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Videoübertragung beim NSU-Prozess: Von Authentizität weit entfernt

von Prof. Dr. Dr. h.c. Heiner Alwart

30.04.2013

Mann filmt mit Kamera

© Alexey Klementiev - Fotolia.com

Nach der zweiten Vergabe der Presseplätze haben FAZ, Welt und FR keinen sicheren Zugang zum NSU-Prozess. Gleich mehrere Medien prüfen nun die Rechtsaussichten einer Klage auf Übertragung der Verhandlung in einen Nebenraum. Gestritten wird darüber seit Wochen, für einklagbar hält sie kaum jemand, für möglich einige. Für Heiner Alwart ist sie unzulässig. Und so sollte es auch bleiben. Ein Kommentar.

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"Der erste Schritt in Richtung amerikanische Verhältnisse"

Am kommenden Montag, den 6. Mai 2013 beginnt die öffentliche Hauptverhandlung gegen "Beate Z. u.a." wegen "Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung u.a." vor dem Oberlandesgericht (OLG) München – so ist jedenfalls zu hoffen. Immerhin will ein freier Journalist Verfassungsbeschwerde erheben, auch mehrere überregionale Medien, die keine Presseplätze erhalten haben, erwägen die Einleitung rechtlicher Schritte. Eine weitere Verschiebung wäre dann wahrscheinlich.

Das Gericht hat bei diesem spektakulären Verfahren naturgemäß nicht genügend Platz für alle, die gerne dabei sein würden. Es bemüht sich daher um eine willkürfreie, sachgerechte Vergabe der zur Verfügung stehenden Plätze, damit der wichtige Grundsatz der Öffentlichkeit unangetastet bleibt und die Hauptverhandlung nicht von vornherein unter dem bedrückenden Vorzeichen von Anfechtbarkeit und Vorläufigkeit steht.

Bekanntlich hatte sich der zuständige Richter bei der Akkreditierung zunächst für das Prioritätsprinzip entschieden. Dieses auch Windhundprinzip genannte Verfahren zogen die Medien teilweise geradezu ins  Lächerliche. Nach dem erfolgreichen Eilantrag der türkischen Zeitung Sabah beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat das OLG München in einem zweiten Anlauf die Plätze verlost. Nun suggerierten einige Presseorgane, die Durchführung einer „Lotterie“ sei der Justiz doch eigentlich unwürdig.

Acht Plätze für "werktäglich erscheinende Printmedien"

Das Losverfahren sah – ohne Differenzierung nach regionaler Reichweite oder intellektuellem Niveau der Zeitungen – lediglich acht Plätze für "ein werktäglich erscheinendes Printmedium" vor. Schon die ersten Reaktionen darauf zeigten, dass in Anbetracht des recht schmalen Presse-Kontingents die Diskussionen über eine zeitgleiche Videoübertragung in einen weiteren Raum nicht zur Ruhe kommen werden. Die im zweiten Anlauf nicht zum Zuge gekommene taz kündigte sofort an, zu prüfen, ob man gegen die Platzvergabe klage, um eine Videoübertragung in einen Nebenraum zu erwirken, wie die Medienvertreter schon seit Wochen fordern.

Ginge das nach geltendem Recht? Falls nicht, wäre eine solche Lösung nicht zumindest für die Zukunft wünschenswert? Der anstehende sogenannte NSU-Prozess wird sehr lange dauern, so dass der Gesetzgeber die notwendigen Voraussetzungen sogar noch mehr oder weniger rechtzeitig schaffen könnte.

In dem Verfahren gegen "Beate Z. u.a." sind gemäß richterlicher Verfügung "Ton-, Film- und Bildaufnahmen [...] vor und im Sitzungssaal im Rahmen einer Pool-Lösung bis zum Beginn der Sitzung gestattet." Das entspricht der Linie des BVerfG, wonach solche Aufnahmen vor Beginn der eigentlichen Sitzung geeignet sind, ein legitimes Informationsinteresse der Bürger zu befriedigen: "Derartige Bilder, gegebenenfalls auch die sie begleitende Geräuschkulisse, sind seit langem zum typischen Inhalt der Gerichtsberichterstattung im Fernsehen geworden und prägen mittlerweile entsprechende Erwartungen der Fernsehzuschauer", urteilten die Karlsruher Richter schon im Jahr 2007 (Beschl. v. 19.12.2007, Az. 1 BvR 620/07).

Der erste Schritt zum Gerichtsfernsehen nach amerikanischem Muster

Wenn aber am Montag die eigentliche Verhandlung beginnt, dann stehen die Kameraleute vor den geschlossenen Türen des Sitzungssaales. Müssten sie nun mit ansehen, wie die Kollegen der schreibenden Zunft in einem Nachbarraum verschwänden, um das weitere Geschehen dort am Bildschirm zu verfolgen und auf dieser Basis ihre Reportagen zu schreiben? Ihnen würde sich zwangsläufig die Frage aufdrängen, warum nicht sie auf ihre Art von der Hauptverhandlung berichten, nämlich die Bilder in jedes Wohnzimmer übertragen dürfen.

Das macht doch den Kern ihrer journalistischen Tätigkeit aus. Sie brauchen die Bilder, um übliche Fernsehformate bedienen und den Erwartungen des Publikums entsprechen zu können. Dann könnten sich alle Bürger selbst ein „Bild“ machen und nicht nur einige wenige Journalisten. Ihre Frage, warum man ihnen einen solchen Wettbewerbsnachteil gegenüber den Kollegen von den Printmedien zumutet, wäre ebenso naheliegend wie nachvollziehbar.

Damit wäre die Videoübertragung einer Hauptverhandlung in einen zusätzlichen Raum de facto der erste Schritt in die Abschaffung des gegenwärtigen gesetzlichen Verbots eines Gerichtsfernsehens nach amerikanischem Muster. Dem satirischen TV-Voyeurismus mit dem exponentiellen Multiplikationsfaktor des Internets würde das ungeahnte neue Möglichkeiten eröffnen.

Höchste Richter würden zunehmend Gefahr laufen, zu Kultfiguren in Scherzsendungen zu werden. Am Bundesverfassungsgericht, wo man sich dem Fernsehen seit längerem weit geöffnet hat, kann man davon schon heute ein Lied singen. Es ist gewiss manchmal viel leichter, über Richter und Gerichte wie auch über Politiker und Politik zu lachen, als den Versuch zu unternehmen, das moderne Recht und die gegenwärtigen Lebensverhältnisse ernsthaft zu verstehen.

Hauptsache, das Gute gewinnt - ganz egal wie

2/2: Eine völlig andere Öffentlichkeit, von Authentizität weit entfernt

Aber stünde, abgesehen von diesem Dammbruch, das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) auch der besagten bloßen Videoübertragung entgegen? Die Meinungen darüber sind geteilt. Ob es einen einklagbaren Anspruch auf eine solche Übertragung gibt, das bezweifeln viele, einige halten sie aber jedenfalls für zulässig.

Dabei wäre eine solche Maßnahme ein die Hauptverhandlung ständig begleitender, klarer Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz - mit allen Konsequenzen für die Anfechtbarkeit des späteren Urteils. "Gerichtsöffentlichkeit" besagt ja nicht nur, dass die Türen zum Sitzungssaal für das Publikum, zu dem auch die Journalisten zählen, unverschlossen sind.

Der Gerichtsraum selbst muss darüber hinaus so gestaltet sein, dass er den Zweck der Hauptverhandlung fördert. Dieser besteht in einer Wahrheits- und Gerechtigkeitssuche, die sich auf die den Angeklagten zur Last gelegten schweren Tatvorwürfe bezieht. Darüber hinaus dürfen die Grundbedingungen der prozessualen Abläufe den Persönlichkeitsrechten der Verfahrensbeteiligten nicht widerstreiten. Die kommunikativen Möglichkeiten müssen vielmehr ihrer Struktur nach auf ein Feststellen und Verhandeln, das heißt auf die Sache der Justiz angelegt sein.

Es darf also keine unpersönliche Massensituation mit unvermeidlichen erheblichen Verfremdungseffekten geschaffen werden. Das aber wäre sofort der Fall, wenn mit technischen Mitteln ein weiterer, anonymer "Sitzungssaal" und damit eine Art – im wahrsten Sinne des Wortes – Parallel-Schauprozess entstünde. Eine Situation also, die zwangsläufig ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten unterläge.

Ein mit Bildschirmen und Lautsprechern ausgestatteter Ergänzungsraum würde nicht bloß einen graduellen Zugewinn an ohnehin vorhandener Öffentlichkeit bringen, sondern eine neue Qualität für die Hauptverhandlung insgesamt schaffen. Diese optisch-akustische Ausdehnung der räumlichen Gegebenheiten würde den normativen Sinn von Öffentlichkeit elementar verletzen. Es entstünde eine völlig andere Gestalt von Öffentlichkeit als die authentische, die das Gesetz meint und auf die es zählt. Das Öffentlichkeitsprinzip wäre in seinem Kern verletzt, ein absoluter Revisionsgrund gegeben. Die gesamte Verhandlung, hunderte von Verhandlungstagen mit hunderten Beteiligten, müsste wiederholt werden.

Der Inbegriff der Hauptverhandlung und die bedeutungslose Öffentlichkeit

Das BVerfG hat sich in seiner einstweiligen Anordnung zum NSU-Verfahren vom 12. April 2013 (1 BvR 990/13) bemerkenswerterweise auf eine "aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung" geschöpfte Berichterstattung bezogen.

Die Formulierung erinnert an § 261 der Strafprozessordnung. Nach dieser Vorschrift entscheidet das erkennende Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme "nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung". Gericht und Berichterstattung haben sich also beide gleichermaßen unmittelbar am "Inbegriff der Hauptverhandlung" zu orientieren.

Dieser Inbegriff aber lässt sich nicht durch die bloße Schau auf etwas schon Mediatisiertes, Konserviertes, Umgewandeltes gewinnen. Vielmehr muss es für alle um einen identisch und unmittelbar konstituierten Gegenstand gehen. Nur dann, wenn man zum Beispiel seinen Blick während des Prozessgeschehens nach eigenem Gutdünken überall hin schweifen lassen kann und nicht, wie dies für eine Kameraübertragung allenfalls denkbar wäre, in eine Art von Erstarrung fallen muss, vermag man seine ureigenen Einsichten und Interpretationen aus diesem "Inbegriff der Hauptverhandlung" zu gewinnen.

Die Einheit und das Ganze einer Hauptverhandlung, deren nach wie vor schützenswerter Kern, würden also durch eine Videoübertragung nach außerhalb zerstört. Die Verhältnisse, die für den Ergänzungssaal hergestellt würden, liefen auf eine bedeutungslose Öffentlichkeit jenseits des eigentlichen Verhandlungsortes hinaus, die das GVG aus gutem Grund verbietet.

Hauptsache, das Gute gewinnt – ganz egal wie

Auch in Zukunft sollte die nach aktueller Gesetzeslage damit unzulässige Videoübertragung verboten bleiben. Die rechtlichen Bedingungen eines ordnungsgemäß durchgeführten Strafprozesses werden derzeit von mindestens zwei ganz unterschiedlichen Seiten aus bedroht: Zum einen sind subtile rechtsstaatliche Rücksichtnahmen auf die Justizförmigkeit eines Verfahrens manchen von vornherein unwichtig – Hauptsache, das Gute gewinnt im Kampf gegen das Böse, ganz egal wie.

Zum anderen führt  eine fundamentale Schuld- und Strafrechtsskepsis, wie sie nicht selten von Verteidigern und Professoren gepflegt wird,  unter Umständen dazu, dass einem Prozess diverse andere Interessen aufgezwungen, dessen wesentliche Aufgaben aber an den Rand gedrängt oder gar sabotiert werden. Gute Unterhaltung erscheint dann plötzlich wichtiger als eine ohnehin illusionäre Gerechtigkeit.

Eine solche Ökonomisierung und Politisierung des Instituts der Gerichtsöffentlichkeit, das im Zentrum der Aufklärung verankert ist, liefe auf eine inakzeptable radikale Umwertung hinaus. Belange von Gemeinwohl, Gerechtigkeitspflege und Demokratie würden unter der Hand zu partikulären Interessen einer vermeintlich modernen "Öffentlichkeit" mutieren. Solchen Versuchungen sollte kein verantwortlich Handelnder nachgeben. Sonst müsste man, mit den Worten von Jürgen Habermas, eines Tages resignieren und eingestehen: Während sich die Sphäre der (Gerichts-)Öffentlichkeit immer großartiger erweitert, wird ihre Funktion immer kraftloser.

Der Autor Prof. Dr. Dr. h.c. Heiner Alwart lehrt Strafrecht und Strafprozessrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

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Prof. Dr. Dr. h.c. Heiner Alwart, Videoübertragung beim NSU-Prozess: Von Authentizität weit entfernt . In: Legal Tribune Online, 30.04.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8642/ (abgerufen am: 30.03.2023 )

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