Der Fall Dieter Wedel spaltet nicht nur Deutschlands Medienlandschaft. Hat Die Zeit mit ihren Enthüllungen investigativ aufgeklärt oder den Regisseur an den medialen Pranger gestellt? Zwei von Deutschlands bekanntesten Medienrechtlern antworten.
Stefan Engels: Starke Anknüpfungstatsachen, nicht vorverurteilend - zweifellos zulässig
#metoo hat Deutschland mit dem Fall Wedel und aller Wucht getroffen: Jura-Professorin gegen BGH-Richter, Till Schweiger gegen Ulrich Tukur - und alle Medien gehen betroffen ihre Vergangenheit durch. Im Folgenden geht es aber weniger um die Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Frauen oder die jetzige Debatte, sondern darum, wann und in welchem Umfang über derartige Vorwürfe berichtet werden darf, insbesondere wenn sie ganz oder teilweise bestritten sind.
Einerseits ist die Unschuldsvermutung ein wesentlicher Bestandteil des rechtsstaatlichen Umgangs mit (mutmaßlichen) Straftätern. Mediale Vorverurteilungen lassen sich nur schwer, oft auch gar nicht wieder zurückholen, was bei zu Unrecht erfolgten Anschuldigungen fatal ist. Andererseits hat die Öffentlichkeit ein legitimes Interesse an der Aufklärung von Straftaten, an der immer mehr, häufig sogar an zentraler Stelle, Medien mitwirken. Auch verdienen die Opfer neben Mitgefühl die Sanktionierung des erlittenen Unrechts.
Es treffen also mit dem Persönlichkeitsschutz und der Meinungsfreiheit Rechtsgüter von Verfassungsrang aufeinander, von denen keines ohne weiteres zurücktreten muss. Vielmehr muss im Einzelfall vorsichtig unter Berücksichtigung aller Aspekte abgewogen werden. Dabei spielt eine zentrale Rolle, dass Öffentlichkeit sowohl eine besonders wichtige als auch eine gefährliche Ressource unserer Gesellschaft ist. Sie sorgt für Aufklärung und Kontrolle, aber auch für Bestrafung. Zwischen diesen Polen müssen zunächst Journalisten und später Gerichte entscheiden, ob der Berichterstattungsfreiheit oder dem Persönlichkeitsschutz der Vorzug zu geben ist. In diesem Spannungsfeld entscheidet sich auch der aktuelle Fall Wedel.
Der Grundsatz: Wer Straftaten begeht, muss mit Berichterstattung leben
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im Fall der Söhne von Uwe Ochsenknecht mit Recht festgehalten, dass wahrheitsgemäße Berichterstattung grundsätzlich hinzunehmen ist, die Begehung von Straftaten gehöre regelmäßig nicht zu der geschützten Privatsphäre des Täters (BVerfG, Beschl. v. 08.02.2012, Az. 1 BvR 2499/09, 1 BvR 2503/09).
Solange also eine Berichterstattung nicht in sonstiger Weise beeinträchtigend ist, muss der Betroffene sie hinnehmen. Eine Beeinträchtigung kann etwa in der Art und Weise der Darstellung liegen (etwa bei hämischen Kommentierungen oder beleidigenden Formulierungen), was bei den umstrittenen Zeit-Artikeln aber fernliegt.
Die bislang seitdem bekannt gewordenen Tatsachen und sprechen im Fall Wedel mittlerweile eher dagegen, dass ein Zivilgericht die Berichterstattung am Ende verbieten kann. Vielleicht fehlt es auch deshalb an diesbezüglichen Schritten von Wedel.
Wann Verdachtsberichterstattung zulässig ist
Gleichwohl ist die Lage zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung regelmäßig komplexer - auch im Fall Wedel. Solange die Vorwürfe nicht endgültig belegt sind oder der Beschuldigte geständig ist, muss unter Unsicherheitsbedingungen entschieden werden, ob und wie berichtet wird. Auch dafür steht bereits ein Instrumentarium zur Verfügung - das der Verdachtsberichterstattung. Danach ist eine Berichterstattung über bestrittene Vorwürfe unter vier Bedingungen erlaubt (Bundesgerichtshof, BGH, Urt. v. 07.12.1999, Az. VI ZR 51/99).
- Es bedarf zunächst eines Mindestbestandes an Beweistatsachen, die der Angelegenheit erst Öffentlichkeitswert verleihen. Dabei gilt: Je schwerer und belastender der Vorwurf ist, desto mehr oder sicherere Anknüpfungstatsachen für den Verdacht braucht es.
- Das vorgeworfene Verhalten ist als Verdacht zu kennzeichnen. Es soll – besonders in der Überschrift – keine Vorverurteilung erfolgen, der Text sollen auch entlastende Momente mitteilen.
- Beim Beschuldigten ist grundsätzlich eine Stellungnahme einzuholen.
- Die Berichterstattung muss schließlich im öffentlichen Interesse stehen, also nicht bloß die Neugier befriedigen, sondern Vorgänge von gravierendem Gewicht betreffen.
Die Zeit: sachlich und ohne Vorverurteilung
Die Begründung des BGH ist ebenso prägnant wie richtig: Dürften die Medien, falls der Ruf einer Person gefährdet ist, nur solche Informationen verbreiten, deren Wahrheit im Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits mit Sicherheit feststeht, so könnten sie ihre durch Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verfassungsrechtlich gewährleisteten Aufgaben bei der öffentlichen Meinungsbildung nicht erfüllen. Und Öffentlichkeit leistet bei der Aufklärung oft gute Dienste – auch im Fall Wedel.
Angewendet auf den Ursprungstext in Die Zeit heißt das, dass die dortige Berichterstattung zweifellos zulässig ist. Sie beschreibt Vorgänge von besonderer Bedeutung, was die Reaktionen darauf ohne weiteres belegen. Das Dementi von Dieter Wedel wird prominent zitiert, neben seiner eidesstattlichen Versicherung finden auch fürsprechende Stimmen Berücksichtigung. Der Text schildert ferner die Vorwürfe sachlich und ohne Vorverurteilung.
Entscheidend ist letztlich: Der Redaktion liegen nicht nur Äußerungen verschiedener Frauen vor, die unabhängig voneinander ähnliche Vorwürfe erheben. Vielmehr passen diese in konkrete Umstände und die allgemeine Einschätzung zum Verhalten Wedels gegenüber Schauspielerinnen. Der Regisseur selbst kokettierte in Interviews mit seinem speziellen Verhältnis zu Frauen im Allgemeinen und zu Schauspielerinnen im Besonderen.
Keine Rolle spielt dabei übrigens, dass sich die (mutmaßlichen) Opfer so spät äußern. Dafür gibt es gute Gründe, die der Beitrag ebenfalls aufklärt. Im Hierarchiesystem von Film und Fernsehen fürchteten die (mutmaßlichen) Opfer um ihre Karriere. Und davor, nicht ernst genommen zu werden. So manche aktuelle Reaktion auf die Veröffentlichung zeigt nachdrücklich, wie richtig sie damit lagen.
Stigmatisierung
Ein häufig vorgebrachtes und auch jetzt betontes Argument ist schließlich die Gefahr der Stigmatisierung, eine "mediale Hinrichtung". Und in der Tat kann eine Berichterstattung unzulässig sein, wenn sie eine erhebliche Breitenwirkung entfalten und den Betroffenen besonders stigmatisieren kann, so dass sie zum Anknüpfungspunkt für eine soziale Ausgrenzung und Isolierung zu werden droht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.03.1998, 1 BvR 131/96).
Im Fall Wedel ist zum einen letzteres nicht wirklich zu befürchten – zu viele Weggefährten unterstützen ihn weiterhin oder ergreifen Partei für den Regisseur. Entscheidend ist zum anderen aber, dass es zu einer Beeinträchtigung kommen können müsste, die über das hinausgeht, was eine legitime Reaktion auf das inkrimierte Verhalten wäre. Im Zweifel ist jedenfalls dem öffentlichen Interesse und damit der Aufklärung der Vorzug zu geben.
Der Autor Prof. Dr. Stefan Engels ist Partner im Hamburger Büro der internationalen Anwaltskanzlei DLA Piper. Er ist – beratend und insbesondere forensisch – spezialisiert auf Gewerblichen Rechtsschutz (u.a. Urheber-, Werbe- und Wettbewerbsrecht), Presse- und Äußerungsrecht, Rundfunk- und Onlinerecht ("Medienrecht") sowie Datenschutz. Prof. Engels unterrichtet an der Universität Hamburg Presserecht sowie E-Commerce und Werberecht.
Gernot Lehr: Die Vorwürfe zu Eigen gemacht
Die Verdachtsberichterstattung ist ein sehr wichtiges und für den freien Wertebildungsprozess der Gesellschaft unverzichtbares journalistisches Instrument. Für die jeweils Betroffenen ist sie hochgefährlich und oft mit einer lebenslangen Vernichtung von Reputation verbunden; mit negativen Auswirkungen auf das familiäre, private, berufliche und gesellschaftliche Leben. Unverzichtbar, weil ohne diese Möglichkeit zahlreiche Missstände oder Fehlentwicklungen nie bekannt geworden wären; gefährlich, weil die Wirkung des öffentlichen Prangers eines Verdachts in den Zeiten des Internets potenziert werden und existenzvernichtend sein können.
Deshalb bedarf es einer höchst sprachsensiblen Darstellung, wenn in rechtmäßiger Weise über den Verdacht eines Fehlverhaltens berichtet wird: Jegliches, auch nur subtiles Zu-Eigen-Machen des Verdachts muss unterbleiben; dem Rezipienten muss durch die Berichterstattung stets vermittelt werden, dass der Verdacht auch falsch sein kann. Die Offenheit der Verdachtslage muss im Vordergrund stehen.
Sprachlich verlangt das eine große Sorgfalt, bis hin zu einer gewissen Sterilität der Berichterstattung, wie wir sie aus dem Gegendarstellungsrecht kennen. Nur so hat der Betroffene überhaupt eine Chance, dass sich der Verdacht beim Leser, Zuschauer oder Zuhörer nicht als feststehende Tatsachenbehauptung verselbstständigt. Eine öffentliche Verdachtsäußerung muss dem Rezipienten stets vermitteln, dass sie auch unrichtig sein könnte.
Rechtsprechung stärkt zunehmend den Persönlichkeitsschutz
Diesem Anspruch werden viele Verdachtsberichterstattungen nicht gerecht. Die - zunehmend fortschrittliche und die Gefährdungslagen der digitalen Informationsgesellschaft aufnehmende - höchstrichterliche Rechtsprechung muss sich noch weiter fortentwickeln, um einen angemessenen Ausgleich zwischen den Kommunikationsfreiheiten und dem Persönlichkeitsrecht zu erreichen.
In manchen Konstellationen, z.B. in Plagiatsverdachtsfällen, wäre es in der Verdachtsphase auch möglich, über etwaige Untersuchungen zu berichten, ohne identifizierend eine Person zu nennen, die bislang nicht in der Öffentlichkeit stand. Die Berichterstattung wäre häufig auch ohne die Personalisierung informativ.
In anderen Detailfragen entwickelt sich die Rechtsprechung gerade zugunsten des Persönlichkeitsschutzes fort. So hat der BGH die Rechte von Betroffenen in Bezug auf die Pflicht der Presse, diese zu konfrontieren und ihre Stellungnahmen umfassend wiederzugeben, beachtlich gestärkt.
Bewusstseinswandel bei der Nachtragspflicht
Ein wichtiges Thema ist die redaktionelle Nachtragspflicht im Falle einer vorausgegangen rechtmäßigen Verdachtsberichterstattung. Leider weigern sich angesehene Medien immer noch, ihren Lesern mitzuteilen, dass ein von ihnen kolportierter Verdacht zwischenzeitlich widerlegt wurde. Damit wird den Betroffenen, die den Pranger des öffentlichen Verdachts hinnehmen mussten, die Chance der gesellschaftlichen Rehabilitation durch einen redaktionellen Nachtrag versagt.
So liegt dem Bundesverfassungsgericht ein Urteil des Bundesgerichtshofs vor, der zur Veröffentlichung eines Nachtrags verurteilt hat, nachdem ein vorausgegangenes Ermittlungsverfahren mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden war.
Aber ein Bewusstseinswandel hat partiell bereits eingesetzt. Es gibt Redaktionen, die kein Problem damit haben, umfassend, in gleicher Aufmachung und an gleicher Stelle wie bei Ausgangsberichterstattung mitzuteilen, dass ein Verdacht ausgeräumt wurde. Das Versagen in der Medienaffäre um Christian Wulff mag dazu beigetragen haben: Nur wenige Redaktionen hatten die Größe, den monatelangen Veröffentlichungen eines jeden nur denkbaren kleinteiligen Verdachts eine uneingeschränkte Rehabilitation entgegenzusetzen.
Ermittlungsverfahren: Muss der Betroffene sich entlasten?
Ein Sonderproblem stellt die Frage der Berichterstattung während eines noch nicht abgeschlossenen Ermittlungsverfahrens dar, also einer Phase der zwingenden Unschuldsvermutung.
Setzt die Durchsetzung eines Unterlassungsanspruchs gegen eine vorverurteilende Verdachtsberichterstattung voraus, dass der Betroffene die Unrichtigkeit des Verdachts glaubhaft macht, also das Risiko eingehen muss, während eines laufenden Ermittlungsverfahrens eine eidesstattliche Versicherung abzugeben?
Oder reicht für den Unterlassungsanspruch die Verletzung einer der vier Voraussetzungen für die rechtmäßige Verdachtsberichterstattung (Mindestbestand an Beweistatsachen, berechtigtes öffentliches Informationsinteresse, sorgfältige Recherche einschließlich umfassender Konfrontation, offene Darstellung) aus? Eine kürzlich ergangene rechtskräftige Entscheidung des OLG Köln spricht dafür, dass sich die Medien während eines laufenden Ermittlungsverfahrens grundsätzlich an die vier Voraussetzungen halten müssen, ohne dass der Wahrheitsbeweis erforderlich ist.
Die Zeit: Nicht mal mehr Verdachtsberichterstattung
Was bedeutet das für die Berichterstattung "Der Schattenmann" in Die Zeit vom 25. Januar 2018 und die zahlreichen Folgeveröffentlichungen? Die Debatte darüber berührt die Grenzen der Verdachtsberichterstattung nur am Rande.
Die Zeit arbeitet zwar zu Beginn ihres Dossiers mit den typischen Begrifflichkeiten der Verdachtsberichterstattung, indem geschildert wird, dass Wedel mit den detaillierten Vorwürfen der verschiedenen Schauspielerinnen konfrontiert worden sei, aber zuletzt eine konkrete Stellungnahme abgelehnt habe. Zunächst beschränkt sich das Dossier auf die ausführliche Wiedergabe der Schilderungen der betroffenen Frauen.
Zunehmend verliert das beklemmende Stück jedoch die Distanz und macht sich in vielen kleinen Formulierungen die Vorwürfe zu Eigen. So heißt es in einer Unterzeile zu dem Foto einer jungen Schauspielerin aus dem Jahr 1979, dass sie "vom Schicksal ihrer Vorgängerin" bei Wedel nichts gewusst habe. Es wird für den Leser nicht mehr in Frage gestellt, ob einzelne Schilderungen von Übergriffen Wedels, hier das "Schicksal" der "Vorgängerin", zutreffend sind oder nicht.
Damit handelt es sich nicht mehr um eine bloße Verdachtsäußerung, mit der für Die Zeit das Privileg verbunden wäre, auch im Falle einer Unrichtigkeit der wiedergegebenen Verdächtigungen presserechtlich nicht zu haften. Die Zeitung dürfte ganz bewusst auf dieses Privileg einer Haftungsbefreiung verzichtet haben, weil sie von der Richtigkeit und Beweisbarkeit der Vorwürfe überzeugt ist.
Das Eingehen eines solchen journalistischen Risikos verdient Respekt. Sollte Wedel die Vorwürfe widerlegen können, würde ein Tsunami von Unterlassungs-, Richtigstellungs-, Schadensersatz- und hohen Entschädigungsansprüchen über den Verlag und die Autoren hereinbrechen. Derzeit zeichnet sich eine solche Entwicklung im Fall Wedel nicht ab. Unabhängig vom Fall Wedel sollte bei aller Notwendigkeit einer Verdachtsberichterstattung stets verantwortungsvoll jegliche Tendenz zur Vorverurteilung vermieden und die Offenheit des Verdachts betont werden, weil die anderenfalls eintretenden Schäden für den Betroffenen oft nicht korrigierbar sind. Der Fall Kachelmann ist ein prominentes Beispiel für eine solche Fehlentwicklung. Gelungene Verdachtsberichterstattung ist journalistisch anspruchsvoll.
Der Autor Gernot Lehr ist Partner im Bonner Büro von Redeker Sellner Dahs. Er berät und vertritt vor allem im Presse- und Äußerungsrecht, Rundfunkrecht, Informationsfreiheitsrecht, Recht der neuen Medien und Medienverfassungsrecht. Zudem lehrt Gernot Lehr Medienrecht an der Universität Bonn.
Prof. Dr. Stefan Engels und Gernot Lehr, Pro & Contra: Berichterstattung über Dieter Wedel: Durfte Die Zeit das? . In: Legal Tribune Online, 07.02.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26927/ (abgerufen am: 29.04.2024 )
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