nur am Maßstab des Grundgesetzes (GG) messen. Zwar hat das Land die Grundrechte auch zum Bestandteil der Landesverfassung gemacht; als solche sind sie aber Landesrecht. Die Landesverfassung enthält außerdem eigene Rechte und staatbürgerliche Zusicherungen. Zudem sind dem Bundesrecht vergleichbare Rechte teilweise mit abweichendem Wortlaut versehen oder in einen anderen Zusammenhang gestellt.
LTO: Zum Beispiel?
Stilz: Nehmen Sie nur Art. 1 Abs. 1 unserer Landesverfassung, der substantiell anders als das Grundgesetz formuliert: "Der Mensch ist berufen, in der ihn umgebenden Gemeinschaft seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des christlichen Sittengesetzes zu seinem und der anderen Wohl zu entfalten."
In Art. 2 Abs. 2 heißt es: "Das Volk von Baden Württemberg bekennt sich darüber hinaus zu dem unveräußerlichen Menschenrecht auf die Heimat."
Sehr eigenständig und detailliert sind etwa auch der Abschnitt II über Religion uns Religionsgemeinschaften sowie der Abschnitt II über Erziehung und Unterricht unserer Landesverfassung.
LTO: Sie hatten es eben bereits angedeutet: Anders als andere Landesverfassungen hat die baden-württembergische keinen eigenen ausführlichen Grundrechtsteil, sondern verweist auf das GG. Macht es da überhaupt Sinn, eine Landesverfassungsbeschwerde einzuführen?
Stilz: Die baden-württembergische Verfassung verweist nicht nur auf das GG, sondern macht sich dessen Grundrechte als Landesrecht zu eigen. Das ist ein wichtiger Unterschied. Die Formulierung in Art. 2 Abs. 1 lautet: "Die im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland festgelegten Grundrechte und staatsbürgerlichen Rechte sind Bestandteil dieser Verfassung und unmittelbar geltendes Recht."
"Unser Maßstab ist ausschließlich die Landesverfassung"
LTO: Was kann Gegenstand einer Landesverfassungsbeschwerde sein?
Stilz: Alle Akte der öffentlichen Gewalt des Landes, also beispielsweise Verwaltungsakte und Gerichtsentscheidungen, aber grundsätzlich auch Rechtssätze, also etwa Gesetze und Rechtsverordnungen. Eine Verfassungsbeschwerde ist aber, genauso wie auch vor dem Bundesverfassungsgericht, stets an weitere Voraussetzungen geknüpft. Der Rechtsweg muss erschöpft sein; das heißt, der Bürger muss zunächst die normalen Zivil-, Straf- oder Verwaltungsgerichte bemühen. Zudem muss er von der Maßnahme selbst und unmittelbar betroffen sein. Deshalb kann er gegen ein Gesetz nur dann Verfassungsbeschwerde einlegen, wenn ihn dieses, ohne dass es eines Umsetzungsakts bedarf, in seinen Grundrechten betrifft. Ein Gastwirt ist beispielsweise von dem Nichtraucherschutzgesetz betroffen.
LTO: Und was ist der Maßstab des Staatsgerichtshofs?
Stilz: Ausschließlich die Landesverfassung, während Maßstab für das Bundesverfassungsgericht nur das GG ist.
2/2: "Wir werden nicht gewürgt, sondern bereichern uns wechselseitig"
LTO: Die FDP hat die Einführung einer Landesverfassungsbeschwerde abgelehnt. Die Bürger hätten genügend Möglichkeiten, ihre Rechte durchzusetzen, etwa vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg und vor dem BVerfG. Der frühere Justizminister Ulrich Goll fragte in der parlamentarischen Beratung, ob es sinnvoll sei dieses System nach unten durch eine Landesverfassungsbeschwerde zu erweitern, obwohl die Baden-Württemberger das BVerfG in Karlsruhe mit seinem ausgezeichneten Grundrechtsschutz vor der Nase hätten. Was halten Sie von dieser Kritik?
Stilz: Sie verkennt den soeben geschilderten Unterschied im Maßstab: Auch der EGMR hat einen ganz eigenen Maßstab, nämlich die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Mit derselben Logik ließe sich fragen: Wozu brauchen wir eine Landesverfassung mit ihren vielen Besonderheiten, wo wir doch das GG und die EMRK haben? Wenn wir uns aber – mit gutem Grund – für eine eigene Verfassung entscheiden, die dem Bürger Rechte garantiert, dann sollte ein Bundesland, das ja Staatsqualität hat, auch dafür sorgen, dass sich seine Bürger vor einem eigenen Verfassungsgericht darauf berufen können.
LTO: Auch der Staatsgerichtshof ist an das GG gebunden und muss seine Grundrechte-Rechtsprechung daher an der von Karlsruhe ausrichten. Tut er das nicht, kann das BVerfG die Entscheidungen aufheben. Der Hamburger Rechtswissenschaftler Stefan Oeter schrieb dazu: Die Landesverfassungsgerichte seien "unrettbar im Würgegriff der Rechtsprechung des BVerfG". Sehen Sie das genauso kritisch oder bleibt Ihnen und Ihren Kollegen doch mehr Spielraum?
Stilz: Wir werden nicht gewürgt, sondern bereichern uns wechselseitig. Es gibt keine Über- und Unterordnung in dem Verhältnis zwischen den Verfassungsgerichten des Bundes und der Länder, sondern es existieren jeweils unabhängige Verfassungsorgane, die für unterschiedliche Verfassungsräume Verantwortung tragen.
"Bislang arbeiten wir praktisch ohne Mitarbeiter"
LTO: Können Bürger dann künftig wählen, ob Sie eine Grundrechtsverletzung in Stuttgart oder in Karlsruhe geltend machen?
Stilz: Ja, der Bürger hat die Wahl, allerdings nur alternativ. Hat er bereits Verfassungsbeschwerde zum BVerfG erhoben, ist die Landesverfassungsbeschwerde unzulässig; erhebt er eine Bundesverfassungsbeschwerde während eines laufenden Verfahrens vor dem Staatsgerichtshof, dann wird eine ursprünglich zulässig gewesene Landesverfassungsbeschwerde dadurch unzulässig. Diese Regelung zeigt, dass der Vorwurf nicht trifft, hier werde der Rechtsschutz verdoppelt.
LTO: Aber nach einer erfolglosen Landesverfassungsbeschwerde stünde theoretisch noch der Gang nach Karlsruhe offen?
Stilz: Theoretisch, aber nicht praktisch, weil die auch für das Bundesverfassungsgericht geltende Frist von einem Jahr dann längst verstrichen sein wird.
LTO: Erscheint die Verfassungsbeschwerde nach einer ersten Prüfung unzulässig oder offensichtlich unbegründet, kann der Staatsgerichtshof vorab für die weitere Bearbeitung eine Gebühr in Höhe von bis zu 2.000 Euro verlangen. Ist das eine Mutwillensgebühr wie sie dem Präsidenten des BVerfG Andreas Voßkuhle vorschwebt?
Stilz: Die Regelung soll verhindern, dass der Staatsgerichthof mit Beschwerden überhäuft wird, die niemandem nützen. Ähnlich übrigens die Einführung einer Kammer aus drei Richtern, die unzulässige oder offensichtlich unbegründete Beschwerden durch einen einfachen Beschluss verwerfen kann – eine Regelung, die der prozessualen Lage beim BVerfG entspricht, die aber die anderen Bundsländer noch nicht übernommen haben.
LTO: Mit wie vielen Verfassungsbeschwerden rechnen Sie? Haben Sie dafür mehr Mitarbeiter bekommen?
Stilz: Die Gesetzesbegründung geht von ca. 150 Verfahren im Jahr aus. Das könnte nach den Erfahrungen bei anderen Landesverfassungsgerichten realistisch sein. Natürlich bedarf es dazu einiger Mitarbeiter, zumal die Richter des Staatsgerichtshofs selbst lediglich ein Sitzungsentgelt erhalten, aber nicht besoldet werden. Nachdem der Staatsgerichtshof bislang – bei meist nur bis zu zwei Eingängen pro Jahr – praktisch keine Mitarbeiter hatte, werden wir künftig die Mittel haben, um bis zu zwei Mitarbeiter abordnen zu lassen und zudem eineinhalb Kräfte für die Geschäftsstelle.
Eberhard Stilz, Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart a. D., ist seit 1999 Richter am Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg und seit 2002 dessen Präsident.
Die Fragen stellte Claudia Kornmeier.
Eberhard Stilz, Grundrechtsklage vor dem Staatsgerichtshof: "Wir wollen keine nutzlosen Beschwerden" . In: Legal Tribune Online, 01.04.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8433/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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