Carola Rackete hatte die Pflicht, die Menschen in Seenot zu retten. Ein Anlaufen in Libyen war keine Option. Nun ist die Souveränität Italiens und die Not der Menschen an Bord gegeneinander abzuwägen, erklärt Valentin Schatz.
Carola Rackete, die Kapitänin der Sea-Watch 3, eines in den Niederlanden registrierten Schiffs der deutschen NGO Sea-Watch, wurde am Dienstag im italienischen Agrigent erneut einem Richter vorgeführt. Im Laufe des Tages wird der Haftrichter entscheiden, ob er einen bestehenden Hausarrest für Rackete aufhebt. Die Kapitänin hatte die Sea-Watch 3 am 29. Juni 2019 in den Hafen von Lampedusa gesteuert, um nach längerer Wartezeit 40 noch an Bord befindlichen Migranten die Ausschiffung in Italien zu ermöglichen.
Nun werden gegen die 31-Jährige mehrere Vorwürfe erhoben: Begünstigung der illegalen Einwanderung, Gehorsamsverweigerung gegenüber einem Kriegsschiff, Gewalt- oder Widerstandsakte gegen ein Kriegsschiff und verbotswidrige Navigation in italienischen Hoheitsgewässern. Tatsächlich hatte Rackete beim Einlaufen in den Hafen ein Boot der Finanzpolizei touchiert. Die Finanzpolizei ist in Italien militärisch organisiert und zählt dort zu den Streitkräften. Die Kapitänin gab vor dem Ermittlungsrichter an, das Schiff nicht gesehen zu haben.
Der italienische Innenminister Matteo Salvini hat bereits drastische Strafen für zivile Seenotretter ankündigt. Bisher endeten solche Strafverfahren aber regelmäßig mit einer Einstellung oder einem Freispruch. Das hat maßgeblich mit dem völkerrechtlichen Rahmen zu tun, in dem sich – nunmehr seit Jahren – immer wieder dasselbe Drama im Mittelmeer abspielt, ohne dass die notwendige politische Lösung in Sicht wäre.
Pflicht zur Seenotrettung
Mittlerweile dürfte die Pflicht zur Seenotrettung aus Artikel 98 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen von 1982 (SRÜ) und dem Völkergewohnheitsrecht allgemein bekannt sein. Sie ist unter anderem im Internationalen Übereinkommen zur Seenotrettung (SAR-Übereinkommen) und im Internationalen Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See weiter ausgestaltet. Die Pflicht zur Seenotrettung ist primär eine Pflicht von Staaten, durch ihr nationales Recht und durch dessen Durchsetzung dafür zu sorgen, dass Schiffe unter ihrer Flagge in Fällen von Seenot Hilfe leisten. Für ein niederländisches Schiff wie die Sea-Watch 3 gilt also insbesondere eine Rettungspflicht gegenüber den Flüchtlingen aus niederländischem Recht.
Es ist allgemein anerkannt, dass Seenot unter anderem alle Fälle von Gefahr für Menschenleben erfasst. Seenot ist dabei rein objektiv zu verstehen, weshalb es auf die Gründe, Umstände oder bewusste Herbeiführen der Situation nicht ankommt – ebenso wenig wie auf die Herkunft der Betroffenen. Dass die Boote, in denen Migranten von Libyen aus auf das Mittelmeer gelangen, regelmäßig nicht seetüchtig und/oder hoffnungslos überladen sind, ist ebenfalls unstrittig. Daher handelt es sich hier auch meist um klare Fälle von Seenot, in denen die Rettungspflicht greift.
Seenotfälle werden nach dem SAR-Übereinkommen von der Rettungsleitstelle (Maritime Rescue Coordination Centre, MRCC) koordiniert, in deren Search and Rescue Zone (SAR-Zone) sich der Vorfall ereignet. Durch die Unterstützung der EU und insbesondere Italiens hat seit 2018 nun auch Libyen eine Rettungsleitstelle MRCC und eine SAR-Zone in den Gewässern nördlich von Libyen, in denen zuvor Italien die Koordination von Rettungseinsätzen übernommen hatte. Auch im Fall der Sea-Watch 3 war zunächst das libysche MRCC in Tripolis zuständig.
Suche nach einem sicheren Hafen
Sind – wie im Fall der Sea-Watch 3 – im Einklang mit der Pflicht zur Seenotrettung Menschen gerettet worden, stellt sich die Frage, wo diese hingebracht werden sollen. Das SAR-Übereinkommen bestimmt in Regel 3.1.9 seiner Anlage, dass die Menschen an einen sicheren Ort (place of safety) zu verbringen und möglichst bald auszuschiffen sind. Leider ist der Begriff des sicheren Orts im SAR-Übereinkommen nicht genauer definiert, weshalb unklar ist, welcher Hafen anzusteuern ist – also ob etwa grundsätzlich der nächstgelegene sichere Hafen eine Aufnahmepflicht hat. Im Jahr 2004 hat die Internationale Schifffahrtsorganisation (IMO) Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen erlassen, aus denen klar wird, dass die Geretteten dort insbesondere nicht länger in Gefahr sein dürfen und ihre Versorgung gewährleistet werden muss. Die Richtlinien enthalten aber auch eine Verpflichtung, "eine Ausschiffung in Gebieten zu vermeiden, in denen das Leben und die Freiheit der Personen, die vorgeben, eine begründete Angst vor Verfolgung zu haben, in Gefahr wäre".
Im konkreten Fall hat das libysche MRCC der Sea-Watch 3 den Hafen von Tripolis als sicheren Ort angeboten. Dass Libyen wegen der dortigen humanitären Lage aber jedenfalls für europäische Schiffe keinesfalls als sicherer Ort in Frage kommt, steht außer Frage. Für Vertragsparteien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) muss der sichere Ort im Einklang mit ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen bestimmt werden. In seinem Urteil im Fall Hirsi Jamaa and Others v. Italy aus dem Jahr 2012 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Italien wegen eines "push-backs" auf See aufgegriffener Migranten nach Libyen verurteilt und unterem anderem einen Verstoß gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung aus Artikel 3 EMRK angenommen. Aus diesem Verbot folgt, dass Menschen nicht in Staaten verbracht werden dürfen, in denen ihnen eine solche Behandlung droht (sog. refoulement-Verbot). Nichts anderes gilt für eine Zurückschiebung in Staaten, aus denen wiederum eine Abschiebung in einen solchen Staat droht (sog. Kettenabschiebung). Weitere refoulement-Verbote ergeben sich aus anderen völkerrechtlichen Verträgen wie beispielsweise der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951.
Es kam rechtlich für die Sea-Watch 3 also nicht in Betracht, der Aufforderung des libyschen MRCCs Folge zu leisten und eine Bestrafung der Crew bereits hierfür stünde im Widerspruch zur EMRK. Im Gegenteil hätte die Crew der Sea-Watch 3 bei einer Rückführung möglicherweise mit dem Widerstand der Geretteten rechnen müssen. Im Mai 2019 hat ein italienisches Strafgericht in Trapani zwei Migranten freigesprochen, die sich im Juli 2018 dagegen gewehrt hatten, von der Vos Thalassa auf ein Schiff der libyschen Küstenwache gebracht zu werden. Das Gericht verwies unter anderem auf die seevölkerrechtliche Pflicht zur Seenotrettung und das refoulement-Verbot und nahm auf dieser Basis einen Fall von Notwehr an.
Verweigerung der Hafeneinfahrt
Bitten der Sea-Watch 3 gerichtet an Italien und Malta* um die Zuweisung eines sicheren Hafens blieben erfolglos, weshalb das Schiff in italienische Gewässer fuhr und dort abwartete. Aus dem Verbot, Gerettete zurück nach Libyen zu bringen, folgt aber nicht automatisch, dass diese stattdessen nach Italien zu bringen sind. Zwar war Lampedusa unzweifelhaft ein sicherer Ort und zudem auch der nächstgelegene geeignete Hafen, aber ein Recht auf Hafeneinfahrt und Ausschiffung ergibt sich hieraus nicht. Die meisten Häfen liegen in sogenannten inneren Gewässern, in denen die Küstenstaaten Souveränität genießen. Küstenstaaten dürfen daher grundsätzlich nach freiem Ermessen darüber entscheiden, ob sie ausländische Schiffe in ihre Häfen einfahren lassen wollen oder nicht.
Italien verfolgt derzeit eine strikte Politik der "geschlossenen Häfen" für die Schiffe ziviler Rettungsorganisationen. Wie ernst es dem italienischen Innenminister Salvini damit meint, zeigt ein skurriler Vorfall aus dem August 2018, in dem er dem italienischen Küstenwachenschiff U. Diciotti, das gerettete Menschen von der Vos Thalassa aufgenommen hatte, die Einfahrt in italienische Häfen verweigerte. Die Staatsanwaltschaft in Agrigent ermittelte daraufhin unter anderem wegen Freiheitsberaubung und Machtmissbrauchs gegen Salvini, dessen Immunität allerdings schlussendlich nicht aufgehoben wurde. Mittlerweile hat Salvini zudem ein neues Gesetz eingeführt, das unter Berufung auf Artikel 19(2)(g) SRÜ schon die Einfahrt in das italienische Küstenmeer unter Verstoß gegen italienische Einreisegesetze verbietet. Dieses Gesetz ist seevölkerrechtlich nicht unproblematisch – es kommt aber letztlich auf die Art und Weise seiner Anwendung an.
Das Völkergewohnheitsrecht kennt jedenfalls ein Nothafenrecht in Fällen, in denen eine konkrete Gefahr für das Schiff oder das Leben der sich an Bord befindlichen Menschen eine Hafeneinfahrt zwingend erfordert. Ob die Sea-Watch 3 sich aus völkerrechtlicher Sicht mit Erfolg auf dieses Recht berufen konnte, ist angesichts der bereits von den italienischen Behörden vorgenommenen Evakuierung mehrerer Geretteter unter anderem aus medizinischen Gründen unklar. Der EGMR hatte einen Eilantrag von Sea-Watch zum Anlegen in Italien vor einigen Tagen abgelehnt mit der Begründung, es bestehe keine akute Gefahr für die an Bord verbliebenen Menschen.
Verbotene Einfahrt in den Hafen
Die Sea-Watch 3 und die italienische Regierung befanden sich also in einer rechtlichen "Pattsituation". Ohne Angebot eines sicheren Orts und ohne eine konkret absehbare Lösung auf europäischer Ebene hat sich die Kapitänin für eine Einfahrt in den Hafen von Lampedusa ohne Erlaubnis von Seiten Italiens entschieden. Es bleibt abzuwarten, ob die italienische Regierung die Vorwürfe gegen Kapitänin Rackete auch unter dem Druck der deutschen Regierung aufrechterhält. Sollte es so kommen, liegt die Entscheidung beim Strafgericht in Agrigrent – allerdings mit offenem Ergebnis.
Anders als es die plakativen Aussagen von Matteo Salvini vielleicht erscheinen lassen, könnte die rechtliche Ausnahmesituation der Sea-Watch 3 nämlich durchaus auch auf das italienische Recht durchschlagen. So hat beispielsweise im Jahr 2009 dasselbe italienische Strafgericht in Agrigent, vor dem nun auch das Verfahren gegen Kapitänin Rackete stattfindet, die Verantwortlichen der Cap Anamur vom Vorwurf der Begünstigung der illegalen Einwanderung freigesprochen. Die Cap Anamur war damals zwar nicht ohne Erlaubnis in den Hafen eingelaufen, befand sich im Übrigen aber in einer ähnlichen Situation wie die Sea-Watch 3. Auch in diesem Fall verwies das Strafgericht auf die Pflicht zur Seenotrettung.
*Ursprünglich war an dieser Stelle die Rede davon, auch Spanien und Frankreich seien von Sea-Watch 3 direkt angefragt worden. Das ist allerdings informell nur über die Kommission geschehen. Klargestellt am 4. Juli, 9.57 Uhr.
Mit Material von dpa
Valentin Schatz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationales Seerecht und Umweltrecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht sowie am Institut für Internationales Seerecht und Seehandelsrecht an der Universität Hamburg.
Pflicht zu Helfen vs. Souveränität der Staaten: . In: Legal Tribune Online, 02.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36223 (abgerufen am: 06.10.2024 )
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